Noch immer gefangen: Der Gefängniskeller des ehemaligen Stasigefängnisses und heutigen DDR-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. (Bild: Fotolia/Stocker)
DDR-Erbe

Die Stasi im Kopf

Wissenschaftler des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) haben erforscht, welchen Einfluss die umfassende Spitzeldiktatur der DDR auf die ostdeutsche Wirtschaft und Gesellschaft heute noch hat. Die Ergebnisse zeigen, wie stark das Ministerium für Staatssicherheit die neuen Bundesländer bis heute prägt.

Bevor die sozialistische Diktatur der DDR 1989 zusammenbrach, hatte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) 91.000 hauptamtliche und mindestens 189.000 informelle Mitarbeiter, darunter bis zu 3500 im Westen. Im Laufe seiner gesamten Existenz führte das MfS mindestens rund 624.000 Menschen als Inoffizielle Mitarbeiter, die übrigens zu 83 Prozent männlich waren. Hinzu kamen tausende sogenannte Auskunftspersonen (AKP), um Informationen zu gewinnen. Diese waren in der Regel keine IM und regional unterschiedlich verbreitet. Stichproben aus Karteien in Rostock und Saalfeld zeigten, dass dort 18 beziehungsweise 5,9 Prozent der Bevölkerung als überwiegend gesprächsbereite AKP erfasst waren. Dazu kamen weitere Helfer wie die „Guten Menschen“ und die „Offiziellen Partner“ des MfS.

Die IZA-Studie geht dagegen in ihrer vorangestellten Historie nur von 90.257 hauptamtlichen und 173.000 Inoffiziellen Mitarbeitern aus. Der Unterschied bei den IM erklärt sich so: Grob gerastert führten die Abwehrdiensteinheiten des Ministeriums rund 173.000 IM, außerdem aber noch die Aufklärungsdiensteinheit Hauptverwaltung A weitere rund 13.400 IM in der DDR und weitere 1550 in der Bundesrepublik Deutschland.

Gegen MfS-Mitarbeiter

gab es trotz der hunderttausenden Opfer nach der Wende gerade einmal 30.000 Ermittlungsverfahren und nur rund 20 Verurteilungen. Das lag an einem schwerwiegenden Fehler des Einigungsvertrages (nur Straftaten nach DDR-Recht wurden verfolgt) beziehungsweise des westdeutschen Strafrechts: Hier gibt es das Rückwirkungsverbot, das heißt, es dürfen nur Taten bestraft werden, die zum Zeitpunkt ihrer Verübung bereits gegen Gesetze verstießen – hier also gegen DDR-Gesetze. Nur bei schwersten Straftaten wie beispielsweise den Mauerschüssen (also dem Schießbefehl) konnte man sich nicht darauf berufen. Inhaftierungen (inklusive vieler in den Gefängnissen begangenen Unrechtstaten), Diskriminierungen nach der Haft oder die so genannten „Zersetzungsmethoden“ gegen kritische DDR-Bürger fielen jedoch nicht darunter.

Nicht zu verstehen ist auch, dass die SED weder aufgelöst noch verboten wurde, ja nicht einmal ihre Symbole. So blieb den SED-Schergen genug Zeit, das riesige Parteivermögen, sowie alle Akten ihrer Kader beiseite zu schaffen – und später die DDR zu verklären. Richard Schröder, der ehemalige SPD-Fraktionschef in der DDR-Volkskammer, behauptete, man hätte die SED nicht auflösen können, weil dies die Zustimmung der Sowjetunion zur Wiedervereinigung gefährdet hätte. Tatsächlich gibt es keinen einzigen Nachweis dafür, dass ein Verbot in der Sowjetunion auf Widerstand gestoßen wäre. Schon nach dem Verbot der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Ende August 1991, spätestens jedoch mit dem Abzug der russischen Truppen aus Ostdeutschland 1994, hätte der Bundestag ein Verbot beschließen können – und müssen.

Nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche waren also durch Spitzel abgedeckt, Mitarbeiter, Vorgesetzte, Nachbarn, Freunde, aber auch enge Verwandte, sogar Kinder und Ehepartner waren darunter. Das Volk wusste, dass es von der eigenen „Regierung“ aus jeder nur erdenklichen Ecke beobachtet wurde. Auf knapp 89 DDR-Bürger kam statistisch ein IM, auch wenn deren Dichte regional ebenfalls unterschiedlich war. So gab es laut Helmut Müller-Enbergs in dem Buch „Anatomie der Staatssicherheit“ der Stasiunterlagenbehörde die größten IM-Kontingente in den Bezirken Cottbus, Schwerin und Magdeburg, die kleinsten in Berlin, Halle und Leipzig. In der IZA-Studie fehlen aber ausweislich einer Karte Daten gerade zu den Bezirken Cottbus und Schwerin, aber auch zum Bezirk Erfurt. Dies ist deshalb zu erklären, weil Müller-Enbergs nur die Daten für die Bezirksebene aufzeigt, die Autoren der IZA-Studie jedoch nur die auf Kreisebene. „Leider konnte jedoch nicht die jeweilige Anzahl der IM auf Kreisebene erhoben werden, so dass wir zwangsläufig diese Kreise nicht in unsere Untersuchung einbeziehen konnten“, erklärte dazu Andreas Lichter. Zur Regionalisierung vorweg: Es gab 1989 in der DDR 15 Bezirke mit 215 Kreisen und Stadtkreisen.

Das Misstrauen blieb

Dieses Misstrauen hat sich offenbar bis heute in den Köpfen gehalten. Es wurde sogar noch verstärkt: Nach der Wende nahmen viele DDR-Bürger Einsicht in ihre Stasi-Akten und mussten meist erschüttert erkennen, wer sie alles bespitzelt hatte.

Die Studie des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) fand nun anhand vieler verschiedener Untersuchungsfaktoren heraus: In Regionen, wo früher besonders viele Spitzel schnüffelten, ist die Wirtschaft schwächer und der Bevölkerungsschwund größer. Weitere Auswirkungen: Auch die Wahlbeteiligung und das Engagement in der Kommunalpolitik ist niedriger. Die Studie basiert auf Daten des Sozio-ökonomischen Panels und der Stasi-Unterlagen-Behörde. „Es ist bemerkenswert, dass auch bis zu 20 Jahre nach der Wiedervereinigung die Folgen der Stasi-Arbeit noch zu beobachten sind“, sagte Sebastian Siegloch, neben Andreas Lichter und Max Loeffler einer der drei Studienautoren, der Zeitung „Die Welt„.

Bevölkerungsverlust

Insgesamt haben die neuen Länder seit Wiedervereinigung 15 Prozent ihrer Bevölkerung verloren, viele aus wirtschaftlichen Gründen heraus. Aber besonders in den Gebieten der Ex-DDR, in denen die Stasi stärker tätig gewesen war, zogen die Ostdeutschen in deutlich größerem Umfang weg. „Bis zu 40 Prozent des ostdeutschen Bevölkerungsrückgangs lassen sich dadurch erklären, dass Menschen aus Gegenden weggezogen sind, in denen besonders viel spioniert wurde“, schreiben die IZA-Forscher in der Studie. „Es spricht einiges dafür, dass die Spionage einer der Treiber des starken Bevölkerungsverlustes Ostdeutschlands ist“, sagte Siegloch. Diese Auswirkungen habe es auf die beiden großen Auswanderungswellen 1989-92 und 1998-2009 gegeben.

Schaden für die Wirtschaft heute

Auch in der Wirtschaft gab es solche Tendenzen. Gerade hier ist Vertrauen ein wichtiger Faktor. Naturgemäß gab es davon in den Hochburgen der Stasi auch nach der Wende besonders wenig. Darum liegen hier nach Ansicht der Wissenschaftler auch die Zahl der Selbständigen und der Patente pro 100.000 Einwohner niedriger sowie die Arbeitslosenquote höher als andernorts. Negative Auswirkungen gebe es auch auf den Arbeitslohn.

Aus den DDR-Kreisen haben die Wissenschaftler nun die entsprechenden Wirtschafts- und Gesellschaftsdaten mit einem vergleichbar großen anderen Kreis mit geringerer Stasi-Tätigkeit abgeglichen. Dieser musste auch in der Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur der Stasi-Hochburg vergleichbar sein.

Die Überwachungstätigkeit haben die Forscher hauptsächlich aus der Relation der IM zur Bevölkerung hergeleitet. Interessantes Detail am Rande: Es gab beispielsweise Bezirke wie Magdeburg oder Karl-Marx-Stadt mit deutlich höherer Telefonüberwachung. Diese beruhte dann aber auf der eher zufälligen Tatsache, dass besonders viele „Personen unter ständiger Überwachung“ in diesen Bezirken wohnten. Als Bezugsgröße kann die Telefonüberwachung daher nicht dienen. Besonders viele IM gab es laut der Stasiunterlagenbehörde in den oben genannten Bezirken. Laut der Studie waren es auf Kreisebene Riesa, Merseburg, Gardelegen, Grevesmühlen, Parchim, Luckenwalde, Wittstock, Havelberg, Dippoldiswalde, Niesky, Jüterborg, Seelow, Röbel, Wolgast, Angermünde und Greifswald-Land bespitzelten. Die Stadtkreise waren weniger durchsetzt, vermutlich aufgrund ihrer höheren Bevölkerungszahl. Im DDR-Durchschnitt bespitzelten 0,36 Prozent der Bevölkerung ihre Mitbürger.

Die Folgen in Zahlen

Die Wissenschaftler belegen mit ihren Zahlen, dass die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland, die aktuell bei gut neun Prozent liegt , ohne die Stasi um 1,8 Prozentpunkte niedriger wäre. Auch die Wahlbeteiligung, im Osten ohnehin immer niedriger als im Westen, wäre danach ohne Stasi um 1,8 Prozent höher, weil die Ostdeutschen dann staatlichen Institutionen mehr trauen würden. Die Bevölkerungszahl würde ohne die Stasi laut Studie im Schnitt um 6,6 Prozent höher liegen und die Selbstständigenquote würde heute statt bei zehn bei rund elf Prozent liegen. Auch gäbe es je 100.000 Einwohner sechs Patente mehr als heute. Derzeit liegt die Zahl der Erfindungen in Ostdeutschland bei durchschnittlich 13 je 100.000 Einwohner. Gerade bei den Patentanmeldungen wird der lange Arm der Stasi ersichtlich: Die Schwäche bei den Patentanmeldungen setzte erst ab 1997 in den Stasi-Hochburgen ein. Auch beim Arbeitslohn vermuten die Forscher in einer alternativen Berechnung Auswirkungen, ohne dass sie dafür jedoch die Abwesenheit der Stasi einberechnet haben.

Misstrauen gegenüber Fremden

Interessant aus heutiger Sicht ist eine weitere Auswirkung. So heißt es in der Studie: „Wir fanden heraus, dass mehr staatliche Überwachung zu einem geringeren Vertrauen in Fremde (…) führt.“ Die Studie fand Folgendes heraus: Eine Person in einer Region mit niedriger Überwachungsintensität hat eine um 4 Prozentpunkte höhere Wahrscheinlichkeit, Fremdem zu vertrauen als eine vergleichbare Person in einer vergleichbaren Region, in der aber die Überwachungsintensität um 0.14 Prozentpunkte höher liegt. Kann man daraus vielleicht sogar einen Bezug zur offenbar besonders in Ostdeutschland ausgelebten Fremdenfeindlichkeit herstellen? Der letzte Satz der Studie legt das nahe: „Wir zeigen auf, dass das frühere ostdeutsche Regime nicht nur einen langanhaltenden Einfluss auf politische Einstellungen hatte, sondern dass es auch das Vertrauen in Institutionen und Menschen ausgehöhlt hatte, was wiederum lang anhaltende negative Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft hat.“

Eine Frage bleibt natürlich: Könnten die Differenzen nicht auch daran liegen, dass in den Stasi-Hochburgen eben mehr Sozialisten lebten und heute noch leben? Ursache wäre dann, dass Sozialisten naturgemäß wenig Unternehmergeist haben und außerdem den neuen deutschen Staat ablehnen, was wiederum die geringere Wahlbeteiligung erklären würde. Und der Bevölkerungsschwund erklärt sich vielleicht damit, dass es die früher Bespitzelten nicht mehr in der Nähe ihrer ehemaligen Peiniger aushielten.