Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier wird aller Voraussicht nach weiterregieren können - nur mit wem? (Bild: imago/Michael Schick)
Hessen

Vor komplizierten Verhältnissen in Wiesbaden

Landtagswahl in Hessen: Die Umfragen schließen fast alles aus. Keine Mehrheit für Schwarz-Grün, Rot-Rot-Grün oder Ampel. Bleiben Jamaika oder eine große Koalition der voraussichtlichen Wahlverlierer. Das Flüchtlingsthema dominiert den Wahlkampf.

Das machen sich die bayerischen Wähler noch gar nicht klar: Am 14. Oktober werden sie nicht nur eine Landtagswahl entscheiden, sondern womöglich gleich zwei – ihre eigene bayerische und die hessische 14 Tage später. Denn 90 Tage vor der Hessenwahl am 28. Oktober ist im Nachbarbundesland eigentlich nur eines sicher: Die Wahl in Bayern wird Einfluss haben auf den Wahlausgang in Hessen. Vielleicht entscheidenden.

In Wiesbaden ist zum hessisch-gemütlichen Start der heißeren Wahlkampfphase, unmittelbar nach dem Ende der Sommerferien, vieles knapp und fast alles offen. Da kann auch ein kleiner Impuls viel bewirken, vielleicht sogar wenden. So gut wie sicher sind für Hessen heute im Grunde nur zwei Dinge: Für die Fortsetzung der schwarz-grünen Koalition wird es kaum reichen. Und die beiden Großen, CDU und SPD, werden massiv Stimmen verlieren.

Schwarz-Grün vor dem Aus

Auf 38,3 und 11,1 Prozent der Stimmen kamen CDU und Grüne bei der Landtagswahl vor fünf Jahren. Womit die beiden Koalitionäre zusammen 60 Mandate gewannen, eine knappe Mehrheit im Wiesbadener Landtag mit 110 Sitzen. Ministerpräsident Volker Bouffier würde gerne weitermachen zusammen mit dem hessischen Grünen-Chef und Noch-Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir. Doch alle Umfragen seit März schließen das ziemlich sicher aus.

Die letzte hessische Sonntagsfrage für den Hessischen Rundfunk von Infratest/dimap, die allerdings schon sechs Wochen alt ist, wartet denn auch mit ernüchternden Zahlen auf: Bouffiers CDU fiele von 38,3 auf nur noch 31 Prozent. Die Hessen-SPD verlöre 8,7 Prozent und stürzte ab auf 22 Prozent. Für die Sozialdemokraten wäre es das bitterste Ergebnis im einst jahrzehntelang knallroten Hessen. Eine Demütigung, die auch das Willy-Brandt-Haus in Berlin erschüttern könnte.

Die Grünen würden um 2,9 Punkte auf 13 Prozent zulegen, nicht genug um die Verluste des Koalitionspartners zu kompensieren. FDP und Linke könnten mit je 7 Prozent etwas sicherer als 2013 auf den Einzug in den Wiesbadener Landtag hoffen. Einziger Gewinner wäre der Umfrage zufolge die AfD, die von 4,1 auf 15 Prozent springen und damit alle Koalitionsgewissheiten stören würde.

FDP als Königsmacher?

Die Infratest/dimap-Prognose schließt drei Möglichkeiten aus: Schwarz-Grün, Rot-Rot-Grün und nach derzeitigem Stand auch eine rot-grün-gelbe Ampel. Was die FDP in die Rolle des Königsmachers bringen könnte. Entweder als Mitglied einer schwarz-grün-gelben Jamaika-Koalition. Oder ganz vielleicht doch noch der rot-grün-gelben Ampel.

Was beides schwierig würde. Die Hessen-FDP hat es Bouffier nicht verziehen, dass er sie nach 14 Jahren Zusammenarbeit mit der CDU 2013 schnöde vor die Regierungstür gesetzt hat. Zugunsten des schwarz-grünen Experiments. Bloßer Mehrheitsbeschaffer einer abgewählten schwarz-grünen Regierung will FDP-Spitzenkandidat René Rock erklärtermaßen nicht sein. Und stellt schon einmal Bedingungen: In einer Jamaika-Regierung müsste Vizeministerpräsident Al-Wazir seinen Stuhl als Wirtschaftsminister räumen. Rock kürzlich im HR-Sommerinterview: „Ich kann mir keine Regierung vorstellen, in der die Freien Demokraten nicht die Verantwortung für die Wirtschaftspolitik haben sollten.“ Mit einem grünen Wirtschaftsminister hat sich die Hessen-FDP nie abfinden können. Was man sogar versteht.

Ich kann mir keine Regierung vorstellen, in der die Freien Demokraten nicht die Verantwortung für die Wirtschaftspolitik haben sollten.

René Rock, FDP-Fraktionsvorsitzender

Wiesbadener Beobachtern zufolge würde Rock lieber mit den Sozialdemokraten regieren. Fast herzlich klang sein Glückwunsch-Tweet an Hessens eher glücklosen SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel zur dritten Wahl zum SPD-Spitzenkandidaten: „Lieber TSG, Glückwunsch zur Wahl zum Spitzenkandidaten der #SPD Hessen. „Aller guten Dinge sind drei“, sagt ein altes Sprichwort.“ Aber rechnerisch ist die Ampel derzeit eben kaum drin. Und Rock hat noch ein ganz eigenes Problem: In der Hessentrend-Umfrage vom Juni sagten 85 Prozent aller Befragten, sie kennten den FDP-Spitzenkandidaten nicht oder könnten ihn nicht beurteilen.

Schäfer-Gümbel gegen Bouffier

Sicher möglich wäre ab Januar, wenn der neue Wiesbadener Landtag zusammentritt, eine schwarz-rote Koalitionsregierung. Problem: Bouffier und Schäfer-Gümbel mögen sich nicht besonders. Was weniger am jovial-geselligen CDU-Chef liegt, sondern mehr am verbissen-hoffnungslosen SPD-Spitzenmann.

Uns verbindet nicht viel.

Thorsten Schäfer-Gümbel

Der hat sogar Grund den Wahlkampf persönlich zu nehmen: Seit 2003 kämpfen die beiden um den gleichen Wahlkreis Gießen II. Bouffier hat ihn 1999 einem SPDler abgenommen, der dort vier Legislaturperioden lang dominierte. Seither hat Bouffier den Wahlkreis stets souverän gewonnen. Und mit Schäfer-Gümbel wurden die SPD-Ergebnisse in Gießen II eher nicht besser. Was den SPD-Spitzenkandidaten auch nicht glücklich machen kann: Im Juni haben sogar 63 Prozent der SPD-Anhänger gesagt, Ministerpräsident Bouffier mache seine Sache gut. Zu denen Schäfer-Gümbel sicher nicht gehört hat: „Uns verbindet nicht viel”, sagt er über sein Verhältnis zu Bouffier.

Dazu kommt, dass die Sozialdemokraten mit den falschen Themen in den Wahlkampf gezogen sind. Schäfer-Gümbel wollte mit Wohnen und Mietpreisen, Bildung, Mobilität etwas bewegen, mit kostenloser Kinderbetreuung und der Abschaffung von Straßenbeiträgen. Als „harmlos“ beschreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung das SPD-Wahlprogramm.

Das Flüchtlingsthema dominiert

Tatsächlich haben wohl noch bis ins Frühjahr hinein alle bislang im Landtag vertretenen Parteien geglaubt, das Migranten-Thema umschiffen zu können. Es ist anders gekommen. Ausgerechnet in Wiesbaden wurde am 6. Juni die Leiche der 14-jährigen vergewaltigten und ermordeten jüdischen Schülerin Susanna F. gefunden. Die Geschichte um den irakischen Flüchtlingstäter, seiner Familie Flucht in den Irak und seiner handstreichartige Rückholung nach Deutschland ist bekannt. Inzwischen wird dem Täter noch eine weitere Kindesvergewaltigung zur Last gelegt.

Der hessische Landtagswahlkampf findet im Schatten des Flüchtlingsthemas statt − ob die Akteure es wollen oder nicht.

Hessischer Rundfunk

Das Wiesbadener Flüchtlings- und Morddrama hat alle Wahlkampfrechnungen umgestürzt: Im Juni-Hessentrend war für 37 Prozent der Befragten das Asyl- und Migrantenthema plötzlich wieder das wichtigste Thema. Erst danach kam das Thema Bildung und dann mit weitem Abstand alles andere. Die AfD sprang denn auch zwischen Mai und Juni in den Umfragen um vier Prozentpunkte von 11 auf 15 Prozent. Obwohl 80 Prozent der Wähler den AfD-Spitzenkandidaten gar nicht kennen.

Interessant: Die FAZ liest aus den Umfragen heraus, „dass die AfD momentan vor allem von Verlusten der Sozialdemokraten profitiert”. Naheliegende Erklärung: Die AfD ist im Grunde immer mehr eine Linkspartei.

Warnung vor der AfD

Wie es bis zum 28. Oktober weiter geht? Soviel ist sicher, das Flüchtlingsthema wird bleiben. Der Hessische Rundfunk hat wohl recht mit seiner Warnung und vielleicht nicht nur für Hessen: „Jetzt müssen die übrigen Parteien die Flüchtlings- und Integrationsfrage als einen zentralen Punkt ihrer Kommunikation erkennen: Zuhören, Fragen zulassen, vernünftige Antworten geben. Antworten, die es uns erlauben, Menschen zu bleiben. Aber auch Gemeinschaft. Gelingt uns das nicht, wird das im Herbst für die AfD der bequemste Einzug in den Landtag, den Hessen je gesehen hat.“

Nur ein TV-Duell

Für bayerische Wähler, die schon drei Tage nach ihrer Bayernwahl zur Ruhe zurückgefunden haben, gibt es dann gleich einen womöglich aufschlussreichen Hessen-Termin: Am 17. Oktober stehen oder sitzen sich die Spitzenkandidaten Bouffier und Schäfer-Gümbel im einzigen hessischen Fernseh-Duell gegenüber. Ob es spannend wird, hängt wohl von Bouffier ab. Für Schäfer-Gümbel-Auftritte hat man schon viele Beschreibungen gefunden. „Spannend“ war nie darunter.