Thomas Silberhorn ist Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung. (Foto: Bundeswehr/Sebastian Wilke)
Verteidigung

„Wir brauchen 60 Milliarden Euro“

Interview Verteidigungsstaatssekretär Thomas Silberhorn plädiert für ein weiter steigendes Budget für die Bundeswehr. Nur so könne die Truppe alle ihr gestellten Aufgaben erfüllen - etwa Angriffe aus dem Cyberraum abzuwehren.

Herr Silberhorn, wenn über die Bundeswehr berichtet wird, geht es regelmäßig um fehlende oder mangelhafte Ausrüstung. Woher kommen diese Defizite?

Die Bundeswehr leidet bis heute an einem Schrumpfkurs, der von 1990 bis 2015 stattgefunden hat. Das hängt mit der Beendigung des Kalten Krieges zusammen. Es war nicht mehr notwendig, auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs zu zählen, wie viele Panzer, Flugzeuge und Soldaten jede Seite hat. Der Schrumpfkurs, der damals einsetzte, war begleitet von einer Konzentration auf Auslandseinsätze, die für die Bundeswehr neu waren. Es musste alles getan werden, die Soldaten für diese Einsätze auszustatten. Das zusammen hat dazu geführt, dass die Bundeswehr in ihren Strukturen ausgehöhlt wurde. Und deshalb gibt es einen großen Handlungs- und Nachholbedarf.

Es ist gelungen, den Riesentanker Bundeswehr auf einen neuen Kurs zu bringen. Jetzt muss er Fahrt aufnehmen.

Thomas Silberhorn

Wie weit konnte dieser Prozess inzwischen umgekehrt werden?

Seit 2015 wächst die Bundeswehr wieder. Dazu wurden zunächst die konzeptionellen Grundlagen geschaffen. Wir haben mit dem Weißbuch 2016 vereinbart, dass Landes- und Bündnisverteidigung wieder gleichrangig neben der internationalen Krisenbewältigung stehen. Heute haben wir den Stand von 180.000 Soldaten erreicht. Unser Haushalt steigt auf 43,2 Milliarden Euro, ein Plus von rund 12 Prozent. Es ist gelungen, den Riesentanker Bundeswehr auf einen neuen Kurs zu bringen. Jetzt muss er Fahrt aufnehmen. Die klare Zielvorgabe lautet „Vollausstattung“. Das bedeutet aber nicht „Wunschkonzert“. Es bedeutet, dass die Bundeswehr die Aufgaben, die wir ihr übertragen, vollständig erfüllen kann.

Ist dieses Ziel bereits erreicht?

Um die Fähigkeiten zu erlangen, die wir politisch vereinbart haben, benötigen wir ein Verteidigungsbudget von 60 Milliarden Euro. Dann wären wir immer noch weit vom Zielwert entfernt, den die Staats- und Regierungschefs beim NATO-Gipfel 2014 in Wales vereinbart haben, nämlich zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Wir wären dann bei etwa 1,5 Prozent.

Wie wichtig ist dieses Zwei-Prozent-Ziel aus Ihrer Sicht?

Wir halten an diesem Ziel fest. Es hat sich gezeigt, dass solche Zielsetzungen durchaus wirksam sind. Es ist eine Frage der politischen Prioritätensetzung, wofür man sein Geld ausgibt. Ich plädiere sehr dafür, dass wir als Bundesrepublik Deutschland unsere internationalen Verpflichtungen ernst nehmen. Wenn uns daran gelegen ist, gemeinsam in Europa unsere Sicherheit zu gewährleisten, dann müssen wir als größtes und wirtschaftlich stärkstes Land in der Lage sein, unsere Hausaufgaben zu erledigen. Die NATO-Partner und US-Präsident Trump weisen nicht zu Unrecht darauf hin, dass Deutschland mehr tun muss. Das betrifft nicht nur die Fähigkeit zur Landesverteidigung, sondern auch unsere Aufgaben in der NATO. Wir beteiligen uns beispielsweise im Baltikum an der Luftraumüberwachung und stellen mit Kräften des Heeres den Rahmenverband für die sogenannte NATO-Vornepräsenz in Litauen. Das ist ein konkreter Beitrag zur Sicherheit in Europa.

Wie überzeugt man die Bundesbürger davon, dass Deutschland mehr für die Verteidigung tun muss?

Die Deutschen fühlen sich grundsätzlich nicht bedroht. Das ist ein Ergebnis von Jahrzehnten des Kalten Krieges, in denen die NATO und insbesondere die USA für den Schutz Deutschlands gesorgt haben. Wir konnten uns auf unsere Bündnispartner so sehr verlassen, dass wir unsere Energie, unser Knowhow, unsere finanziellen Ressourcen insbesondere nach der Wiedervereinigung in unseren wirtschaftlichen Aufbau stecken konnten. Der wirtschaftliche Erfolg der Bundesrepublik ist zum Teil dadurch erleichtert worden, dass wir weniger für unsere Sicherheit getan haben als manche NATO-Partner. Aber die Lage hat sich heute grundlegend geändert. Wir haben zwar nicht mehr die Konfrontation von zwei Blöcken am Eisernen Vorhang, aber wir müssen klar erkennen, dass neue Bedrohungen wie Cyber und Hybrid an Bedeutung gewinnen. So versuchen verschiedenste Akteure, auf das Meinungsklima und auf politische Entscheidungen in Deutschland und Europa Einfluss zu nehmen. In sozialen Medien kann jeder sehen, dass etwa Russland viel dafür tut, um die deutsche und die europäische Gesellschaft zu spalten. Diese Angriffe zielen darauf ab, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung in Frage zu stellen und Europa zu destabilisieren.

Heute kann jeder auf seinem Smartphone nachverfolgen, wie verwundbar unsere offene Gesellschaft ist.

Thomas Silberhorn

Wo gab es diese Angriffe?

Die Beeinflussungsversuche haben wir zum Beispiel beim Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens, beim Referendum über den Brexit, bis hin zur Präsidentschaftswahl in den USA beobachten können. Stets wurde versucht, über soziale Medien und das Internet Einfluss auf konkrete Zielgruppen und damit die demokratischen Entscheidungen zu nehmen. Wir müssen den Menschen die Augen dafür öffnen, was hier geschieht, wie unsere demokratischen Freiheitsrechte instrumentalisiert und damit missbraucht werden, indem gezielt Desinformation eingesetzt wird, indem Hass im Internet gesät und versucht wird, das gesellschaftliche Klima zu verändern. In früheren Zeiten waren Gefährdungen für uns weit entfernt. Heute kann jeder auf seinem Smartphone nachverfolgen, wie verwundbar unsere offene Gesellschaft ist.

Inwieweit betrifft diese Entwicklung die Bundeswehr?

Die Bundeswehr ist Adressat von millionenfachen Cyber-Angriffen im Jahr. Im Durchschnitt wird 4500 Mal täglich versucht, die Netzwerke der Bundeswehr anzugreifen. Das ist keine Lappalie. In der Bundeswehr reagieren wir darauf mit dem neuen Kommando „Cyber- und Informationsraum“, das mit 15.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit diesen Bedrohungen umgeht. Aber es ist eine Aufgabe für die Behörden sowohl der inneren als auch der äußeren Sicherheit, auf Cyber-Angriffe zu reagieren. Die neue Cyber-Agentur, die wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, wird von Innen- und Verteidigungsministerium gemeinsam errichtet.

Sie haben Donald Trump erwähnt. Er hat öffentlich den Sinn der NATO in Frage gestellt. Wie beurteilen Sie das Verhältnis zu den USA?

Was Trump öffentlich äußert, ist offenkundig von wirtschaftlichen Interessen dominiert und zuerst an die heimische Öffentlichkeit gerichtet. Da rate ich zu Selbstbewusstsein. Im Übrigen sollten wir zur Kenntnis nehmen, was tatsächlich geschieht. Die USA haben entschieden, die Präsenz von US-Soldaten in Deutschland bis zum Jahr 2020 um etwa 2000 Mann aufzustocken. Die Amerikaner werden in signifikantem Umfang investieren – auch in Bayern. Für mich besteht kein Zweifel an der Bündnistreue der USA. Und trotzdem müssen wir unsere Anstrengungen für unsere eigene Verteidigung erhöhen. Denn die NATO bleibt der Garant für Sicherheit und Stabilität in Europa.

Was ich bei Russlands Regierung vermisse, ist ein partnerschaftlicher Ansatz gegenüber den Nachbarn.

Thomas Silberhorn

Der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger hat unlängst das Verhältnis zwischen Ost und West als schlechter als im Kalten Krieg bezeichnet und von „abgrundtiefem Misstrauen“ gesprochen. Sehen Sie das ähnlich?

Mit Blick auf Russland würde ich die Lage differenzierter bewerten. Meiner Wahrnehmung nach ist Russland nach Westen orientiert. Die Mehrheit der russischen Bevölkerung lebt westlich des Urals. Entgegen der von Moskau behaupteten Bedrohung gehen Gefährdungen für Russlands Sicherheit nicht von Europa aus. Dazu kommen vielfältige historische und kulturelle Beziehungen. Bei einem Großteil der russischen Bevölkerung gibt es trotz der ausgeprägten staatlichen Kontrolle der Medien eine klar wahrnehmbare Ausrichtung nach Westen.

Aber die politische Führung agiert anders…

Was ich bei Russlands Regierung vermisse, ist ein partnerschaftlicher Ansatz gegenüber den Nachbarn. Es ist das Gegenmodell zur europäischen Integration. Die europäische Integration ist getragen von der Überzeugung, dass sich die großen und die kleinen Staaten an einen Tisch setzen müssen, dass Partnerschaft auf Augenhöhe die nachbarschaftlichen Beziehungen prägen muss. Auf russischer Seite erleben wir das Gegenteil. Die russische Außenpolitik setzt auf Dominanz, Druck und Hegemonie. Man will die eigene Sicherheit auf Kosten der Nachbarn erhöhen, und dabei wird der wachsende Vertrauensverlust billigend in Kauf genommen.

Wie muss der Westen auf dieses Verhalten reagieren?

Russland hat unter Putin immer wieder die Erfahrung gemacht, dass es sich mit diesem Dominanzstreben durchgesetzt hat. Die Geschichte zeigt, dass Appeasement nicht funktioniert, sondern dass klare Grenzen gezogen werden müssen. Dabei spielt der NATO-Russland-Rat eine herausgehobene Rolle. Wir sind weiterhin bereit für einen Dialog, aber wir räumen nicht unsere freiheitlichen Werte und Prinzipien. Gleichzeitig müssen wir Europäer uns überlegen, wie wir uns die Nachbarschaft mit den Ländern vorstellen, die nicht zur Europäischen Union gehören. Und wir müssen uns überlegen, wie wir uns innerhalb dieser europäischen Familie abstimmen. Da bleiben viele Fragen offen.

Das heißt, Europa muss sich selbst Grenzen setzen?

Wir verfolgen natürlich eine Politik, die jedem Land freistellt, welchen internationalen Organisationen es sich anschließen möchte. Es darf aber nicht nur die Alternative „Mitglied“ oder „Nicht-Mitglied“ geben. Wir müssen auch den Nachbarstaaten, die nicht Mitglied der EU sind, eine Perspektive der Zusammenarbeit bieten.

Das erste Interesse unserer Sicherheitspolitik muss doch sein, dass wir Demokraten zusammenstehen, um Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit zu bewahren.

Thomas Silberhorn

Europa hat außenpolitisch noch nicht den Einfluss, den es haben könnte. Wie lässt sich das internationale Gewicht der EU stärken?

Wir müssen erreichen, dass die EU in außen- und sicherheitspolitischen Fragen noch handlungsfähiger wird. Die Verteidigungsinitiativen, die wir in den letzten Monaten auf den Weg gebracht haben, zeugen davon, dass der politische Wille dazu vorhanden ist.

Das setzt nicht voraus, dass sich immer alle Staaten an allen konkreten Projekten beteiligen. Aber es setzt voraus, dass die Mitglieder sich darüber verständigen, welche strategischen Prioritäten man setzt und mit welchen Mitteln und Wegen man sie erreichen möchte.

Wir haben daneben viele gute Erfahrungen in der bilateralen und multilateralen Zusammenarbeit – etwa mit der Deutsch-Französischen Brigade, dem Deutsch-Niederländischen Korps oder dem Engagement im Baltikum. Diese und viele weitere Initiativen müssen so wirken, dass wir gemeinsam mehr erreichen. Dazu gehören aber nicht nur Sonntagsreden, sondern die Bereitschaft, diesen Worten auch Taten folgen zu lassen. Das erste Interesse unserer Sicherheitspolitik muss doch sein, dass wir Demokraten zusammenstehen, um Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit zu bewahren.