Endlich in der Freiheit: Anfang Oktober 1989 trafen mehrere Tausend DDR-Bürger in 14 Sonderzügen in Hof ein, die zuvor in der bundesdeutschen Botschaft in Prag ihre Ausreise beantragt hatten. (Foto: Picture Alliance/dpa)
Hof

Endlich frei!

Der Bayerische Landtag feiert die Ankunft der Züge mit ausreisewilligen DDR-Bürgern aus der Prager Botschaft im oberfränkischen Hof vor 30 Jahren. Landtagspräsidentin Aigner erinnerte an die damalige Hilfsbereitschaft und Solidarität.

Der Bayerische Landtag feiert im oberfränkischen Hof 30 Jahre Grenzöffnung. „Es ist einzigartig, wie in Hof im Herbst 1989 dem Zusammengehörigkeitsgefühl von West und Ost Ausdruck verliehen worden ist“, erklärt Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU). „Diesen Einsatz, diese Hilfsbereitschaft, diese Solidarität von damals wollen wir in einem feierlichen Rahmen würdigen.“

Augenzeugen erzählen

Politiker, Vertreter von Hilfsorganisationen und Zeitzeugen erzählen dabei von der Ankunft von sechs Sonderzügen in Hof. Darin saßen Tausende DDR-Flüchtlinge, die zuvor tage-, teilweise sogar wochenlang auf dem Gelände der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag ausgeharrt hatten. Am Abend des 30. September 1989 verkündete der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) vom Balkon der Botschaft in einem im unbeschreiblichen Jubel untergehenden Satz ihre Ausreise. Über Dresden und Plauen erreichten die Züge am Morgen des 1. Oktober 1989 den Hauptbahnhof Hof.

Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…

Hans-Dietrich Genscher (FDP), bundesdeutscher Außenminister, mit dem bekanntesten unvollendeten Satz seiner Amtszeit

Die Vorgeschichte war dramatisch: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“, lautet der wohl bekannteste unvollendete Satz der Wendezeit. Die übrigen Worte des damaligen deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher gingen im Jubelsturm unter. Etwa 4000 DDR-Flüchtlinge lagen sich an diesem Abend des 30. September 1989 in der westdeutschen Botschaft in Prag in den Armen und schrien vor Freude und Erleichterung. Einige von ihnen hatten seit Wochen ausgeharrt, um nach Westdeutschland auszureisen. Insbesondere die hygienischen Zustände waren am Ende kaum mehr tragbar.

Bereits 1984 Ausreisewillige in Prag

Schon vor 1989 hatten sich DDR-Bürger in die westdeutsche Botschaft in Prag geflüchtet. Wie der damalige Botschafter, Hermann Huber, in seinen Erinnerungen schreibt, musste die im Palais Lobkowicz beheimatete Vertretung bereits fünf Jahre zuvor Zufluchtsuchende aus der DDR versorgen. Einigen der ausreisewilligen Botschaftsbesetzer gelang es damals, von der Bundesrepublik „freigekauft“ zu werden. Der Großteil kehrte jedoch in die DDR zurück, nachdem die Behörden in Ostberlin ihnen Straffreiheit und die Genehmigung der Ausreiseanträge zugesichert hatten.

Die Flüchtlinge wollten unmittelbar in die Bundesrepublik ausreisen.

Hermann Huber, bundesdeutscher Botschafter in Prag 1989

Als Anfang 1989 erneut Dutzende Flüchtlinge aus der DDR über den Zaun auf das Botschaftsgelände gelangten, um ihre Ausreise zu erzwingen, konnten DDR-Unterhändler die Flüchtlinge zunächst erneut zur vorübergehenden Rückreise bewegen. Doch als im Sommer 1989 der Ansturm der Flüchtlinge auf die Prager Botschaft ein ganz neuen Ausmaß erreichte, waren dazu immer weniger Flüchtlinge bereit. Laut Huber setzte sich bei den DDR-Bürgern zunehmend eine „militante Haltung“ durch, mit dem Ziel, der DDR-Führung Zugeständnisse abzuringen. „Die Flüchtlinge wollten unmittelbar in die Bundesrepublik ausreisen“, so Huber.

September 1989: Die Situation spitzt sich zu

Es ist die Zeit, als über Ungarn schon mehrere Tausend Ostdeutsche in den Westen geflohen waren, erst über die grüne Grenze, durch Wälder und Felder, später über die offiziellen Grenzübergänge zwischen Ungarn und Österreich, die in der Nacht zum 11. September 1989 geöffnet worden waren. Auch in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin strömten in diesen Wochen ausreisewillige DDR-Bürger. Es gab Befürchtungen, Erich Honecker könnte im Rahmen des 40. Jahrestags der DDR, der am 7. Oktober 1989 anstand, die Grenze zur Tschechoslowakei schließen.

Auch aus diesem Grund stiegen Ende September 1989 täglich mehr Ostdeutsche über den drei bis vier Meter hohen Zaun der bundesdeutschen Botschaft in Prag. Immer seltener wurden sie dabei von den tschechoslowakischen Sicherheitskräften gehindert. Denn auch in der Tschechoslowakei hatten die Vorboten der „samtenen Revolution“ politisches Tauwetter ausgelöst. Nach Ansicht des damaligen deutschen Botschafters Huber verfiel die Prager Führung zudem in eine gewisse Orientierungslosigkeit, weil aus Moskau keine klaren Anweisungen mehr kamen.

Depressive Stimmung bis zum Schrei

Am 30. September befanden sich etwa 4000 Flüchtlinge in der Botschaft. Regenfälle hatten den Garten der Vertretung in eine Schlammwüste verwandelt. Im Dreck stehen Bundeswehr-Stockbetten und Zelte. Viele Frauen und Kinder waren im Hauptgebäude untergebracht, einige schliefen auf den Stufen im großen Treppenhaus des Palais Lobkowicz. Die Stimmung war laut dem damaligen Botschafter Huber depressiv, fast wie nach einer Katastrophe. Bei Einbruch der Dunkelheit entstand Unruhe: Das Gerücht ging um, jemand Wichtiges sei gekommen.

Wovon die Ausreisewilligen nichts wussten: Die DDR fürchtete, dass Kinder in der Botschaft sterben und den „Ruf“ des SED-Regimes weiter beschädigen könnten. Der durch einen Herzinfarkt geschwächte Außenminister Genscher hatte zudem während eines Verhandlungsmarathons in New York auf eine schnelle Lösung des Flüchtlingsproblems gedrängt. Dabei gewann er am Rande der UN-Vollversammlung die Unterstützung seines sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse. Auch die USA, Großbritannien und Frankreich stellen sich in der Flüchtlingsfrage hinter Genscher. Während dieser eine Ausreise der Flüchtlinge ohne Umwege in die Bundesrepublik forderte, pochte der damalige DDR-Außenminister Oskar Fischer auf eine vorübergehende Rückkehr der Ostdeutschen in die DDR, um die Souveränität seines Staates zu wahren.

Überraschender Sinneswandel in Ost-Berlin

Doch dann ließ sich Ostberlin überraschend auf einen Kompromiss ein: Die Flüchtlinge sollten in Sonderzügen über DDR-Territorium in den Westen reisen. Der Ständige Vertreter der DDR überbrachte Genscher diese Nachricht nach dessen Rückkehr aus New York. An einem Treffen am Morgen des 30. Septembers im Kanzleramt nahm auch der damalige Kanzleramtschef Rudolf Seiters (CDU) teil, der für die deutsch-deutschen Verhandlungen in der Flüchtlingsfrage mitverantwortlich war. Anschließend flogen Genscher und Seiters in Absprache mit Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) unverzüglich nach Prag.

Kurz vor 19 Uhr betrat Genscher den Balkon des Palais Lobkowicz. Am Tag darauf, am 1. Oktober, setzte sich der erste Sonderzug mit Flüchtlingen in Bewegung. Wie mit der DDR-Führung vereinbart, ging die Fahrt über Dresden und Chemnitz (damals noch Karl-Marx-Stadt) ins oberfränkische Hof. Später folgten noch weitere Flüchtlingswellen. Schon wenige Tage später, am 3. Oktober, befanden sich Huber zufolge erneut mehr als 5000 Menschen auf dem Gelände der Prager Botschaft und weitere 2000 auf dem Vorplatz. Auch ihnen wurde die Ausreise gewährt. Weitere Steine brachen damit aus der Mauer, die die DDR-Bürger einsperrte. Wenige Wochen später brach das unmenschliche kommunistische Regime zusammen.

Wichtiger Schritt zum Fall der Mauer

Auf die erneute Flüchtlingswelle reagierte die Ostberliner SED-Führung noch mit der Einführung der Visumspflicht für Reisen in die ČSSR, hob diese Regelung aber nur etwa einen Monat später wieder auf. Inzwischen war es in Berlin und Leipzig zu Großdemonstrationen gekommen. Am 3. November gestattete die Ostberliner Führung ihren Bürgern dann die direkte Ausreise aus der Tschechoslowakei in den Westen, nachdem die Prager Botschaft nochmal mit 5000 Flüchtlingen übervölkert worden war.

„Es gab also für DDR-Bürger keinen Eisernen Vorhang und keine Mauer mehr. Es gab nur noch den Umweg über Prag“, so der damalige bundesdeutsche Botschafter Huber. Damit hatten die Prager Botschaftsflüchtlinge ihren Teil zur friedlichen Revolution 1989 beigetragen. Bereits wenige Tage später, am 9. November, fiel die Berliner Mauer.