Vor dem Brexit-Chaos: Dover. (Bild: H.M.)
Brexit

Brexit und Europawahl

Kommentar Der Brexit-Deal ist vom Tisch. Europa geht einem ungeregelten Brexit entgegen. Problem: Exakt zwei Monate danach sind Europawahlen. Brexit-Chaos werden die Wähler dann übel nehmen - was Europa gerade jetzt nicht brauchen kann.

Das heikle zeitliche Zusammentreffen bleibt seltsam unbeachtet: Am 29. März ist B-Day – Brexit-Day. Großbritannien verlässt die Europäische Union. Fast auf den Tag genau exakt zwei Monate später, am 26. Mai, ist E-Day – der Tag der Europawahlen. Wenn dann die Wähler sich über Brexit-Chaos ärgern, drohen am Wahlabend Überraschungen.

Der Brexit-Deal ist vom Tisch

Nach Theresa Mays Abstimmungsdebakel ist der Brexit-Deal wohl vom Tisch. Die Gefahr wächst, dass Großbritannien am 29. März ohne Austrittsabkommen aus der EU herausfällt. Völlig ungeregelt und eben chaotisch.

Eigentlich nur zwei Dinge könnten das noch verhindern: dass die EU die Austritts- und Verhandlungsfrist verlängert. Wozu sich alle 27 übrigen EU-Mitglieder einstimmig verstehen müssten. Was problematisch ist. Zumal dann auch die Briten noch an der Europawahl teilnehmen müssten. Oder London zieht vor dem 29. März sein Austrittsgesuch zurück. Endgültig. Oder nur vorläufig, um Zeit zu schinden und es später wieder vorzulegen. Was auch problematisch wäre.

Chaos droht …

Noch 72 Tage bis zum wohl ungeregelten B-Day also. Und dann droht Chaos. Nicht nur in Großbritannien sondern auch in der Rest-EU. Und was für ein Chaos: Mit einem Warenaustausch von fast einer halben Billion Euro im Jahr (Frankfurter Allgemeine Zeitung) wäre Großbritannien schlagartig der größte Handelspartner der Rest-EU. Mit Abstand. Urplötzlich müssen Zollformalitäten abgewickelt werden für unfassliche Gütermengen. Sonst stockt der Handel, von einem Tag auf den anderen.

Problem: Niemand ist darauf wirklich vorbereitet, auf keiner Seite des Ärmelkanals. Weder gibt es die Terminals für plötzlich vervielfachte Zollabwicklung noch die Abfertigungshallen. Und am schlimmsten: Die Zöllner fehlen. Mit Terminals und Hallen kann man improvisieren. Aber ausgebildete Zöllner für die Britenzoll-Abwicklung aus dem Boden stampfen, das kann niemand. Und jetzt fehlen sie in allen EU-Ländern, zu hunderten, zu tausenden.

… weil die Zöllner fehlen

Die absehbare Folge: Riesige Container- und Lkw-Staus vor Dover, aber auch vor Calais, Dünkirchen, Amsterdam, Rotterdam, überall wo Schiffe und Fähren an- oder ablegen mit Waren aus oder nach Großbritannien. Lieferketten werden stocken, Waren werden fehlen, Lebensmittel, Medikamente, Bauteile.

Die Menschen werden das zu spüren bekommen. Im Supermarkt, in der Apotheke, am Produktionsband bei BMW in München oder bei Airbus in Toulouse. Wenn sie nicht gar irgendwo stranden – in Heathrow, Paris oder Mallorca, weil ihr britischer oder halbbritischer Flieger keine Flug- oder Landegenehmigung mehr hat für den Kontinent.

Zwei Monate vor der Europawahl

Wenn solches und noch ganz anderes Brexit-Chaos kommt, werden die Menschen das übelnehmen. Weniger den Briten, sondern auf dem Kontinent vor allem Brüssel und der EU. Denn deren Hauptaufgabe ist es eben nicht, recht zu haben, sondern Chaos zu vermeiden.

Das ist der unvermeidliche Zusammenhang: Wenn der B-Day am 29. März zu Schmerzen und Chaos führt, dann werden die Menschen am 26. Mai mit Ärger im Bauch zur Europawahl gehen.

Brüssel muss an die Menschen denken

Brüssel muss darum zuallererst an die Menschen denken, handeln und Chaos abwenden. Was so schwierig nicht sein sollte. Immerhin war Großbritannien über 40 Jahre lang ganz normaler EWG-, EG- und EU-Partner. Am 29. März sind die Briten nun – höchstwahrscheinlich – draußen.

Aber nach 40 Jahren sollte es auf ein paar Wochen oder Monate nicht ankommen. Niemand könnte Brüssel hindern, erst einmal weiter zu machen wie zuvor. Wie beim Flugverkehr. Wo Brüssel offenbar bereit ist, Lizenzen und Genehmigungen für die Briten zu verlängern, bis neue Abkommen da sind.

Ein paar Wochen weiter wie bisher?

So müsste es notfalls eben auch eine Weile ohne neue Britenzölle gehen. Bis zu einem Stichtag, den die 27 gemeinsam beschließen. Wenn sie wissen, dass sie alle Zöllner haben, die sie brauchen, um die Zollabfertigung stemmen zu können. Überall.

Ein paar Wochen oder Monate Schwebezustand zwischen Vor-Brexit und Nach-Brexit. Nicht um den Briten einen Gefallen zu tun oder um ihnen etwas zu schenken. Sondern für die Menschen. Weil die EU-Partner und Brüssel schlicht noch nicht so weit sind. Alle brauchen Zeit. Die können die Europäer dann auch nutzen, um darüber nachzudenken, wo beim Brexit ihre Interessen sind.

Deutschlands Interessen

Für das Exportland Deutschland ist das nicht schwierig: Großbritannien ist Deutschlands fünftwichtigster Handelspartner. Das Handelsvolumen beträgt 122 Milliarden Euro. Jedes fünfte in Deutschland gebaute Auto wird in Großbritannien zugelassen. Etwa 750.000 Arbeitsplätze in Deutschland hängen vom Handel mit Großbritannien ab. Großbritannien muss enger Partner bleiben. Alles andere ist Ideologie.