Auf dem Weg zur OP: Mediziner bringt in einer Klinik in Hannover ein Spenderorgan in einer Transportbox zur Transplantation. (Foto: Imago/localpic)
Medizin

Am toten Punkt

Nicht mal mehr 800 Organspenden verzeichnen deutsche Transplantationsärzte. Angesichts des Tiefststands debattiert der Bundestag eine Reform: Wer einer Entnahme zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widerspricht, soll künftig postmortal Spender sein.

Die Debatte trägt dramatische Züge, bei aller Sachlichkeit. Der CDU-Abgeordnete Axel Müller spürt, es gehe im Bundestag „um Leben und Tod“. Obwohl das Grundgesetz die Todesstrafe in Deutschland vor Jahrzehnten abgeschafft habe. Und in der Tat behandelt das Plenum an diesem Nachmittag vitale Überlebensfragen in der Gesellschaft: Die Parlamentarier haben sich zu einer offenen Debatte um eine Neuordnung der Organspende in den Kliniken des Landes verabredet, ohne Fraktionszwang, ein jeder nach eigener Überzeugung.

Lebensnotwendige Gewissensfrage

Kontrovers, auch über die Parteigrenzen hinweg, tragen die Abgeordnete in kurzen Referaten ihre Bedenken oder ihre Zustimmung zum Vorschlag von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vor. Dieser regt die so genannte „erweiterte Widerspruchs-Lösung“ an – also die Pflicht des Bürgers, einer etwaigen Organentnahme nach seinem Ableben noch zu Lebzeiten explizit zu widersprechen, wenn er diese ablehnt. Sein Schweigen würde Zustimmung bedeuten. Erweiterung erfährt dieser Vorschlag dadurch, dass auch seine nahen Verwandten nach dem Tod widersprechen können.

Der Volksvertreter Müller äußert sich dabei „unentschieden“ zwischen der vorgeschlagenen Neuerung und der bisherigen so genannten „Zustimmungs-Regelung“, wonach nur Organe spendet, wer diesen Willen zu Lebenszeit auch aktiv kundgetan hat. Etwa mittels Erwerb eines Organspende-Ausweises. Seine persönliche Willensbildung kann der CDU-Mann im Laufe der fast zwei Stunden gut am Arbeitsplatz im Bundestag betreiben.

Tiefststand im vergangenen Jahr

Noch 2012 verzeichneten deutsche Transplanteure 1046 Organspenden, während es 2017 nur noch 797 waren – ein neuer Tiefststand, auch nach zahlreichen Skandalen. Allein die Debatte belebe das Thema im Bewusstsein vieler potenzieller Spender, glaubt Minister Spahn. Und wirbt noch einmal für seinen Vorstoß: „Das einzige Recht, das damit beschnitten würde, ist das Recht, sich keine Gedanken zu machen.“ Dies sieht auch der CSU-Abgeordnete Georg Nüßlein so, der zudem findet: „Es ist doch lebensfremd, sich nicht mit dem eigenen Tod und auch der Organspende beschäftigen zu wollen.“ Auch er spricht sich für die Widerspruchslösung aus. Das gegenläufige Recht des Menschen auf freie Selbstbestimmung werde durch sie „nicht übermäßig eingeschränkt“.

Aus Sicht desjenigen, der auf ein Organ wartet, gibt es keine Zeit zu verlieren.

Georg Nüßlein, CSU-Abgeordneter

CSU-Kollege Stephan Pilsinger dagegen lehnt Spahns Vorschlag ab. Die Erfahrung der vergangenen Jahre zeige: „Die niedrige Zahl von Organspenden ist auf Probleme im Organspende-Prozess zurückzuführen.“ Diese gelte es zu beheben. Ob die Menschen einer Entnahme zuvor explizit zustimmen oder widersprechen, hält er demgegenüber nicht für so entscheidend. Die USA verzeichneten steigende Zahlen von gespendeten Herzen, Lebern und Nieren – bei einer klaren Zustimmungslösung. Während Schweden stagnierende Zahlen verzeichne – trotz der von Spahn gelobten, dort praktizierten Widerspruchslösung.

Wir können nicht ohne weiteres behaupten, der Widerspruch führe zu höheren Spenderzahlen.

Stephan Pilsinger, CSU-Abgeordneter

Auch in der SPD-Fraktion schwanken die Meinungen. Während Gesundheitsexperte Karl Lauterbach das Spahn-Modell propagiert, widerspricht Parteikollegin Kerstin Griese: „Eine Spende ist ein Geschenk.“ Pauschal vorzuschreiben, jeder Deutsche spende/schenke, der nicht widerspricht, geht ihr da schlicht zu weit. FDP-Parlamentarier Wolfgang Kubicki weist auf den „Legitimationsdruck“ hin, der für Menschen entstehe, die sich vor Verwandten oder Bekannten gegen eine postmortale Spende aussprechen. Der Jurist spricht gegen die Neuordnung, auch weil es dem deutschen Recht fremd sei, „Schweigen als Zustimmung zu werten“. Wer spende, solle diese Präferenz zuvor auch aktiv bekunden – und nicht nur durch Unterlassen einer Aussage implizieren.

Philosophische Erwägungen

Die Grünen-Abgeordnete Sylvia Kotting-Uhl findet, der Staat greife mit der Widerspruchslösung zu tief ein in die Menschenwürde. Sie befürchtet, die Bürger würden dabei einer utilitaristischen Ethik unterworfen, im Organspende-Fall also zu sehr nach dem Wert für die Gesellschaft beurteilt. „Das nimmt den Menschen die Würde, ersetzt diese durch ihren Wert.“

Solchen staatsphilosophischen Erwägungen setzt die vormalige SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt medizinischen Pragmatismus entgegen. Sie spricht sich für den Spende-Widerspruch aus, meint aber: „Entscheidend ist dabei die Organisation im Krankenhaus.“ Denn Spahns Gesetzesentwurf sieht auch spezielle Schulung für Ärzte und Patientenberater vor, welche die Verwandten eines in einer Klinik Verstorbenen behutsam von einer Abgabe von dessen Organen überzeugen. „Wir brauchen Menschen, die in der Lage sind, mit den Angehörigen richtig zu reden.“ Aus ihrer Erfahrung nämlich sagen viele, denen gerade jemand gestorben ist, niemand hätte sie auf die Möglichkeit und auch dringende Notwendigkeit einer Spende hingewiesen. Dass also der Tod des einen auch das Leben eines anderen verlängern könne.