Wirtschaftsmotor: Fertigung im Audi-Werk von Ingolstadt. (Foto: Picture alliance)
Reportage

Voll beschäftigt im Jobwunder

Der Landkreis Eichstätt glänzt mit der niedrigsten Arbeitslosenquote im Freistaat: 1,3 Prozent. Eigentlich wären die Leute vom Arbeitsamt arbeitslos. Doch die sogenannte Vollbeschäftigung hat nicht nur Licht, sondern auch Schattenseiten.

Morgens um halb 7 setzt sich Jürgen Croce vor seinem Häuschen in Gaimersheim ins Auto. Nur wenn er so früh losfährt, schafft er es noch vor dem ganz großen Berufsverkehrsirrsinn in zwanzig Minuten zur Arbeit – Kolonnen von Fahrzeugen auf der B13, Pendler in alle Richtungen, Lastwagen der Zulieferbetriebe aus Dutzenden Gewerbegebieten auf dem Weg zu den Audi-Werken am Nordrand von Ingolstadt. Auf dem Weg zum Jobcenter in Eichstätt, das Croce seit zwölf Jahren leitet, kann er aus dem Autofenster sehen, warum er eigentlich arbeitslos sein müsste. Nahezu alle in der Region haben einen Job – und sind schon in der Früh und wieder am Feierabend allesamt in Bewegung.

Entsprechend niedrig sind die Arbeitslosenquoten im Großraum. Landkreis Neuburg/Schrobenhausen: 1,8 Prozent. Kreis Pfaffenhofen: 1,5 Prozent. Selbst in den etwas weiter entfernten Kreisen Neumarkt und Donau-Ries: 1,6 respektive 1,7 Prozent. Aber am allerniedrigsten im Landkreis Eichstätt: 1,3 Prozent. „Der niedrigste Wert in ganz Deutschland. Deshalb sind wir auch das kleinste Jobcenter“, erklärt Croce mit amüsiertem Blick.

Eine ganze Region auf Achse

Der 58-jährige Veteran der Bundesanstalt für Arbeit hat gelernt, realistisch mit den Superlativen des Standorts umzugehen – nämlich mit humoriger Distanz zum vermeintlichen Wirtschaftswunderland im Altmühltal. Croce weiß, dass viele denken: Na, dann habt ihr auf dem Arbeitsamt ja wohl nichts mehr zu tun. „Aber uns geht die Arbeit nicht aus“, grinst der Jobcenter-Chef. Die sogenannte Vollbeschäftigung hat nicht nur Licht, sondern auch Schattenseiten. Nicht nur, dass der Verkehr, den Industriebetriebe und Pendlerhaushalte generieren, alles überrollt. Mehr als 63.000 Menschen fahren täglich aus den umliegenden Landkreisen nach Ingolstadt zur Arbeit, ein Drittel mehr als noch vor zehn Jahren. Allein 13.000 Arbeitnehmer aus Croces Beritt sind beim Autohersteller Audi beschäftigt. Die Media-Saturn-Gruppe sitzt in der Stadt, hinzu kommen die Gunvor-Raffinerie im Norden, Dutzende kleine und größere Mittelständler.

Das führt auch dazu, dass die Sitten der Unternehmen untereinander, die händeringend Personal suchen, verrohen. Regelmäßig beklagen sich Mittelständler bei Croce, weil die Großkonzerne ihnen mühsam ausgebildete Lehrlinge abwerben, sobald sie die Gesellenprüfung abgelegt haben. Auf 359 unbesetzte Lehrstellen kamen in Eichstätt zuletzt nur 80 unversorgte Bewerber. Und die Ansprüche an die gewünschten Mitarbeiter steigen im hochindustrialisierten Gebiet auf ein enormes Niveau. „Die wollen den fertigen Mann auf den Hof gestellt bekommen, und den nicht erst noch umständlich anlernen oder spezialisieren“, seufzt Croce.

Im Neubaugebiet „Am Anger“ in der Nähe des Eichstätter Bahnhofs parkt Croce den Wagen und läuft zu einem der Geschäftshäuser. In der Hausnummer 1, wo auch eine Kieferorthopädie-Praxis und ein Beauty-Salon ansässig sind, steigt er in den ersten Stock. Vergleichsweise schmucklos liegen dort die Räume des Jobcenters mit 27 Mitarbeitern. Kratziger Kunststoffteppich am Boden, Broschüren in den kleinen Regalen im Wartebereich, Hinweiszettel an den Bürotüren: „Wir verzichten auf das Händeschütteln“ – aus hygienischen Gründen.

Die klassischen Hilfsarbeiterjobs gibt es heute gar nicht mehr.

Jürgen Croce

Croce stapft in sein Büro am Ende des langen Ganges, fährt den Rechner hoch und schmeißt routiniert den gesamten Mantelteil des „Donaukurier“ weg, den er auf seinem Schreibtisch vorfindet. An der Lokalzeitung interessiert den Arbeitsprofi nur der Stellenmarkt. Er blättert, Papierrascheln, überfliegt die Seiten. Gesucht werden: Heizungsbaumeister, Bilanzbuchhalter, Außendienstler, Maschinenbediener, Erzieher, Maurer. Ein oder zwei Annoncen streicht er mit Kuli an. Aber er weiß genau, dass die Ansprüche der Firmen und die Ausbildung der Leute in seiner Kartei weit auseinanderklaffen. „Die klassischen Hilfsarbeiterjobs ,He, schaufel mir den Sandhaufen von hier nach da‘, die gibt es heute kaum mehr“, berichtet Croce.

Übrig bleiben auf dem leer gefegten Arbeitsmarkt rund um Ingolstadt vor allem Hartz-IV-Empfänger. „Manche sitzen seit vielen Jahren vor dem Fernseher. Das dauert lange, bis wir sie wieder für die Arbeitswelt aktivieren können“, sagt der Jobcenter-Leiter, der seit 39 Jahren für die Bundesanstalt arbeitet. Fast vier Jahrzehnte, in denen sich der Bayer einen milden, aber unverrückbaren Unglauben angesichts der Verhältnisse angeeignet hat. Seine pragmatische Skepsis ist eher noch gewachsen, je weiter sich der Freistaat Bayern und mit ihm der Landkreis Eichstätt in die Vollbeschäftigung entwickelt haben. Denn sie zeitigt in Croces Beritt kuriose Zustände: Weil kaum noch vermittelbare Arbeitslose übrig sind, steigt der Anteil der Hartzer – und unter ihnen sind mittlerweile 40 Prozent anerkannte Flüchtlinge. Der höchste Anteil in einem deutschen Jobcenter. „Gerade weil unser Arbeitsmarkt so toll läuft, haben sie uns mit besonders vielen beglückt“, lächelt Croce.

Doch an den Migranten verzweifeln seine Mitarbeiter noch mehr als an herkömmlichen Langzeitarbeitslosen. „Denen müssten wir erst mal das Betriebssystem Deutschland aufspielen“, meint der Arbeitsvermittler. So wenig ist deren Mentalität mit den Selbstverständlichkeiten einer deutschen 40-Stunden-Woche kompatibel. Gerade mal 40 der 540 Flüchtlinge konnte Croces Jobcenter 2017 in feste Anstellung bringen.

Betriebssystem Deutschland

Manche stehen schon nach wenigen Tagen wieder in der Amtsstube. So wie der syrische Lastwagenfahrer, dem die Kundenbetreuerin sogar einen deutschen Lkw-Führerschein finanzierte. Sobald er die Prüfung geschafft hatte, stellte ein Fuhrunternehmer aus der Region ihn ein. Und sobald der neue Brummi-Chauffeur den Motor angeworfen hatte, zog er auch schon wieder den Zündschlüssel. Bereits nach zwei Tagen erschien er nicht mehr zur Schicht. Croce zuckt mit den Schultern. „Der hat uns ganz empört erzählt, dass der Chef von ihm verlangt hätte, er müsse acht Stunden am Tag fahren“, erzählt er, „und am nächsten Tag schon wieder.“ Der Mann wollte lieber zurück in die Fahrschule, weil er dort nur eine Stunde ans Steuer sollte.

Nun suchen sie halt wieder einen neuen Job für den Syrer. Croce sitzt an diesem Tag sogar zehn Stunden im Büro. Die Öffnungszeiten seines Jobcenters enden zwar mittags, aber bis gegen 17 Uhr telefoniert er mit potenziellen Arbeitgebern, kümmert sich um die Schwierigkeiten von jungen Flüchtlingen, die er auf Lehrstellen vermittelt hat. „Die Jungen sind in der Ausbildung oft sehr engagiert, die Lehrherren loben sie sogar. Aber die Berufsschule schaffen viele mit schlechtem Deutsch halt nicht“, sagt er.

Der Jobcenter-Chef schaut noch mal in den Stellenmarkt des Lokalblatts. Leider kein Gesuch für einen Lasterfahrer drin heute. „Tja“, schnauft er. Bei aller Vollbeschäftigung im Freistaat bleiben er und seine Leute bis auf Weiteres – voll beschäftigt.