Bald macht sogar der Mathematikunterricht Spaß – geht es nach den jüngsten Empfehlungen des Aktionsrats Bildung können sich die Schüler hierzulande in naher Zukunft auf mehr Freude beim unbeliebten Wurzelziehen und Quadrieren einstellen. „Handlungsbedarf in der Unterstützung von Freude und Interesse“ sieht das zehnköpfige Expertengremium um dessen Vorsitzenden Professor Dieter Lenzen, Präsident der Hochschule Hamburg, gerade im Fach Mathematik. Dies gelte insbesondere für Mädchen, die häufig regelrecht Angst vor dem Fach entwickelten und ihre Rechenfähigkeiten oftmals schlechter beurteilten, als sie es tatsächlich seien.
Keine Begeisterung für Mathematik
Alarmierend ist für die Autoren des Gutachtens „Bildung. Mehr als Fachlichkeit“ insbesondere auch, dass sich selbst viele Jugendliche mit ausgezeichneten Leistungen in Mathematik nicht für das Fach begeistern könnten, wie Untersuchungen zeigten. Doch es gibt auch positive Entwicklungen: Mit Blick auf das Leseverhalten konstatieren die Bildungsexperten, dass im Vergleich zu 2001, wo fast jeder fünfte Schüler angab, freiwillig niemals ein Buch in die Hand zu nehmen, dies heute nur noch gut jeder zehnte sage. Dies sei ein Erfolg der Leseprogramme, die in den vergangenen Jahren ins Leben gerufen wurden. Allerdings müsse die Lesekompetenz der Jungen noch weiter gestärkt werden.
Überhaupt fordert das Gutachten eine „geschlechtsspezifische Förderung“ in vielerlei Hinsicht bereits in der Grundschule. Dort würden wichtige Weichen für die Zukunft der Schüler gestellt. Hier bestehe noch die Möglichkeit, „herkunftsspezifische und kulturell bedingte Benachteiligungen auszugleichen“. Denn nicht nur beim Lesen oder Rechnen, sondern auch bei wichtigen sozialen Kompetenzen würden sich Jungen und Mädchen erheblich voneinander unterscheiden. Mangele es Schülerinnen oftmals an Durchsetzungsvermögen, gebe es bei Jungen häufiger Probleme im Sozialverhalten.
Mehr Ganztagsschule
Schon die ABC-Schützen müssen sich, insofern die Anregungen des von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) 2005 ins Leben gerufenen Expertengremiums Eingang in die Lehrpläne hierzulande finden, auf deutlich mehr Präsenz im Klassenzimmer einstellen. Bereits in der Grundschule müsse man das Modell der Ganztagsschule nutzen, um mehrdimensionale Kompetenzen gezielt zu fördern. Erforderlich sei ebenfalls ein Heranführen an einen reflektierten und effektiven Umgang mit neuen Medien. Die Medienkompetenz der deutschen Schüler sei völlig unzureichend. Zwar seien deutsche Schulen im Vergleich zu anderen Ländern bereits gut mit Computern ausgestattet, doch würde die Technik noch viel zu wenig eingesetzt.
„Verhaltenssicherheit und die Kompetenz zur Lebensgestaltung werden immer wichtiger. Aus diesem Grund wollen wir eine Diskussion anstoßen und Empfehlungen für die Umsetzung mehrdimensionaler Bildung vorlegen“, sagte Professor Dieter Lenzen bei der Vorstellung des Gutachtens in München. Das Bildungssystem müsse dieses Thema stärker als bislang in den Fokus nehmen und sich auf seinen erweiterten Auftrag einstellen.
Die Förderung von musischen Fähigkeiten genauso wie von interkulturellen, politischen und sozialen Kompetenzen, von Charakterstärke oder Selbstdisziplin, solle neben Deutsch, Mathematik, Chemie und Biologie vom Kindergarten bis zur Universität eine weitaus wichtigere Rolle spielen, als bisher. Nach dem Motto, „nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“. Deshalb brauche es auch ein breites Spektrum an Lernmethoden, wie Projekttage und außerschulische Bildungsgelegenheiten, etwa in Vereinen.
Bessere Lehrerbildung
Anders als in vorangegangenen Gutachten, steht im aktuellen nun nicht vorrangig die Forderung nach mehr Geld für mehr Lehrer im Mittelpunkt, sondern etwas weitaus Substanzielleres: eine stetige Weiterentwicklung von deren eigener Persönlichkeit und Kompetenz. Eine Forderung, die für Christoph Zander nur logisch ist.
„Ob ein Unterricht attraktiv und gut ist, hängt nicht nur vom Fachwissen ab, sondern insbesondere auch davon, ob der Lehrer eine Persönlichkeit darstellt“, sagt der bayerische Landesschülersprecher der Fachober- und Berufsoberschulen. Die Bildungsexperten kritisieren darüber hinaus den oft ohnehin problematischen Umstand, dass Lehrende oft die Schülerleistungen entsprechend dem Verhalten entweder zu gut oder zu negativ bewerteten. Angemahnt wird deshalb eine Sensibilisierung der Lehrkräfte durch entsprechende Aus- und Weiterbildung.
Persönlichkeiten mit ausgeprägten Kompetenzen, wie Teamfähigkeit, Bereitschaft für lebenslanges Lernen oder interkulturelle Kompetenz, seien es auch, die seitens der Arbeitgeber „auf dem Weg zur Arbeitswelt 4.0“ gesucht werden, sagt Alfred Gaffal, Präsident der vbw. „Bildung ist mehr als Fachwissen. Wir müssen das Lehrpersonal in Bildungsinstitutionen und das Führungspersonal in Unternehmen in der Beurteilung von überfachlichen Kompetenzen eingehend schulen.“ Denn nur wenn bestehende mehrdimensionale Kompetenzen und Defizite als solche erkannt würden, könnten diese durch spezielle Fördermaßnahmen weiterentwickelt und ausgeglichen werden. „Und wir müssen die Ganztagsschulen nutzen, um mehrdimensionale Kompetenzen gezielt zu fördern. Hiermit kann Bayern seine Vorreiterrolle in der Bildungspolitik erneut unter Beweis stellen“, so Gaffal weiter.
Das Aus für die „Wissensmast“?
Mit der „Wissensmast“, über die viele Studierenden klagen, wäre es nach dem Willen der Bildungsexperten ebenfalls bald vorbei. Nur starke Persönlichkeiten brächten Forschung, Politik und Gesellschaft nach vorne. Demnach gelte es, Wissen nicht nur anzuhäufen, sondern auch die Fähigkeit zu erlangen, dieses hinterfragen und einordnen zu können. Mit Blick auf die Internationalisierung der Bildung wird eine Reform der Studienstruktur dahingehend gefordert, dass etwa Auslandsaufenthalte besser integriert werden können.
Es fehlen Courage, Neugier und Unternehmertum
Die Spezialisierung und Verschulung des Studiums werde zu weit getrieben, so dass sich nicht einmal mehr jeder vierte Bachelorabsolvent ausreichend auf das Berufsleben vorbereitet fühle. Das, klagen die Autoren des Gutachtens, sähen die Unternehmen genauso. Courage, Neugierde und Unternehmertum gehörten nicht zu dem, was junge Bachelor- und Masterstudenten mitbrächten.
Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.
Artikel 131 Absatz 1 Bayerische Verfassung
„Nicht nur Mathematik, Deutsch und Englisch sind relevant. Moralische, interkulturelle oder soziale Kompetenzen sind auch aus Sicht der Arbeitgeber unverzichtbar“, sagt Alfred Gaffal. Ganzheitliche Bildung sei Voraussetzung für ein erfolgreiches Erwerbsleben, Schutz vor Arbeitslosigkeit und damit die beste Sozialpolitik, die Deutschland haben könne. Auch in der beruflichen Aus- und Weiterbildung gilt: moralische und politische Kompetenzen müssen künftig stärker als bislang gefördert werden, so der Appell der Wissenschaftler.
Neue Technologien, wirtschaftlicher Strukturwandel und die wachsende demografische Lücke verändern die Arbeitswelt. Die Folge sind stetig steigende Anforderungen für die nachfolgenden Generationen. Eine ganzheitlichere Bildung kann nicht nur auf dem Weg zur „Arbeitswelt 4.0“ sicherlich nicht schaden.