Bayernkurier: Herr Radwan, Sie sind Anfang Februar nach Ägypten gereist: Bevölkerungsexplosion, Armut, Arbeitslosigkeit – müssen wir befürchten, dass sich jetzt auch 88 Millionen Ägypter über die Balkanroute auf den Weg zu uns machen?
Alexander Radwan: Ob es die Balkanroute sein wird, lasse ich mal offen. Aber Ägypten wird als Ausgangspunkt für Flüchtlinge stärker in den Fokus rücken. Das Land hat selber sehr viele Flüchtlinge aufgenommen: Etwa 130.000 Syrer. Darüber hinaus sagen die Ägypter offiziell: Wir haben fünf Millionen Flüchtlinge aus Afrika, die hauptsächlich über den Sudan gekommen sind. Den Weg wählen jetzt auch immer mehr Syrer, die nicht mehr direkt einreisen dürfen. Es gibt also einen Flüchtlingsdruck in Ägypten. Ich gehe davon aus, dass die Schlepper beginnen, in Ägypten Werbung zu machen, wenn Marokko, Algerien und Tunesien sichere Herkunftsstaaten werden. Die wollen nur Geld. Wenn die Schlepper anfangen zu sagen: „Kommt zum besseren Leben nach Deutschland“ – dann wird sich die Situation verschärfen. Wenn Ägypten nicht politische und sicherheitspolitische Stabilität aufrechterhält und die Menschen eine ökonomische Perspektive bekommen, kann das auch zum Problem für uns werden.
Bayernkurier: Vor fünf Jahren haben die Ägypter Mubarak gestürzt. Jetzt haben sie General Al-Sisi als Präsidenten und eher noch mehr Unterdrückung – eine gestohlene Revolution?
Radwan: Wir, Deutschland, Europa und der Westen, haben die Ursachen für die Revolution völlig falsch analysiert. Mubarak ging, Mursi kam; Mursi ging, Al-Sisi kam – letztlich geht es für die Menschen vor Ort primär um eines: Wie bekomme ich für mich und meine Familie eine Perspektive? Die Bevölkerung hat sich einfach vom Mubarak-Regime ausgenutzt gefühlt: Akademiker, die Taxi fahren, Arbeitslose − das war die Ursache. Der damalige Außenminister Guido Westerwelle hat 2011 in einer Rede in Kairo über Demokratie und Rechtstaatlichkeit gesprochen – das war eine falsche Analyse. Auf der einen Seite geht es in Ägypten um Stabilität, auf der anderen um den internen Kampf zwischen dem Regime und den Moslembrüdern. Wir sollten die Moslembrüder so sehen, wie sie sind. Hatten sie wirklich einen demokratischen Rechtstaat zum Ziel?
Bayernkurier: Wer einen Diktator stürzt, ist darum noch lange kein Demokrat.
Radwan: Ja. Was da passiert ist, war nicht der Übergang in eine demokratische Struktur. Aber es hätte auch noch schlimmer kommen können. Schauen Sie sich Irak, Syrien oder Libyen an. Keiner hätte sich vorstellen können, dass da Despoten in die Wüste geschickt werden – und dass dann alles noch schlimmer wird. Aber genau das ist eingetreten.
Bayernkurier: Statt Diktatur Chaos.
Radwan: Anarchie, Terror, Chaos.
Wie kann es sein, dass alle Menschen in der Welt sich vor unserer Religion fürchten?
Ägyptens Präsident Al-Sisi
Bayernkurier: Hat für die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz Demokratie überhaupt je eine Rolle gespielt?
Radwan: Es kommt auf die Leute, auf die gesellschaftliche Schicht, an. Ich will nicht sagen, dass alle Ägypter undemokratisch sind. Viele junge Leute hatten diese Ideale. Die Bewegung wurde dann aber von anderen übernommen. Kairo, Alexandria, die Metropolen − da wird über Demokratie und Parlament geredet. Aber es gibt viele Menschen auf dem Land, im Nildelta, die Analphabeten sind, die gar nichts mit Demokratie in unserem Sinne anfangen können. Den Menschen geht es erst einmal darum, wie sie zukünftig leben können. Ägypten hat heute etwa 90 Millionen Einwohner. Schätzungen zufolge werden es alle acht Monate über eine Million mehr. Jetzt können sie hochrechnen, wie viele Einwohner das Land in 2050 haben wird.
Bayernkurier: 1950 waren es etwa 20 Millionen. Da ist Druck im Kessel. Und die Probleme, die die Ägypter 2011 auf den Tahrir-Platz getrieben haben – Repression, wirtschaftliche Misere – sind alle geblieben, sogar schlimmer geworden.
Radwan: Politisch hat es sich danach erst einmal verschlechtert. Jetzt ist immerhin Stabilität eingekehrt. Allerdings führt das Land einen härteren Kampf gegen den Terror. Denken Sie beispielsweise an den Bombenanschlag auf jenes russische Verkehrsflugzeug über dem Sinai. Die wirtschaftliche Situation des Landes hat sich in den letzten Jahren noch verschlechtert. Ägypten hat unter anderem ein großes Problem mit seinen Fremdwährungsreserven. Das führt zu Devisen-Beschränkungen, die sich negativ auf die Wirtschaft auswirken. Ich habe im Rahmen meiner Reise mit deutschen Unternehmern gesprochen, die vor Ort zwar einigermaßen Gewinn machen, ihre Gewinne aber nicht ausführen, sondern nur im Land reinvestieren dürfen. Außerdem hängt Ägypten finanziell von Saudi-Arabien ab. Ohne die Saudis wäre das Land längst pleite.
Bayernkurier: Weil das Öl so billig ist, muss Saudi-Arabien jetzt selber sparen. Gibt es da eine Gefahr für Ägypten?
Radwan: Da gibt es eine Gefahr für die gesamte Region. Die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien ist völlig indiskutabel, katastrophal. Aber Saudi-Arabien und die Golfstaaten finanzieren nicht nur Ägypten, sondern auch Jordanien, den Libanon, Palästina, …
Bayernkurier: Marokko …
Radwan: Ja. Saudi-Arabien wirkt in der ganzen Region stabilisierend – zumindest finanziell. Der Export seiner religiösen Ansichten ist ein anderes Thema. Aber abgesehen vom Ölpreis ist Saudi-Arabien insgesamt in einer sehr fragilen Situation. Ich kann nur sagen: Das, was das Königshaus macht, entspricht nicht unserer Werteordnung. Aber wenn das Könighaus fallen sollte, weiß ich nicht, ob es für das Land, für die Region, besser werden würde. Es kann sein, dass dann die Konservativen, die mit dem Islamischen Staat sympathisieren, endgültig das Sagen bekommen.
Bayernkurier: Einer großen amerikanischen Umfrage zufolge wollen 74 Prozent der ägyptischen Muslime, dass die Scharia offizielles Gesetz des Landes wird. 86 Prozent der ägyptischen Scharia-Muslime befürworten die Todesstrafe für Religionsabtrünnige – für die Region ein trauriger Spitzenwert. Fürchten Sie eine wachsende islamische Radikalisierung in Ägypten?
Radwan: Ich will nicht von Radikalisierung sprechen, aber die Ägypter, die ich als Kind als liberal kennen gelernt habe, haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Das hat damit zu tun, dass sehr viele Ägypter zeitweise in den Golfstaaten gearbeitet haben und dort geprägt wurden. Wenn wir aber von Radikalisierung sprechen, müssen wir das, was hier bei uns – etwa in Berlin − passiert, genauso stark beobachten und hinsehen.
Wir gehen in Berlin nicht in eine Moschee. Alle Gemeinden, zu denen wir hingegangen sind, sind so radikal, dass wir auf Grund unseres Lebensstils als moderne Frauen dort nur gemobbt werden.
Musliminnen in Berlin
Bayernkurier: Wie meinen Sie das? Was ist los in Berlin?
Radwan: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Durch meine Tätigkeit und meine Arbeitsschwerpunkte habe ich in Berlin Kontakt zu arabisch-stämmigen Bürgern. Neulich habe ich einige junge Frauen, Muslimas, die hier aufgewachsen sind, hier studiert haben, mit ihren Familien hier leben, gefragt, wo sie in Berlin zum Beten gehen. Ihre Antwort: „Wir gehen in Berlin nicht in eine Moschee. Alle Gemeinden, zu denen wir hingegangen sind, sind so radikal, dass wir auf Grund unseres Lebensstils als moderne Frauen dort nur gemobbt werden.“ Das passiert in Berlin, in Deutschland. Und wir schauen weg.
Bayernkurier: Was müssen wir da machen?
Radwan: Die Ausbildung von Imamen können wir nicht komplett übernehmen. Aber wir müssen uns fragen, wer bei uns in Deutschland in muslimischen Gemeinden predigen darf. Wir haben in Deutschland eine klare Trennung von Staat und Kirche. Gleichzeitig wissen wir, dass das türkische Religionsministerium circa 1000 Imame bezahlt, die in Deutschland predigen. Sie kommen für vier Jahre zu türkischen Gemeinden hierher und gehen anschließend wieder zurück. Das hat Folgen: Bei in Deutschland lebenden Türken, die in der Türkei wahlberechtigt sind, hat der islamistische Präsident Erdogan einen höheren Prozentanteil gewonnen als in der Türkei selber. Wo ist da die Trennung von Staat und Religion? Ein weiteres Beispiel ist die Diskussion, die wir gerade in München über das Islamzentrum führen. Ein anonymer saudischer Spender soll das Projekt finanzieren. In der aktuellen Situation ist das doch absurd. Wir brauchen transparente Strukturen, damit dieser saudische Spender nicht Einfluss auf die Leute, die dort predigen sollen, nimmt.
Bayernkurier: Zurück zum Nil: Wahabitischer Einfluss in Ägypten, das klingt auch nicht gut.
Radwan: Früher war die Al-Azhar Moschee in Kairo das primäre theologische Zentrum des sunnitischen Islams. Aber durch das Engagement der Saudis ist deren Islam mittlerweile mehr und mehr internationalisiert worden − in Ägypten, aber auch darüber hinaus. Immerhin gibt es in Ägypten Strömungen, die das erkennen und reagieren wollen. Etwa der Großscheich der Al Azhar Universität, der die Tage zu Gesprächen in Berlin ist, sowie Präsident Al-Sisi. Als er an die Macht kam, hat er die Mette der christlichen Kopten besucht, als erster Präsident, und hat das Wort ergriffen: „Wir sind alle Ägypter“, sagte er. Im Anschluss hat er auch an der Al-Azhar-Universität gesprochen und gesagt: „Wie kann es sein, dass alle Menschen in der Welt sich vor unserer Religion fürchten?“ Dazu kann ich nur sagen: Ein mutiger Mann. Man muss wissen: Die Universität hat auch sehr viele Salafisten. Der Großscheich hat sein Präsidium, das ihn argwöhnisch beobachtet. Dass Al-Sisi sich so geäußert hat, ist mutig. Dieser Mut wird bei uns im Westen viel zu wenig honoriert. Man sollte ihn eigentlich beim Wort nehmen und fragen: Wie können wir Dir helfen?
Bayernkurier: Wie können wir helfen?
Radwan: Wir können nur bedingt helfen. Theologisch können wir beispielsweise nicht helfen. Wir können nicht für die Ägypter den Koran interpretieren. Aber wir können Bildungsangebote aufbauen und Kooperationen suchen. Da gibt es auch bereits Anfänge. Die Al-Azhar-Universität will jetzt auch Imame nach Deutschland schicken und sich als Universität verstärkt hier engagieren. Das Orientinstitut in Beirut, das mit der Universität kooperiert, bietet Deutschkurse für Islamwissenschaftler an, die dann für ein bis zwei Semester nach Deutschland kommen sollen. Die Al-Ahzar-Studenten der Islamwissenschaft sollen hier ein ähnliches Fach studieren, also beispielsweise Theologie oder Philosophie. Dadurch sollen Sie unsere Theologie von der Struktur, von der Denkweise her kennenlernen. Anschließend gehen sie wieder zurück in ihre Heimat. Aber auf dieser Grundlage kann man eher miteinander reden. Der fundamentale Islam wird in Ägypten auch kritisch gesehen.
Mubarak hat sein Volk geistig verhungern lassen. Das ist sein eigentliches Verbrechen.
Bayernkurier: Und dann braucht Al-Sisi wirtschaftliche Erfolge.
Radwan: Richtig, wirtschaftliche Entwicklung. Das Wichtigste ist: Bildung, Bildung, Bildung. Was man Mubarak wirklich vorwerfen muss: Er hat eine Generation verloren. Die Ägypter, die Syrer, die Libanesen, hatten immer eine intellektuelle Schicht – Ärzte, Ingenieure, die in Deutschland studiert haben und dann zurückgingen. Aber Mubarak hat sein Volk geistig verhungern lassen. Das ist sein eigentliches Verbrechen. Und darum müssen auch wir uns bemühen, den Ägyptern bei der Grundausbildung und der beruflichen Bildung stärker zu helfen.
Bayernkurier: Wo bekommt man in so einem Land die notwendigen Lehrer her? Und wo bekommt man die Ausbilder für die Lehrer her?
Radwan: Lehrer gibt es über zwei Millionen, aber genau in diesem Bereich sehe ich, dass wir aus Deutschland und speziell auch aus Bayern etwas beitragen können. Entwicklungshilfeminister Gerd Müller hat sehr zu meiner Freude aus seinem Haus zusätzliche Mittel für die berufliche Bildung in Ägypten bereitgestellt. Das ist die Finanzierungsbasis. Darüber hinaus habe ich die Zusage aus dem Haus von Kultusminister Ludwig Spaenle, den Ägyptern mit Lehrplänen und fachlichem Ratschlag zur Lehrerausbildung zu helfen. Auch das Handwerk in der Region hat Interesse an einer Kooperation.
Bayernkurier: Sie freuen sich, dass Entwicklungshilfeminister Gerd Müller Geld freimachen kann – aber gleichzeitig kaufen die Ägypter von den Franzosen für eine Milliarde Euro die beiden Mistral-Hubschrauberträger, die Präsident Hollande wegen der Krim-Annexion nicht an die Russen verkaufen wollte.
Radwan: Ägypten kämpft auf dem Sinai gegen einen Ableger des sogenannten „Islamischen Staates“. Man muss mit dem Land so umgehen, wie es ist. Wenn ich dort den Haushalt stricken würde, sähe er sicher anders aus. Aber die Frage ist: Gebe ich das Geld und erreiche damit ein Stück weit eine Entwicklung, die ich für richtig halte, oder erreiche ich das nicht?
Bayernkurier: Stichwort gesellschaftliche Situation: Köln hat uns an den Tahrir-Platz und an die schlimme Lage der Frauen in Ägypten erinnert – gibt es da Hoffnung?
Radwan: Die Hoffnung sollte man nie aufgeben. Am letzten Abend meiner Reise hatte ich ein Gespräch mit fünf jungen Ägypterinnen, die ich aus ihrer Zeit im Rahmen des Internationalen Parlamentsstipendiums des Deutschen Bundestages in Berlin kenne. Sie alle – junge Frauen, zwischen 20 und 30 Jahren – haben gesagt, dass sie schon einmal belästigt wurden. Alle. 100 Prozent. Das ist leider so. Es ist nicht so, dass 100 Prozent der Männer Frauen belästigen, aber viele schauen weg. Viele sehen das als normal an. Ich glaube, letztendlich muss diesbezüglich die Revolution von den Frauen selber kommen. Ägypten braucht seine Frauen. Wenn ich mir anschaue, wo in dem Land etwas klappt, und wo nicht, dann sind dort, wo etwas nicht klappt, immer überproportional Männer dabei. Wenn es schlecht läuft, dann sind die Frauen diejenigen, die dafür sorgen, dass die Kinder versorgt werden und Bildung erhalten. Die Frauen kümmern sich darum, nicht die Männer.
Bayernkurier: Sie sagen, Sie haben selber einen Migrationshintergrund. Sind Sie hier geboren?
Radwan: Ich bin gebürtiger Münchner. Es gibt sie noch! (lacht)
Bayernkurier: Ihr Vater ist Ägypter, und er ist seinerzeit auf ganz regulärem Wege ausgewandert.
Radwan: Er kam nach Deutschland um hier zu studieren und hat dann, um es humorvoll zu sagen, den härtesten Weg der Integration gewählt, den ich keinem Flüchtling zumuten möchte: Er hat eine bayerische Lehrerin geheiratet. (lacht)
Bayernkurier: Aber die Integration ist auf diese Weise gesichert.
Radwan: Ja, überwiegend. Ein bisschen bockig ist er in manchen Bereichen noch, das kann man noch ausmerzen. (lacht) Aber es ist gelungen.
Das verstehe ich unter Blauäugigkeit: Wir wollen immer zuallererst Rücksicht nehmen. Rücksicht ist aber nicht in allen Bereichen der Integration angebracht.
Bayernkurier: Wenn Sie die Völkerwanderung über die Balkanroute beobachten, wie sehen Sie das Thema Integration?
Radwan: Es wird eine gigantische Aufgabe werden. Ich bin überzeugt: Es können und werden nicht alle bleiben. Viele werden hier schlicht mit der Mentalität nicht zurechtkommen.
Bayernkurier: Ist das eine realistische Erwartung, dass jemand nach Afghanistan zurückgeht, nach Somalia? Nur weil er hier scheitert?
Radwan: Wenn dort die Lebensumstände so sind, dass man wieder leben kann − kein Terrorismus, keine Gewalt −, dann werden viele zurückgehen. Das glaube ich schon. Die Menschen sind sehr heimat- und familienverbunden.
Bayernkurier: Und die, die hier bleiben?
Radwan: Denen muss völlig klar sein, dass, wer hier her kommt und bleiben möchte, sich einbringen und integrieren muss. Integration heißt, dass man die Grundwerte unserer Gesellschaft nicht in Frage stellt. Das müssen sie akzeptieren. Ich kann nicht auf der einen Seite den Schutz in einer offenen, liberalen Gesellschaft suchen, und gleichzeitig deren Kernelemente ignorieren oder sogar bekämpfen. Das ist inakzeptabel. Das muss klar sein.
Bayernkurier: Was müssen wir dabei tun?
Radwan: Fördern durch Fordern. Wir müssen mehr einfordern. Und es muss auch klar sein, was die Grundlage unseres Zusammenlebens ist und dass diese Werte nicht verhandelbar sind.
Wir sind hier in Deutschland, und wenn Euch das nicht passt, dann haut ab. Punkt.
Bayernkurier: Einfordern – in welcher Form?
Radwan: Indem wir erst einmal das, was wir für richtig halten, benennen und leben. Ich weiß beispielsweise von Weihnachtsfeiern in Flüchtlingsunterkünften, die Helferkreise, die Gigantisches leisten, ausgerichtet haben, bei denen jeglicher Bezug zum Christentum vermieden wurde, um die religiösen Gefühle der anderen nicht zu verletzen. Das ist Selbstverleugnung und wird vom Gegenüber nicht verstanden. Wie soll jemand unsere Religion respektieren, wenn wir es selber nicht tun?
Bayernkurier: Es gibt Leute, die im Grunde sagen: Wenn jemand nicht gegen das Strafrecht verstößt, dann ist er eigentlich integriert.
Radwan: Nach den Vorfällen der Silvesternacht in Köln finde ich so etwas absurd. Dass man nicht straffällig wird, ist erst einmal die Voraussetzung, um überhaupt hier sein zu dürfen. Nein, wir müssen mit den Einwanderern, wo es notwendig ist, ganz anders reden.
Bayernkurier: Wie?
Radwan: Ich gebe Ihnen ein ganz einfaches Beispiel, wie mein Vater das einmal gemacht hat. Als Kind habe ich einmal mit meiner Mutter meinen Vater vom Flughafen abgeholt. Damals noch in Riem. Wir hatten immer Hunde. Ich war also mit dem Hund dort. Neben uns standen Golf-Araber. Dann kam mein Vater aus dem Terminal, aber bevor er uns begrüßt hat, hat er sich mit den Golf-Arabern auf Arabisch laut und gestikulierend gestritten. Dann sind wir fortgegangen und haben ihn natürlich gefragt, was da los war. „Naja“, hat er zu mir gesagt, „die haben furchtbar über Dich geschimpft“. Der Hund, den ich an der Leine hatte, ist im islamischen Raum ein unreines Tier, und er hatte das Gewand eines der Männer berührt. „Und was hast Du ihnen dann gesagt?“, habe ich ihn gefragt. Darauf mein Vater: „Ganz einfach: Wir sind hier in Deutschland, und wenn Euch das nicht passt, dann haut ab. Punkt.“ Ich sehe das genauso wie mein Vater damals in Riem.
Bayernkurier: „Wenn Euch das nicht passt, dann haut ab.“ Das wäre sicher eine geeignete Integrationsbotschaft. Aber das traut sich hier niemand zu sagen.
Radwan: Wer die Normen hier nicht akzeptieren kann oder will, der kann hier nicht bleiben. Punkt. Das heißt nicht, dass er Katholik werden muss. Aber wer meint, er muss etwa an dem Bild, das manche in der islamischen Welt von Mann und Frau haben, festhalten, der muss gehen. Wir dürfen aber auch nicht verallgemeinern. Viele leben entsprechend unserer Grundordnung.
Bayernkurier: Wie bringen wir den Anderen ein anderes Frauenbild bei?
Radwan: Ich bin nicht primär pädagogisch unterwegs, aber wir müssen klar und unmissverständlich sagen, was die Basis für unser Zusammenleben ist. Wenn es einem aber nicht passt, obwohl es ihm erklärt wurde, dann muss er gehen. Wir diskutieren darüber auch nicht.
Ein Vorschlag: Jeder, der auffällig wird, erhält ein beschleunigtes Verfahren und wird zügig abgeschoben. Jeder soll wissen: Wenn er unsere Normen nicht akzeptiert, dann muss er in kürzester Zeit das Land verlassen.
Bayernkurier: Das Frauenbild mancher Araber haben wir jetzt in Köln erlebt. Heißt das, bei der Zahl von Arabern, die jetzt zu uns gekommen sind, dass in Deutschland für Frauen der öffentliche Raum in Gefahr ist, tabu wird?
Radwan: Soweit darf es nicht kommen. Wir müssen Maßnahmen dagegen ergreifen. Ein Vorschlag: Jeder, der auffällig wird, erhält ein beschleunigtes Verfahren und wird zügig abgeschoben. Jeder soll wissen: Wenn er unsere Normen nicht akzeptiert, dann muss er in kürzester Zeit das Land verlassen. Wir dürfen aber nicht verallgemeinern. Es gibt viele, die sich integrieren und nach unseren Normen leben wollen. Diese verdienen unsere Unterstützung.
Bayernkurier: Klingt gut. Aber da werden Sie die meiste Aufklärungsarbeit wahrscheinlich gegenüber vielen Deutschen leisten müssen.
Radwan: Ich halte viele Deutsche für blauäugig. Ägypten, Syrien, Marokko, den arabischen Frühling – alles sehen wir durch unsere westlich-demokratische menschenrechtliche Brille. Aber wir sehen nicht, was diese Länder tatsächlich bewegt. Und so wie diese Länder betrachten wir auch die Menschen, die zu uns kommen, durch unsere Brille. Wir sehen sie nicht so, wie sie sind. Das soll kein negatives Urteil sein. Für die meisten Menschen ist die Religion sehr wichtig. Sie sollen ihren Glauben bei uns ausüben dürfen. Für viele Helferkreise ist das aber kein Thema. Wir müssen aber hinschauen. Wir müssen darauf achten, dass die Ausübung des Glaubens in Gemeinden erfolgt, die mit unserer Werteordnung in Einklang stehen und nicht durch Radikale. Man muss gegenüber den Einwanderern eine klar verständliche Sprache sprechen und sie dort abholen, wo sie sind. Ich diskutiere nicht, warum man bei uns Frauen nicht belästigt. Das wird so erklärt, dass Mann und Frau gleichberechtigt sind. Das ist so. Und das verstehe ich unter Blauäugigkeit: Wir wollen immer zuallererst Rücksicht nehmen. Rücksicht ist aber nicht in allen Bereichen der Integration angebracht. Integration darf keine Einbahnstraße sein. Sie setzt Integrationswillen und Integrationsbereitschaft voraus.
Bayernkurier: Das heißt auch: keinerlei kulturelle Zugeständnisse?
Radwan: Ich gehe nicht so weit wie in Dänemark oder Schleswig-Holstein. Dort gab es einen Aufschrei, weil in den Fleischpflanzerln kein Schweinefleisch mehr ist. Heute gibt es in jeder normalen Kantine ein Gericht für Vegetarier. Warum soll es da nicht auch etwas geben, das eben kein Schweinefleisch hat. Damit habe ich kein Problem.
Bayernkurier: Es gibt aber noch viel problematischere Dinge, die da jetzt zu uns kommen, auch aus Ägypten: etwa das Thema Frauenbeschneidung – und darüber wird gar nicht geredet.
Radwan: Da sind wir in einem Bereich, der völlig indiskutabel ist. Da geht es um Menschenwürde und um Selbstbestimmung.
Bayernkurier: Aber es fällt schon auf, dass niemand das zum Thema machen will.
Radwan: Das ist richtig. Das ist ein dramatisches Thema, das bei uns, wie viele Dinge in dem Bereich, leider Gottes verdrängt wird.
Bayernkurier: Wir müssen die, sagen Sie, so sehen, wie sie sind …
Radwan: … und dann dort abholen. Wir müssen ihnen unsere Positionen klar machen.
Bayernkurier: Eigentlich sonderbar, dass wir den Umgang mit Arabern und Muslimen noch lernen müssen. Deutschland war doch einmal das Land der großen Arabisten und Orientalisten.
Radwan: Ja schon, aber wir hatten nur mit der Region als Ganzes und weniger mit Individuen zu tun. Die großen Arabisten und Orientalisten waren oft Wissenschaftler. Abgesehen davon: Dass Deutschland integrationsfähig ist, erleben wir tagtäglich, wenn wir mit Menschen reden, die hier seit längerer Zeit leben. Integration ist dann gelungen, wenn der, der mir gegenüber sitzt, einen Migrationshintergrund hat und es gar kein Thema ist, weil niemand es bemerkt. Die große Herausforderung der Zukunft wird eine friedliche Koexistenz der Religionen sein, bei uns im Land, aber auch zwischen den Völkern.
Das Interview führte Heinrich Maetzke