Wo ist die neue politische Mitte?
Die neuen populistischen Parteien in Europa sind keine bloßen Protestparteien, sondern Symptom einer großen Verschiebung des politischen Koordinatensystems. Die Volksparteien müssen sich darauf einstellen und eine neue politische Mitte organisieren.
Populismus

Wo ist die neue politische Mitte?

Die neuen populistischen Parteien in Europa sind keine bloßen Protestparteien, sondern Symptom einer großen Verschiebung des politischen Koordinatensystems. Die Volksparteien müssen sich darauf einstellen und eine neue politische Mitte organisieren.

Wenn neue Parteien auftreten, wenn etablierte Großparteien massiv Stimmen verlieren, wenn jahrzehntealte Parteiensysteme sich dramatisch wandeln oder gar auflösen – „dann besteht Anlass zum Verdacht, dass wir es mit einer ganz großen strukturellen Veränderung der politischen Landschaft zu tun haben“.

Das setzte kürzlich der einst Münchner und jetzt Berliner Politikwissenschaftler Edgar Grande einer von der Hanns-Seidel-Stiftung versammelten kleinen Expertenrunde auseinander. Thema der Sitzung: „Neue politische Konfliktlinien – Auswirkungen auf Parteien, Demokratien und Zivilgesellschaft.“

Neue Konfliktlinie: Einwanderung und Identität

Eine neue große politische Hauptkonfliktlinie, sieht Grande, durchzieht nicht nur in Deutschland die politische Landschaft und verändert alles: Gesellschaft, Wählergruppen, Parteien, ganze Parteiensysteme.

Über 100 Jahre lang markierte die Spaltung in Links und Rechts den großen politischen Graben, prägte – und ordnete – Gesellschaften, Parteien, Parteiensysteme und Staaten. Nicht mehr. Das Links-Rechts-Schema aus der alten Industriegesellschaft habe seine Prägekraft verloren, analysiert er. Deutlichster Hinweis darauf: Alte linke, gar linksradikale Parteien verlieren massenhaft Wähler an sogenannte Rechtspopulisten, in Deutschland, in Frankreich oder in Italien.

An die Stelle der Links-Rechts-Spaltung der Gesellschaft ist ein ganz anderer Graben getreten. Er ist nicht wirtschaftlicher, sondern kulturell-identitärer Natur. Es geht um Identität, um Öffnung oder Schließung von Grenzen, Märkten, Gesellschaften, Ethnien oder Religionsgemeinschaften. Im Zentrum dieser neuen gesellschaftlichen Bruchlinie steht das große Thema Masseneinwanderung, Migranten und eben: Identität.

Das Parteiensystem sortiert sich neu

Die neue Bruchlinie ordnet Gesellschaft und Parteiensystem völlig neu. Hybride politische Organisationen und Bewegungsparteien machen etablierten Großparteien Konkurrenz: Podemos in Spanien, die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, Emmanuel Macrons La République En Marche (LRM) in Frankreich.

Neue Bürgerbewegungen treibt nicht mehr nur karitatives Engagement, sondern politischer Protest. Die einst unpolitische sogenannte Zivilgesellschaft politisiert sich. Was neue soziale Bewegungen produziert, plötzlich von rechts: Stichwort Pegida. Ganz bewusst, meint Politikwissenschaftler Grande, versuche etwa die AfD die Zivilgesellschaft zu vereinnahmen, um in bislang völlig unpolitische Vereine hineinzuwirken und von dort in die Gesellschaft.

Folgen für die Etablierten

Was heißt das alles für die etablierten Parteien? Die neue Konfliktlinie ordnet die Wählerschaft neu. Neue Wählergruppen entstehen, neue reale oder potentielle Gewinner und Verlierer. Dabei geht es eben nicht mehr – oder nicht mehr vorwiegend – um ökonomischen Gewinn und Verlust.

Die neue Konfliktlinie verläuft quer durch alle etablierten Parteien. Auch die Linkspartei zerlegt sich über dem Flüchtlingsthema. Sogar die Grünen streiten darüber: Das zeigt etwa der grüne Dauerkrach um den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer. Die SPD diskutiert das Thema gar nicht erst. Denn die Parteiführung weiß, dass es Partei und Parteibasis dann auch zerlegen würde.

Weil die neue gesellschaftliche Bruchlinie die etablierten Parteien durchzieht, wird es für sie schwerer, Wähler anzusprechen. Dafür droht die Gefahr, dass sich ganze Wählergruppen abkoppeln. Am meisten betroffen sind zwangsläufig gesellschaftlich breit aufgestellte Volksparteien.

Chance zur Neu-Aufstellung

Es steckt darin aber auch eine Chance für alle Parteien. Denn wo sich ganze Wählerschaften neu sortieren und ordnen, gibt es auch für die etablierten Parteien die Gelegenheit, sich neu aufzustellen und die Wählerbasis zu erweitern. Wo neue Wählergruppen entstehen, können auch die etablierten Parteien versuchen, diese an sich zu binden.

Die Neujustierung der politischen Koordinaten von Politik und Gesellschaft, meint Grande, „muss keine Einbahnstraße sein hin zur Radikalisierung durch linke und rechte Populismen“. Problem: „Die etablierten Parteien sehen die Entwicklung bislang nicht als Chance, sondern nur als Bedrohung.“

Suche nach der neuen politischen Mitte

Welche Abwehrstrategien bieten sich den etablierten Parteien an? Da wäre zum einen die Vermeidungsstrategie. Die alten Parteien können die neuen Themen und Konflikte schlicht vermeiden und unterdrücken. Problem: Das funktioniert nicht, wenn ein Thema für die Wähler besonders wichtig ist. Und  2017 waren für die Wähler „Einwanderung und Flüchtlinge“ das mit riesigem Abstand wichtigste Thema. Grande: „Da ist Vermeidung ein heroischer Akt.“

Zum anderen könnten etablierte Parteien versuchen, sich an Populisten und neue Parteien und Gruppen inhaltlich anzupassen. Problem: Das funktioniert nicht, wenn die Gräben zu tief sind, wenn maximale Distanz zu den Etablierten das Markenzeichen von AfD, Lega und M5S ist. Oder wenn bei ganzen Wählergruppen das Vertrauen in die Etablierten völlig erodiert ist. Die kommen dann nicht zurück, sondern gehen allenfalls gar nicht wählen. Außerdem kann die Annäherung an die Populisten moderate Wähler abschrecken.

Bleibt als dritte Möglichkeit das, was Grande den „Wettbewerb um eine neue politische Mitte“ nennt. Die etablierten Parteien müssen sich dafür auf die neue große Konfliktlinie politisch ausrichten und neu positionieren. Dann geht es darum, im neuen politischen Koordinatensystem eine neue Wählergruppe der Mitte zu binden und gleichzeitig Stammwähler zu halten. Grande: „Eine etablierte Partei, die da Erfolg haben will, muss einen neuen dritten Weg finden und zu ihrem Markenkern machen.“

Moderate Rechte in Schlüsselposition

Interessant: Linksparteien haben hier mit einem strukturellen Nachteil zu kämpfen. Im neuen politischen Koordinatensystem verlieren ihre sozialen und sozialliberalen Themen an Relevanz. Die Wähler interessieren sich immer weniger dafür. Konservative und bürgerliche Parteien dagegen stehen dem Thema kultureller Identität ohnehin näher. Die moderate Rechte könnte damit in eine Schlüsselstellung kommen. Grandes Prognose für das nächste Jahrzehnt: „Die Entwicklung des politischen Parteiensystems hängt entscheidend von der moderaten Rechten ab.“