Oberster Sozial-Alarmist: Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. (Foto: dpa/Wolfgang Kumm)
Armutsbericht

Sozial-Alarmismus führt in die Irre

Mit allerhand definitorischen Tricks konstruieren Sozial-Lobbyisten Armut sowie eine sich weiter öffnende „Schere zwischen Arm und Reich“. Trotz rapide steigender Sozialausgaben und Hilfen gerade für Familien ist „Kinderarmut“ das neueste Thema.

Es ist der gleiche Trick wie jedes Jahr: Der Paritätische Gesamtverband klagt mit Leichenbittermiene, die angebliche „Schere zwischen Arm und Reich“ in Deutschland gehe immer weiter auf, immer mehr Kinder lebten in angeblicher „Armut“. Und das immer Anfang August, punktgenau zum Beginn der medialen Sauregurkenzeit. Das muss eigentlich verwundern, weil Deutschland einen 15 Jahre währenden Aufschwung hinter sich hat, weil die Arbeitslosigkeit und sogar die Langzeitarbeitslosigkeit so niedrig sind wie nie sei der Wiedervereinigung, weil viele Firmen in vielen Branchen händeringend nach Arbeitskräften suchen – und vor allem, weil der Staat jedes Jahr mehr Milliarden ins Sozialsystem pumpt.

Der Trick ist folgender: Der Gesamtverband misst nicht das, was jeder normale Mensch unter „Armut“ versteht, denn die gibt es in Deutschland praktisch nicht. Dank des üppigen deutschen Sozialsystems, das pro Jahr laut Bundessozialministerium sage und schreibe knappe 1000 Milliarden Euro kostet, muss niemand hungern, jedem wird ein Dach über den Kopf finanziert, dazu gibt es Wohngeld und Heizkostenzuschuss, Kleidergeld und so weiter. Der deutsche Sozialstaat gilt selbst im Vergleich mit den reichsten Industrieländern als vorbildlich ausgestattet.

„Relative Armut“ als Maßstab

Der Paritätische Verband misst vielmehr die sogenannte „relative Armut“ und die Teilhabe an dem, was das Sozialsystem nicht finanzieren kann beziehungsweise die Bereiche, in denen der Staat erst neuerdings einspringt. Der Trick mit der „relativen Armut“ funktioniert so, dass jeder, der weniger als einen bestimmten Prozentsatz des Bundesdurchschnitts zur freien Verfügung hat – beispielsweise 60 Prozent des Durchschnittseinkommens – als „arm“ definiert wird. Wenn man theoretisch aus heiterem Himmel jedem Menschen in Deutschland 1000 Euro pro Monat mehr zur Verfügung stellte, wäre immer noch der gleiche Prozentsatz „arm“, auch wenn er sich viel mehr leisten könnte. Statt der Lebensgrundlagen wie Wohnen und Nahrung, die der Staat sichert, konzentrieren sich die Paritäter auf die „Teilhabe“ in Form von Kino-, Theater- und Museumsbesuchen.

Wenn nun durch den langanhaltenden Wirtschaftsaufschwung die allermeisten Arbeitswilligen und Arbeitsfähigen Arbeit gefunden haben und wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen, werden diejenigen, die nicht arbeiten, sondern von der Stütze leben, nicht wirklich ärmer, sondern nur im Vergleich zu denen, die arbeiten. Wenn überhaupt – alles eine Sache der Definition. So funktioniert dieser Trick. Oder wie ein hellsichtiger Kommentator kürzlich sagte: Wenn mein Nachbar seinen alten 3er BMW verkauft und einen neuen 5er BMW kauft, fühle ich mich dem Nachbarn gegenüber ärmer, auch wenn sich meine wirtschaftliche Situation um keinen Deut geändert hat.

Propaganda mit traurigen Kinderaugen

Noch dramatischer macht es der Gesamtverband neuerdings unter Hinweis auf „Kinderarmut“.  Viele Medien reagieren prompt, übernehmen das „Wording“ (oder auch „Framing“), unterlegen es mit traurigen Kinderbildern – und fertig ist die Mär vom kinderfeindlichen deutschen Wirtschafts- und Sozialsystem. Die Wahrheit ist die folgende: Das deutsche Kindergeld ist das höchste in der ganzen EU, und zwar mit Abstand. Hunderttausende Zuwanderer aus ärmeren EU-Ländern kommen gerade wegen des hohen Kindergelds mit großen Familien nach Deutschland.

Kinder werden in der Sozialhilfe innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft mit dem ihnen zustehenden Monatssatz genauso eingerechnet wie Erwachsene. Dazu gibt es seit einigen Jahren vom Staat Bildungspakete, Geld für Schulausflüge, Schultaschen, Mittagessen in der Schule, für Lernmaterial analog wie digital. Dieses „Bildungs- und Teilhabepaket“ stieg just am 1. August von 100 auf 150 Euro. Im Rahmen des „Starke-Familien-Gesetzes“ steigt der Kinderzuschlag für Niedrigverdiener um 15 auf 185 Euro, das Kindergeld um 10 auf 204 Euro.

Rundum-Versorgung statt Soziale Marktwirtschaft

Das aber reicht den Paritätern nicht. Sie kritisieren etwa die 150 Euro aus dem Teilhabepaket als völlig unzureichend und fordern faktisch die volle Rundumversorgung durch den Staat: Sämtliche Kosten, die mit Kindern zusammenhängen, sollen ihrer Meinung nach vom Staat übernommen werden. Sicherlich kann man immer noch mehr Sozialtransfer fordern. Aber man sollte dabei redlich bleiben. Denn dieses Wohlfahrtsstaats-Denken ist das Ende der Sozialen Marktwirtschaft wegen Überforderung. Diese geht ja von dem Grundsatz aus, dass jeder zunächst einmal seines eigenen Glückes Schmied ist. Jeder Erwachsene ist dafür verantwortlich, seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie selbst zu erwirtschaften. Nur wenn er dazu nicht in der Lage ist, springt der Sozialstaat ein.

Weder Arbeitsunwilligkeit noch der EU-weite Import von Sozialfällen ist in der Sozialen Marktwirtschaft vorgesehen. Und obwohl die bundesdeutschen Sozialausgaben jedes Jahr massiv steigen, mittlerweile ist die Eine-Billion-Euro-Grenze erreicht, und bereits einen Anteil von knapp 30 Prozent am Bruttoinlandsprodukt ausmachen, ist dies dem Paritätischen Gesamtverband und seinen Claqueuren nicht genug. Dabei ist gerade im Niedriglohnsektor das Lohnabstandsgebot zwischen denen, die arbeiten und denen, die von der Stütze leben, bereits seit geraumer Zeit in Gefahr. Mit anderern Worten: Trotz Mindestlohn ist der Anreiz, einen Job anzunehmen, gering.

Wirklich gefährdet ist die zentrale Stütze unseres Systems

Wer oder was allerdings tatsächlich gefährdet ist, ist die zentrale Stütze des Systems: Die Mittelschicht und der Mittelstand, wie die OECD im April in der Studie „Die gequetschte Mittelschicht“ nachgewiesen hat. Also diejenigen, die tagtäglich früh aufstehen, zur Arbeit gehen, immer weitere Wege dafür fahren müssen, brav ihre hohen Steuern zahlen und ihre Kinder eigenverantwortlich aufziehen, sie täglich ordentlich anziehen, in die Schule schicken und mit ihnen Hausaufgaben machen . Gehaltsmäßig umfasst diese Schicht den Bereich von 75 bis 200 Prozent des Durchschnittsgehaltes.

Ohne die Mittelschicht geht in Deutschland überhaupt nichts. Doch sie steht massiv unter Druck – und kaum jemand vertritt ihre Interessen. Im Gegenteil: Organisationen wie die Paritätische Gesamtverband arbeiten indirekt sogar gegen sie. Denn eines ihrer größten Probleme ist der immer teurer Sozialstaat beziehungsweise die hohen Steuern, die sie dafür zahlen müssen. Eine kräftige Steuersenkung für die Mittelschicht wäre hier längst überfällig. Denn niemandem ist geholfen, wenn die Mittelschicht wegen Überlastung kollabiert und irgendwann ihrerseits Hartz IV beantragen muss.