Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. (Bild: Imago/Xinhua)
Armenien-Resolution

Der beleidigte Sultan

Der Bundestag hat mit überwältigender Mehrheit die Resolution zum Völkermord des Osmanischen Reiches an 1,5 Millionen Armeniern 1915 angenommen. Daraufhin reagierte die türkische Regierung unter „Sultan“ Recep Tayyip Erdogan wie erwartet: Sie will den Botschafter aus Berlin vorläufig abziehen. Im "schlimmsten" Fall könnte die Türkei sogar das Flüchtlingsabkommen mit der EU aussetzen.

Ungeachtet scharfer Proteste der Türkei hat der Deutsche Bundestag die Massaker des Osmanischen Reiches an den Armeniern vor 101 Jahren beinah einstimmig als „Völkermord“ verurteilt. Die Türkei unter dem nationalistisch-islamistischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der sich selbst eher als eine Art Sultan sieht, reagiert beleidigt und will ihren Botschafter aus Berlin abberufen.

Der gemeinsam von Union, SPD und Grünen eingebrachte Antrag wurde bei nur einer Gegenstimme und einer Enthaltung angenommen, wie Bundestagspräsident Norbert Lammert nach gut einstündiger Aussprache bekanntgab. Redner aller Fraktionen betonten in der Debatte, die Resolution solle die Türkei nicht an den Pranger stellen. Sie hoben eine historische Mitschuld des Deutschen Reiches hervor, das im Ersten Weltkrieg mit dem Osmanischen Reich verbündet war. Half alles nichts: Kurz nach dem Parlamentsbeschluss kündigte die türkische Regierung aber an, ihren Botschafter aus Berlin zurückzurufen.

Türkei verleugnet eigene Verantwortung

Lammert hatte zum Auftakt der Debatte betont: „Die heutige Regierung in der Türkei ist nicht verantwortlich für das, was vor 100 Jahren geschah, aber sie ist mitverantwortlich für das, was daraus in Zukunft wird.“ Bei Massakern, Massenmorden, Massenvergewaltigungen und Deportationen von Armeniern waren 1915 nach Schätzungen bis zu 1,5 Millionen Angehörige der christlichen Minderheit ums Leben gekommen.

Lammert betonte, der Bundestag wolle unbequemen Fragen nicht aus dem Weg gehen. Drohungen vor allem gegen türkischstämmige Abgeordnete verurteilte er scharf. Solche Versuche, die freie Meinungsbildung des Parlaments zu verhindern, seien inakzeptabel. „Wir werden sie nicht hinnehmen und uns ganz gewiss von ihnen nicht einschüchtern lassen.“

Null und nichtig.

Numan Kurtulmus, Regierungssprecher, über die Resolution

Die Türkei lehnt die Einstufung der Massaker als Völkermord strikt ab. Als unmittelbare Reaktion auf die Bundestags-Resolution kündigte Ministerpräsident Binali Yildirim laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu an, den türkischen Botschafter zu Konsultationen nach Ankara zu rufen. Außerdem wurde der Geschäftsträger der deutschen Botschaft ins türkische Außenministerium einbestellt. Die Türkei hatte bereits zuvor deutlich vor einer Beeinträchtigung der Beziehungen gewarnt. Vizeministerpräsident und Regierungssprecher Numan Kurtulmus nannte die Völkermord-Resolution „null und nichtig“.

Türken und Armenier zur Aussöhnung ermuntern

Unionsfraktionsvize Franz Josef Jung (CDU) versicherte, mit dem Beschluss solle die Türkei nicht auf die Anklagebank gesetzt werden. Grünen-Chef Cem Özdemir, dessen Eltern aus Anatolien stammen, sagte in der Debatte, bei der Aufarbeitung gehe es auch um ein Stück deutscher Geschichte. Daher sei es eine „historische Verpflichtung“, Armenier und Türken aus Freundschaft zur Versöhnung zu ermuntern, betonte er mit Blick auf das Deutsche Reich als militärischer Verbündeter des damaligen Osmanischen Reiches.

Der SPD-Außenpolitiker Rolf Mützenich sagte mit Blick auf den türkischen Staatspräsidenten: „Gegenstand der Debatte ist der Völkermord an den Armeniern und nicht die Beurteilung Präsident Erdogans.“ Gregor Gysi von der Linken sagte dennoch angesichts des Flüchtlingskurses der Bundesregierung: „Es demütigt uns alle, dass die Bundeskanzlerin zu all diesen Menschenrechtsverletzungen mehr schweigt als spricht, sich bei Präsident Erdogan eher anbiedert.“

Regierungsspitze blieb Abstimmung fern

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte zuvor ihre Unterstützung für den Armenier-Antrag erkennen lassen, nahm aber nicht an Debatte und Abstimmung teil. Bei einer späteren Pressekonferenz hob sie die freundschaftlichen und strategischen deutsch-türkischen Beziehungen hervor. Auch Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) waren nicht im Plenarsaal.

Harsche Reaktionen in der Türkei

Die Völkermordresolution des Bundestages wird nach den Worten des türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim nicht zu einem völligen Bruch in den deutsch-türkischen Beziehungen führen. „Deutschland und die Türkei sind sehr wichtige Bündnispartner“, sagte Yildirim nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu in Ankara. „Niemand soll erwarten, dass sich mit dieser und mit ähnlichen Entscheidungen plötzlich unsere Beziehungen zu Deutschland vollständig verschlechtern.“ Natürlich werde die Türkei aber auf die Resolution reagieren.

Unser Waffenbruder ist uns in den Rücken gefallen.

Sabah

Auch löste die Annahme der Völkermord-Resolution in der Türkei ein gewaltiges, fast hysterisches und erwartbar einseitiges Presseecho aus. Auch wenn mittlerweile fast 30 Länder die Massaker an den Armeniern als Völkermord einstufen, tut das deutsche Votum besonders weh. Regierungsnahe Zeitungen, also nach den jüngsten Attacken Erdogans auf türkische Medien eigentlich alle, laufen einhellig Sturm gegen die Resolution. Auch von den letzten kritischen Medien wird sie hart verurteilt. Die Zeitung „Sabah“ – die Positionen der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP wiedergibt – erschien mit Blick auf das Bündnis zwischen Deutschland und dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg mit der Schlagzeile: „Unser Waffenbruder ist uns in den Rücken gefallen.“ Zu der Bundestags-Entscheidung meinte das Blatt: „Dadurch ist die Schicksalsgemeinschaft, die im Ersten Weltkrieg begonnen hat, Geschichte. (…) Unsere Soldaten haben ihr Leben offenbar umsonst für Deutschland gegeben.“

Völkermord an der Freundschaft.

Hürriyet

Die einstmals AKP-kritische Zeitung „Hürriyet„, die sich in den vergangenen Monaten Regierungspositionen angenähert hat, trug vor einem Foto des Bundestags die Schlagzeile: „Schande über Euch.“ Weiter heißt es: „Der Bundestag hat die Resolution zum Armenier-Genozid angenommen, die eine tiefe Wunde in die jahrhundertealten Beziehungen zur Türkei reißen wird.“ Im Innenteil schrieb das Blatt gar vom „Völkermord an der Freundschaft“.

Hitlers Enkel haben die Türkei des Genozids bezichtigt.

Sözcü

Die AKP-feindliche und stramm kemalistische Zeitung „Sözcü“ druckte eine Fotomontage von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem üblichen Hitlerbart und in einer Nazi-Uniform vor einer Hakenkreuzflagge. Das Blatt titelt auf Deutsch: „Schämen Sie sich!“. Sözcü kritisiert: „Hitlers Enkel haben die Türkei des Genozids bezichtigt. (…) Deutschland, das im Zweiten Weltkrieg Völkermord begangen hat, indem es sechs Millionen Juden massakriert hat, und das mit Waffenlieferungen an die PKK den Weg dafür bereitet hat, dass unsere Kinder zu Märtyrern werden, hat den sogenannten armenischen Genozid ratifiziert…WIR SIND WÜTEND“.

Die Einsamkeit von 1915.

Cumhuriyet

Die regierungskritische Zeitung „Cumhuriyet“ wählte dagegen eine nüchterne Schlagzeile. „Die Einsamkeit von 1915“ schreibt das Blatt in Anspielung auf die zunehmende Isolation der Türkei in der Völkermorddebatte. „Die AKP und (Präsident Recep Tayyip) Erdogan haben einen weiteren Diplomatie-Krieg verloren“.

Armenien dankt, Cameron watscht Türkei ab

Nach der Bundestagsresolution zum Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg haben sich dagegen Dutzende Menschen in der Südkaukasusrepublik bei Deutschland bedankt. Mehr als 100 überwiegend junge Armenier kamen gestern Abend vor die deutsche Botschaft in der Hauptstadt Eriwan zu einer Freuden-Demonstration. Auf Plakate schrieben sie „Danke“. Bei der Verfolgung der Armenier wurden 1915 bis zu 1,5 Millionen Menschen getötet.

Es gibt keine Aussichten, dass die Türkei der EU in Jahrzehnten beitritt.

David Cameron

Der britische Premierminister David Cameron hat dem türkischen Wunsch nach einem EU-Beitritt unterdessen eine klare Absage erteilt. „Es gibt keine Aussichten, dass die Türkei der EU in Jahrzehnten beitritt“, sagte er in einem Interview von Sky News zum britischen EU-Referendum. Dennoch müsse die EU in der Flüchtlingsfrage mit der Regierung in Ankara zusammenarbeiten, fügte er hinzu.

(dpa/wog/avd)