Kohl, Gorbatschow und eine „planetarische Revolution“
Vor genau 25 Jahren erzielten Bundeskanzler Helmut Kohl mit Michail Gorbatschow erst in Moskau und dann beim berühmten Gipfel im Kaukasus den sensationellen Durchbruch im diplomatischen Ringen um die Wiedervereinigung: Ganz Deutschland würde volle Souveränität erhalten und Mitglied der Nato sein. Im Gegenzug erhielt Gorbatschow von Kohl materielle Unterstützung für seine Perestroika-Politik.
Wiedervereinigung

Kohl, Gorbatschow und eine „planetarische Revolution“

Vor genau 25 Jahren erzielten Bundeskanzler Helmut Kohl mit Michail Gorbatschow erst in Moskau und dann beim berühmten Gipfel im Kaukasus den sensationellen Durchbruch im diplomatischen Ringen um die Wiedervereinigung: Ganz Deutschland würde volle Souveränität erhalten und Mitglied der Nato sein. Im Gegenzug erhielt Gorbatschow von Kohl materielle Unterstützung für seine Perestroika-Politik.

„Da haben wir den Salat. Gorbatschow, der uns so bekniet hat, Kohl in nichts nachzugeben, gibt jetzt selber alles auf, ganz sicher für ein paar Mark mehr. Damit können wir gegen die Wiedervereinigung nicht mehr lange Widerstand leisten.“

Das war die Reaktion von Frankreichs Präsident Franςois Mitterrand, als er am 16. Juli 1990 die Depesche über die historische Einigung zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow in der Hand hielt. Mitterrands langjähriger Sonderberater Jacques Attali hat die Szene aus dem Elysée-Palast in seinem Tagebuch „Verbatim“ (Band III) wiedergeben und ergänzt Mitterrands Worte um eine eigene Beobachtung: „Die 4+2 waren faktisch nur noch Fiktion.“

Mitterrand hatte recht und Attali auf seine Weise auch. Nach den Begegnungen von Kohl und Gorbatschow, erst in Moskau und dann in Gorbatschows Heimatort Stawropol im Kaukasus, war Deutschlands Widervereinigung sozusagen in trockenen Tüchern. Und in der Tat, Frankreich – und Großbritannien – sollte beim weiteren Fortgang keine große Rolle spielen. Die 4+2 waren tatsächlich Fiktion, im Grunde seit dem 9. November 1989. Denn die wirkliche Verhandlungsmusik spielte zwischen Bonn, Moskau und Washington.

Damit können wir gegen die Wiedervereinigung nicht mehr lange Widerstand leisten.

Franςois Mitterrand

Die berühmte Begegnung im Kaukasus markiert darum auch den Moment, an dem etwa Paris sich deutschlandpolitisch neu aufstellen musste. Bis dahin hatte Mitterrand versucht – er sagt es selber –, der Wiedervereinigung „Widerstand zu leisten“. Tatsächlich war er noch ein halbes Jahr zuvor selber nach Kiew geflogen, um dort Gorbatschow dazu zu überreden, mit ihm gemeinsam in Ost-Berlin aufzutreten und dem vergehenden DDR-Regime den Rücken zu stärken. Ab Juli 1990 musste Mitterrand  umdenken – und konstruktiv werden. Was er dann auch tat. Nicht nur zwischen Bonn und Moskau begann ein völlig neues Kapitel, sondern auch zwischen Deutschland und Frankreich – mit Wirkungen bis heute.

Sensation in Moskau

Die 25 Jahre alten Bilder aus dem Kaukasus vom berühmten, heimelig wirkenden Gipfel zwischen Kohl und Gorbatschow am 16. Juli sind allen älteren Deutschen in Erinnerung geblieben. Aber begonnen hatte die große Wende im Wiedervereinigungsdrama am Tag  zuvor in Moskau. Wer noch einmal hautnah dabei sein will, greift am besten zu jener gut zwei Kilo schweren „Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90 – Deutsche Einheit“ (Oldenbourg Verlag, München 1989). Spannende Lektüre, noch immer.

Die Stimmung zwischen den Delegationen war auf Anhieb gut. Mit der Garantie für einen Fünf-Milliarden-Kredit hatte die Bundesregierung die richtige Grundlage gelegt. Gorbatschow stand im Lande unter Druck, war für jede Unterstützung dankbar und sagte das in Moskau auch gleich: „Man brauche in diesem Zusammenhang eine gewisse Unterstützung, deshalb schätze man den Schritt der Bundesregierung sehr hoch ein“, so die offizielle Wiedergabe des Bundeskanzleramtes in indirekter Rede. Gorbatschow wollte weiter kommen, mit Perestroika und Glasnost zuhause und mit der Beendigung des Kalten Krieges. Die Dinge hingen zusammen. Der Unterhalt der sowjetischen Truppen in der DDR kostete Milliarden, die Moskau gar nicht mehr hatte. Schon in Moskau sprach Gorbatschow von „einer neuen Situation, die Russland und Deutschland wieder zusammenführen müsse. Wenn beide Völker früher getrennt gewesen seine, so müssten sie jetzt wieder zusammen kommen.“ Gorbatschow hatte eine völlig neue Welt vor Augen. Und interessant: Er sprach von „Russland“, nicht von der Sowjetunion.

Man brauche in diesem Zusammenhang eine gewisse Unterstützung, deshalb schätze man den Schritt der Bundesregierung sehr hoch ein

Michail Gorbatschow über den deutschen 5-Milliarden-Kredit

Schon in Moskau, am 15. Juli, wurden alle entscheidenden Wiedervereinigungsfragen besprochen und weitgehend ausgeräumt: Ganz Deutschland sollte mit der Einigung seine volle Souveränität und Bündnisfreiheit erhalten. Russische Truppen würden sich noch für drei oder vier Jahre auf dem Gebiet der ehemaligen DDR aufhalten. Bonn und Moskau würden über die sowjetische Truppenpräsenz einen gesonderten Vertrag abschließen. Moskau sollte für den Abzug der Truppen finanzielle Hilfestellungen erhalten – Umschulungsprogramme und Wohnung für die rückkehrenden Soldaten in Russland.

Das Moskauer Konferenzprotokoll hält noch heute in Atem. Immer wieder hielt Kohl inne, hakte ein, bestand auf einer Position, resümierte den Zwischenstand, hielt ihn fest. Schritt für Schritt entstand eine große Übereinkunft. Helmut Kohl, das ist keine Frage, hat in Moskau brillant verhandelt. „Der Durchbruch ist erreicht! Welch‘ eine Sensation!“, notierte Kohls Sonderberater Horst Teltschik in seinem Wiedervereinigungstagebuch über „329 Tage“ – ebenfalls auch heute noch eine fesselnde Lektüre. Teltschik:

Für den Bundeskanzler ist dieses Gespräch ein unglaublicher Triumph. Aber er lässt sich nichts anmerken, nur einmal wirft er mir einen vielsagenden Blick zu, der seine Befriedigung erkennen lässt. Ich bin Zeuge eines historischen Moments.

Horst Teltschik

Schwieriger Feinschliff in Stawropol

Am Tag darauf, im damals sicher idyllischen Archys im Bezirk Stawropol, ging es um den Abschluss, um das Pressekommuniqué, in dem alles stehen würde – und eben um die letzten Details. Es war schwierig und dauerte auch viel länger als in Moskau. Mit Blick auf geldwerte Zugeständnisse zog Gorbatschow manchmal kurz die Bremse, verwickelte sich in paradoxe Widersprüche: Ganz Deutschland sollte Mitglied der Nato sein dürfen. Aber sollte der Nato-Vertrag auch für das Territorium der ehemaligen DDR gelten? Kohl klärte sofort: Der Nato-Vertrag würde natürlich für das ganze Deutschland gelten, aber in der Ex-DDR sollte es keine Nato-Strukturen geben. Nach dem Abzug der Sowjettruppen würde es für die Bundeswehr dort keinerlei Einschränkungen mehr geben, nur fremde Truppen sollten nicht stationiert werden – und natürlich keine Atomwaffen. Die Bundeswehr sollte auf 370.000 Soldaten schrumpfen – den Mindeststand, mit dem Kohl die allgemeine Wehrpflicht halten wollte. Gorbatschow ließ sich das Argument einleuchten.

Der Unterhalt der sowjetischen Truppen in der DDR kostete Milliarden, die Moskau gar nicht mehr hatte.

Dann ging es wieder um die sowjetischen Truppen und ihren Abzug. Plötzlich sprach Gorbatschow von fünf bis sieben Jahren. Ein paar Sätze weiter wollte er der Abzug erst nach vier Jahren beginnen lassen. Beinahe witzig: Gorbatschow wusste offenbar gar nicht, um wie viele Sowjet-Soldaten es in der DDR überhaupt ging. 195.000, sagte er erst. Und als Kohl das fixieren wollte: „Man müsse von der Zahl ausgehen, die es gebe.“ Dabei blieb es.

Wie auch immer. Kohl erinnerte freundlich an die Verabredung vom Vortag: drei bis vier Jahre, dann sollte der Abzug abgeschlossen sein. Gorbatschow sprach vom teuren Unterhalt der sowjetischen Streitkräfte in der DDR, den Moskau jetzt zum Teil in D-Mark zahlen musste – im Werte der „gesamten derzeitigen Erdöllieferungen der Sowjetunion an die DDR“. Kohl blieb gelassen. Er zeigte sofort Verständnis für die Herausforderungen, vor die der Abzug Moskau stellte. Er ließ sich sogar auf das heikle Thema Stationierungskosten ein – die so natürlich auf keinen Fall heißen durften. Es gab ja noch andere Truppen auf deutschem Territorium, und das hätte teuer werden können. Ein Argument, das Gorbatschow sofort verstand.

Ergebnis: Zum bilateralen Vertrag über den Abzug der sowjetischen Truppen würde ein „Überleitungsvertrag über die wirtschaftlich-finanziellen Auswirkungen der Einführung der D-Mark in der DDR“ kommen. Da hatte in Paris Mitterrand schon recht: Im Kaukasus war es um Geld gegangen, um D-Mark. Gorbatschow ließ sich die Wiedervereinigung und den Abzug der russischen Truppen regelrecht abkaufen.

Washingtons uneingeschränktes Vertrauen für Bundeskanzler Kohl

Wieder zurück in Bonn rief Kohl am 17. Juli wohl als erstes US-Präsident George Bush an. Der gratulierte und ließ sich das Nato-Thema erläutern. Der US-Präsident hatte dann nur eine Sorge: „Dass es keine Parallelität zwischen dem Abzug der sowjetischen Truppen und einem Rückzug amerikanischer Truppen geben dürfe. … Dies wäre schlecht für die Nato.“ Kohl konnte ihn rasch beruhigen. Die Möglichkeit hatte in Moskau und in Stawropol ja gar keine Rolle gespielt.

Das wird bei der Erinnerung an die zwei Tage im Kaukasus vor 25 Jahren gerne vergessen: Eine Voraussetzung für Kohls Verhandlungserfolg war die uneingeschränkte amerikanische Unterstützung. Kohl und Teltschik hielten engen Kontakt mit Washington, Präsident Bush und sein Team mischten sich kaum ein, vertrauten vollständig und unterstützen alles – etwa gegen Einwände aus Paris oder London. Das führte dazu, dass Gorbatschow im Grunde nur einen Verhandlungspartner hatte und nur einen, von dem er etwas erhalten konnte: Helmut Kohl.

Da findet eine planetarische Revolution statt, und Bush behandelt das wie einen Regierungswechsel in Guatemala

Franςois Mitterrand

Geärgert hat sich darüber, natürlich, Frankreichs Präsident Mitterrand. Am 20. Juli erhielt er Kopie eines Schreibens von Präsident Bushs in, in dem der Gorbatschow über den G7-Gipfel in Houston informierte. In missmutiger Reaktion, wieder zitiert nach Jacques Attali, brachte Mitterrand seine Sicht auf das, was sich1989/90 in Europa und zwischen den beiden Supermächten abspielte, auf den Punkt: „Dieser Brief ist ziemlich bürokratisch. Keine Wärme. Da findet eine planetarische Revolution statt, und der behandelt das wie einen Regierungswechsel in Guatemala.“ In einem hatte Mitterrand schon recht: Es ging um das Ende einer Weltordnung, um eine „planetarische Revolution“. Aber Präsident war nicht so kalt, wie Mitterrand annahm: Vor dem bürokratischen Schreiben hatte er mit Gorbartschow telefoniert  und dabei auch Grüße von Kohl ausgerichtet.