So ähnlich sollten die Time-out-Räume aussehen: Kriseninterventionsraum in einer Klinik für Forensische Psychiatrie in Dortmund. (Bild: Ímago/Friedrich Stark)
Kinderheime

Zehn Punkte gegen Mängel

In der Hälfte aller Heime für behinderte Kinder und Jugendliche in Bayern gibt es sogenannte "freiheitsbeschränkende Maßnahmen". Das geht aus einem Bericht hervor, den Sozialministerin Emilia Müller am Donnerstag in München vorgestellt hat. Das trifft aber nur auf ein Prozent der 4000 Kinder und Jugendlichen in 104 stationären Einrichtungen zu.

Unter „freiheitsbeschränkende Maßnahmen“ fallen vergitterte Betten oder – in knapp 20 Prozent der Einrichtungen – auch Time-Out-Räume, in die Kinder und Jugendliche gebracht und in denen sie in einigen Fällen auch eingeschlossen werden. Die Ministerin betonte, dass nahezu alle Maßnahmen getroffen worden seien, um das jeweilige Kind oder andere zu schützen. Daher seien sie gerechtfertigt gewesen. Sieben „gravierende Mängel“ seien festgestellt und sofort behoben worden.

Das Ministerium war im April von einem Bericht des Bayerischen Rundfunks über eingeschlossene Kinder und Jugendliche in bayerischen Heimen aufgeschreckt worden und hatte alle Einrichtungen überprüft. Mit einem Zehn-Punkte-Plan soll die Situation nun weiter verbessert werden. So sollen Eltern beispielsweise stärker einbezogen werden.

Wir stärken Eltern und Kinder, verschärfen die Kontrollen und schaffen neue Beschwerdestellen!

Emilia Müller

„Die stationären Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung werden in Bayern gut geführt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten dort eine wertvolle und unverzichtbare Arbeit. Unsere intensiven Nachforschungen haben dennoch sieben gravierende Verstöße bei der Anwendung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen zu Tage gefördert. Diese haben wir umgehend abgestellt, denn jeder Verstoß ist einer zu viel“, so fasste Bayerns Sozialministerin Emilia Müller das Ergebnis der Überprüfung aller 104 Einrichtungen im Freistaat zusammen.

Expertenrunde unterstützte das Ministerium

Nach den BR-Berichten über den Umgang mit freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in stationären Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung hatte die Ministerin sofort reagiert und neben der Überprüfung eine Expertenrunde einberufen. Ihr gehören Vertreter der Staatsregierung, die Behindertenbeauftragte, Vertreterinnen und Vertreter der Aufsichten der Regierungen, der Familienverbände, der einschlägigen Fachverbände der Behindertenhilfe, der Einrichtungsträger, der Kostenträger und der Wissenschaft an. „Wir haben die Ergebnisse der Überprüfungen und die Erkenntnisse aus der Expertenrunde zusammengeführt. Daraus ist unser 10 Punkte-Plan entstanden. Das Ziel: wir werden den Einsatz von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen noch effektiver auf das unabdingbare Maß beschränken. Denn freiheitsbeschränkende Maßnahmen müssen stets das letzte Mittel sein“, so die Ministerin weiter. Der Plan umfasst unter anderem mehr Beteiligung der Eltern, die Schaffung neuer Beschwerdestellen und schärfere Kontrollen.

Der 10-Punkte-Plan

  1. Elternbeteiligung wird gestärkt: In allen Einrichtungen wird es Beiräte oder Sprecher der Eltern bzw. Sorgeberechtigten geben, die die Träger der Einrichtungen beraten. Die Zusammenarbeit mit den Eltern soll von Offenheit und gegenseitigem Vertrauen bestimmt sein.
  2. Beratungs- und Beschwerdestellen werden geschaffen: Bei den Regierungen werden Beratungs- und Beschwerdestellen geschaffen, an die sich Eltern wenden können. Daneben steht auch als unabhängige Beratungs- und Beschwerdestelle die Behindertenbeauftragte der Staatsregierung zur Verfügung.
  3. Beteiligung der Kinder und Jugendlichen wird gestärkt: Kinder und Jugendliche mit Behinderung sind bei Entscheidungen über freiheitsbeschränkende Maßnahmen zu beteiligen. Bei vor Ort-Kontrollen durch die Aufsichtsbehörden sind sie mit einzubeziehen.
  4. Richtervorbehalt bei unterbringungsähnlichen Maßnahmen: Bayern wird sich auf Bundesebene für die Prüfung der Einführung eines Richtervorbehalts als letztes Mittel einsetzen. Bisher bedürfen unterbringungsähnliche Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen in Behinderteneinrichtungen keiner gerichtlichen Genehmigung. Dies betrifft gerade auch Maßnahmen, die in ihrer Wirkung einer Freiheitsentziehung vergleichbar sind, weil sie über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig angewendet werden sollen.
  5. Heimrichtlinien werden überarbeitet: Die bestehenden Heimrichtlinien für Heilpädagogische Tagesstätten, Heime und sonstige Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung werden überarbeitet. Sie werden um verbindliche fachliche Empfehlungen zum Umgang mit freiheitsbeschränkenden Maßnahmen sowie die Beteiligung von Eltern und ihren Kindern ergänzt.
  6. Fachliche Empfehlungen: Heimaufsicht, Träger der Einrichtungen und Bezirke werden unter Berücksichtigung der Arbeitsergebnisse der Expertenrunde bis Ende des Jahres 2016 Empfehlungen zum Umgang mit freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in Einrichtungen der Behindertenhilfe vorlegen. Ziel ist es, freiheitsbeschränkende Maßnahmen auf das absolut notwendige Maß zu beschränken, die Entscheidungen nachvollziehbar zu machen und ihre qualitativ hochwertige und menschliche Ausführung sicherzustellen.
  7. Fortbildung der Beschäftigten wird verstärkt: Neue Mitarbeiter müssen durch die Träger der Einrichtungen auf die rechtlichen Grundlagen, auf Strategien der Vermeidung und eine korrekte Anwendung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen vorbereitet, bestehendes Personal muss darin geschult werden.
  8. Prüfungen durch die Heimaufsicht werden verstärkt: Die Heimaufsicht wird die Umsetzung der fachlichen Empfehlungen eng begleiten. Dabei wird sie auch stichprobenartige Prüfungen vor Ort – auch unangemeldet – durchführen.
  9. Berichtspflicht der Heimaufsicht: Die Heimaufsicht wird dem Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration jährlich einen Bericht über die Anwendung freiheitsbeschränkender Maßnahmen in den Einrichtungen der Behindertenhilfe vorlegen.
  10. Wissenschaftliche Evaluation: Das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration wird die Umsetzung der Maßnahmen wissenschaftlich evaluieren lassen.