Nach den Ausschreitungen in der Silvesternacht am Hauptbahnhof Köln mit Raub und sexuellen Übergriffen auf Frauen verstärkt die Kölner Polizei ihre Präsenz in der Innenstadt rund um den Bahnhof und der Domplatte am Dom. (Bild: Imago/Ralph Peters)
Köln

Nichts gehört, nichts gewusst

Nordrhein-Westfalens SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft weist im Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtags jede Verantwortung für die massenhaften Übergriffe der Silvesternacht von sich. Von den Gewalttaten will sie erst Tage später erfahren haben - ganz anders als viele hunderttausend Bürger in ihrem Land.

Schuld, das ist nach diesem Auftritt klar, Schuld sind für Hannelore Kraft immer die anderen. Drei Stunden musste Nordrhein-Westfalens SPD-Ministerpräsidentin im Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtags zu den Vorfällen der Silvesternacht in Köln Stellung nehmen. Damals waren rund um den Hauptbahnhof unter den Augen der Polizei Hunderte Frauen von überwiegend nordafrikanischen Männergruppen eingekesselt, beraubt und sexuell bedrängt worden. Es soll auch Vergewaltigungen gegeben haben.

Die Staatsanwaltschaft zählt ein halbes Jahr nach den Ausschreitungen inzwischen 1190 Strafanzeigen, davon 500 wegen sexueller Übergriffe. Unter den 204 Beschuldigten bildeten Algerier und Marokkaner mit zusammen 116 Verdächtigen die größte Gruppe. Auch gegen 55 Jugendliche oder Heranwachsende liefen Ermittlungsverfahren. Erste Täter wurden verurteilt.

Gewalttätige Antänzer

Seit den Übergriffen steht Kraft massiv unter Druck und auch ihr Innenminister Ralf Jäger ist von der Opposition mehrfach zum Rücktritt aufgefordert worden. Vor allem ihm wird der gescheiterte Polizeieinsatz in der Silvesternacht vorgeworfen. So hatte sich, wie die Rheinische Post berichtet, bereits seit 2013 ein Kölner Kommissariat mit den vielen tausend Straftaten der nordafrikanischen Antänzer-Szene befasst. Diese Täter seien auch für die meisten Straftaten in der Silvesternacht verantwortlich gewesen. Ihre erhebliche Gewaltbereitschaft sei schon vor der Silvesternacht bekannt gewesen. Dennoch sei in Köln das Sicherheitskonzept für die Silvesterfeiern nicht angepasst worden.

Zudem habe die Polizei die Lage vor dem Hauptbahnhof nicht in den Griff bekommen. So bemerkte Berichten zufolge bereits um 20.30 Uhr ein Polizeiführer 400 bis 500 berauschte Männer am Dom, die einander mit Feuerwerk beschossen. Aber noch um 23 Uhr, als schon 1500 Menschen auf dem Platz standen und die Situation eskalierte, sei die Polizei nur mit 38 Beamten präsent gewesen. Am nächsten Tag hatte die Kölner Polizei in einer Pressemeldung von einem weitgehend friedlichen Verlauf der Silvesterfeierlichkeiten berichtet.

Die rot-grüne Regierung schweigt

Erst vier Tage nach den Übergriffen äußerte sich die rot-grüne Landesregierung dazu, erst am fünften Tag gab Kraft eine schriftliche Erklärung ab. Darin kündigte sie unter anderem ein „konsequentes Vorgehen“ gegen „Männer-Banden“ an. Bis heute hat sie nach eigenen Angaben keinen Kontakt zu den betroffenen Frauen gesucht, lediglich eine habe sie in einer Talkshow getroffen.

Die Onlinemedien hätten ja auch die Chance gehabt, beim Regierungssprecher nachzufragen.

Hannelore Kraft

Schuld an dem tagelangen Schweigen sind für Hannelore Kraft unter anderem die regionalen Online-Medien. Tagelang hatten sie über die Silvesternacht auf der Kölner Domplatte berichtet. 1,6 Millionen Menschen, so schreibt die Rheinische Post, hätten die Artikel gelesen, nur in der NRW-Regierung sind sie angeblich niemandem aufgefallen. So schildert es zumindest Kraft. Es sei schließlich nicht möglich, erklärte sie, „sämtliche Online-Medien, auch regionale Medien, laufend zu verfolgen.“ Darüber hinaus habe es in den ersten Tagen auch keine Anfragen von Medienvertretern gegeben. „Die Onlinemedien hätten ja auch die Chance gehabt, beim Regierungssprecher nachzufragen.“

Die CDU-Obfrau im Untersuchungsausschuss, Ina Scharrenbach, wollte diese Aussage so nicht stehen lassen: Es sei doch Aufgabe der Staatskanzlei, so Scharrenbach, sich anbahnende Ereignisse auch durch Medienauswertung zu erkennen. Krafts Regierungssprecher und die Amtschefin der Staatskanzlei hatten zudem bereits am Mittag des Neujahrstages die polizeiinterne Meldung erhalten, in der von elf Übergriffen und einer Vergewaltigung die Rede ist.

Kraft war im Urlaub

Kraft wies dennoch alle Vorwürfe zurück, ihre Regierung habe zu spät reagiert. Sie sei bis 4. Januar in Urlaub gewesen und sei auch nicht im Verteiler der Wochenend-Meldungen gestanden. „Aber wenn ich es gewesen wäre, hätten sie mich bis zum 4. Januar auch nicht alarmiert“, so das überraschende Eingeständnis der Ministerpräsidentin.

Es wurde – und es wird auch – nichts unter den Teppich gekehrt oder vertuscht.

Hannelore Kraft

Die Dimension der Übergriffe habe sich für die Landesregierung erst im Laufe des 4. Januar abgezeichnet, sagte Kraft im Untersuchungsausschuss. Sie selbst habe erst durch einen Artikel im Kölner Stadt-Anzeiger am Montag, 4. Januar, von den Ereignissen der Silvesternacht erfahren, erklärte Kraft. Am Mittag desselben Tages habe sie dazu mit NRW-Innenminister Ralf Jäger telefoniert. Sie habe mit ihm vereinbart, dass er sich noch am selben Tag dazu äußere. Am Dienstag, 5. Januar, sei sie aufgrund einer Anfrage des Kölner Stadt-Anzeiger erstmals „mit einem Statement nach draußen gegangen“.

Ganz ähnlich hatten zuvor bereits Innenminister Jäger, Regierungssprecher Thomas Breustedt und Staatskanzlei-Chef Franz-Josef Lersch-Mense ausgesagt. Auch sie seien nicht informiert worden, hätten nichts gewusst und erfahren. Es sei nichts verheimlicht worden, erklärte dann auch die Regierungschefin in ihrer Aussage. „Es wurde – und es wird auch – nichts unter den Teppich gekehrt oder vertuscht“, versicherte die SPD-Politikerin. Auch auf die mögliche Herkunft der Täter habe Innenminister Jäger bereits früh hingewiesen.

Fehler in der „Kommunikation“

Gleich mehrere Fehler gemacht hat nach Krafts Aussage aber die Kölner Polizei: Es habe „Planungs- und Einsatzdefizite“ wie auch Versäumnisse bei der Kommunikation während und nach den Vorfällen gegeben. Kölns Polizeipräsident Wolfgang Albers war am 8. Januar bereits in den Ruhestand geschickt worden. Kraft sprach jetzt von „mehreren Fehlerdimensionen“, die aufgearbeitet werden müssten.

Einen persönlichen Fehler hat Hannelore Kraft dann doch noch eingeräumt: einen Kommunikationsfehler. Sie hätte sich früher zu den Vorfällen äußern sollen, sagte sie. Und das nicht nur schriftlich.