In Hessen geht es um alles
Schicksalswahl in Hessen: CDU und SPD droht der Absturz, Grüne im Höhenflug. Ministerpräsident Volker Bouffier warnt vor einer Links-Koalition – womöglich mit grünem Regierungschef. Auch in Hessen sind die Grünen zur Partei der Reichen geworden.
Hessen

In Hessen geht es um alles

Schicksalswahl in Hessen: CDU und SPD droht der Absturz, Grüne im Höhenflug. Ministerpräsident Volker Bouffier warnt vor einer Links-Koalition – womöglich mit grünem Regierungschef. Auch in Hessen sind die Grünen zur Partei der Reichen geworden.

Kein Scherz: Vom „Meilenstein der Verkehrswende“ spricht Hessens grüner Wirtschaftsminister Tarek al-Wazir – beim ersten Spatenstich für einen schnellen Radweg von Frankfurt ins 26 Kilometer entfernte Darmstadt. Die Radlstrecke, zu der im Hessenland noch andere kommen werden, soll das Klima schonen und die Luftqualität verbessern, gibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung Al-Wazir wieder.

Radlweg statt Rhein-Main-Flughafen

Das ist so als wollte man einen Radweg von Starnberg nach München (23 Kilometer) zum großen Pendlerprojekt des Öffentlichen Personen-Nahverkehrs ausrufen. Oder anstelle der zweiten Stammstrecke für die Müchner S-Bahn für einen Wanderweg von Pasing bis zum Ostbahnhof werben.

Aber der grüne stellvertretende Ministerpräsident meint es ernst mit der Pendler-Revolution zwischen Frankfurt und Darmstadt. Bezeichnend für die verkehrspolitischen Prioritäten Al-Wazirs, der auch Verkehrsminister ist: Zum ersten Spatenstich für das wichtige neue Terminal 3 des Frankfurter Rhein-Main-Flughafens ist er nicht gekommen.

Grüner Höhenflug

Der hessische Grünen-Chef kommt damit durch im boomenden Industrie-Bundesland Hessen. Bestens sogar. Denn nur Tage vor der Landtagswahl sind die hessischen Grünen im Höhenflug und Höhenrausch. Alles ist möglich. Sogar der Ministerpräsidenten-Sessel ist für Al-Wazir fast schon in Griffweite.

Mit 11,1 Prozent starteten die hessischen Grünen 2013 in die von Volker Bouffier und der CDU geführte Regierungskoalition. Eine Woche vor der Wahl prophezeien ihnen die Umfragen die Verdoppelung auf 20 bis 22 Prozent.

CDU und SPD vor dem Absturz

Ministerpräsident Bouffier und seine CDU müssen dagegen damit rechnen, von 38,3 (2013) auf bis zu 26 Prozent abzustürzen – ein Minus von 12 Prozentpunkten.

Wer jetzt der CDU die Stimme verweigert, der wacht mit einer linken Mehrheit auf.

Volker Bouffier, CDU-Ministerpräsident

Die Sozialdemokraten könnten von 30,7 auf 21 oder gar 20 Prozent fallen. Für die SPD ein Debakel im einst knallroten Hessen: Vor 1995 hat sie dort nie unter 40 Prozent gelegen. Zwei Legislaturen lang hat die Hessen-SPD sogar mit mehr als 50 Prozent regiert. Aber das ist lange her.

FDP und Linke werden sich den Umfragen zufolge am nächsten Sonntag in Wiesbaden von jeweils fünf auf acht oder neun Prozent steigern. Die AfD, die 2013 an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte, kann mit 12 bis 14 Prozent der Stimmen rechnen.

Viele Koalitionsoptionen

Mit diesen Zahlen würde in Hessen zumindest rechnerisch ein regelrechtes Koalitionswirrwarr möglich. Die schwarz-grüne Koalition, die man vor wenigen Wochen schon abgewählt sah, könnte vielleicht doch noch weiter machen, ganz knapp. Auch eine ebenso knappe „große“ Koalition von CDU und SPD ist nicht undenkbar.

Die rechnerisch ebenfalls vorstellbare Ampel-Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen hat Hessens FDP-Spitzenkandidat René Rock schon einmal ausgeschlossen. Eine Jamaika-Koalition mit CDU und Grünen kann er sich vorstellen.

Grüner Ministerpräsident in Wiesbaden?

Dem grünen Noch-Wirtschaftsminister Al-Wazir, der mit Bouffier sehr einvernehmlich regiert hat, wäre eine Kombination mit CDU und Liberalen auch lieber als eine mit den Sozialdemokraten. Es sei denn mit ihm an der Spitze. Denn auch das machten die jüngsten Zahlen möglich: eine grün-rot-rote Koalition mit den Grünen als stärkstem Partner und Al-Wazir als grünem Ministerpräsidenten im dann wieder richtig linken Hessen.

Das letzte, was wir in Hessen gebrauchen können, wäre eine linke Regierung.

Volker Bouffier

Für Bouffier und die hessische CDU ein Albtraum: „Wer jetzt der CDU die Stimme verweigert, der wacht mit einer linken Mehrheit auf“, warnte er nach einer Sitzung des CDU-Bundesvorstands am Sonntag in Berlin die hessischen Wähler.

Bouffier weiter: „Das letzte, was wir in Hessen gebrauchen können, wäre eine linke Regierung. Das wäre für dieses wirtschaftsstarke Land eine Katastrophe. Das würde uns tausende Arbeitsplätze kosten. Das würde die Investitionen in unserem Land zurückfahren, und würde ganz unmittelbar Schaden anrichten.“ Deshalb gebe es politische Stabilität nur mit der CDU. Bouffier: „Ich gönne den Grünen alles mögliche, aber nicht auf unsere Kosten.“ Oder auf Hessens Kosten, hätte er auch sagen können.

Harte Linie gegen kriminelle Asylbewerber

Im Wahlkampf wirbt Bouffier mit Hessens wirtschaftlicher Erfolgsbilanz: 2,2 Prozent Wachstum, 5 Prozent Arbeitslosigkeit, das höchste Durchschnittseinkommen in Deutschland. Dazu: mehr Polizei, mehr Lehrer. Bouffiers Wahlparole: „Hessen erfolgreich regiert.“

Aufschlussreich: Bouffier, der sich in der Flüchtlingskrise strikt an Merkels Kurs hielt und eben noch Horst Seehofer und die CSU angegriffen hat, pocht zuhause auf eine harte Linie gegen kriminelle Migranten und Asylbewerber: „Bei uns bleibt es bei unseren Regeln, wer straffällig wird, muss gehen.“ Als hessischer Innenminister (1991-2010), sagt er, habe er „die meisten Abschiebungen gemacht“. Freilich in den Zeiten vor der großen Migrationswelle.

SPD kann nicht punkten

Bouffiers ewiger SPD-Herausforderer, Thorsten Schäfer-Gümbel, redet nicht vom Migranten-Thema, sondern fast ausschlielich von Mobilität, von kostenloser Bildung „von der Krippe bis zum Meister” und vor allem: von bezahlbaren Wohnungen. Doch bei keinem Thema kann er so richtig punkten.

In der TV-Debatte mit Bouffier am 17. Oktober musste er sich anhören, dass seine SPD in der Berliner Groko Mieterhöhungen nach Sanierungen mitbeschlossen hat. Auch die Ergebnisse des Berliner Dieselgipfels hat seine SPD mitgetragen. Mehr als die Nachrüstung von kommunalen Dieselfahrzeugen kann Gümbel-Schäfer nicht bieten, um in Hessen drohende Fahrverbote zu verhindern.

Grüne Partei der Reichen und sehr Reichen

Erstaunlich: eigentlich müssten die beiden Problem-Themen – Wohnen und drohende Diesel-Fahrbervote – den Grünen auf die Füße fallen. Denn die stellen in Hessen außer Wirtschafts- und Verkehrsminister Al-Wazir auch Umweltministerin Priska Hinz, zuständig auch für den Wohnungsbau.

Da werden immer mehr Flächen verbraucht.

Tarek Al-Wazir, hessischer Grünen-Chef und Wirtschaftsminister

Aber nein, die Grünen konzentrieren sich in der hessischen Landtagswahl auf Klimaschutz und ganz große, eher nicht hessische Umweltfragen. Al-Wazir etwa ist nicht grundsätzlich gegen Wohnungsbau. Aber eben gegen sogenannten Flächenverbrauch. „Zugleich sind wir die Partei, die natürlich sagt: Da werden immer mehr Flächen verbraucht“, zitiert ihn die Frankfurter Allgemeine Zeitung zum Thema Wohnungsbau.

Bezahlbare Wohnungen kommen im grünen Wahlprogramm denn auch erst ganz hinten und nur am Rande vor. Kein Wunder: Es ist kein Thema für die Grünen und ihre Wähler. Denn die verfügen im Schnitt über die höchsten Einkommen. Just in jenen Frankfurter Wahlkreisen mit den höchsten Mietpreisen winken ihnen jetzt Direktmandate. Auch in Hessen sind die Grünen zur Partei der Reichen und sehr Reichen geworden. (dpa/BK/H.M.)