Deutschlands Risiko
Kommt der harte Brexit? Brüssel fordert von London mindestens sechs komplette EU-Netto-Beiträge und eine Zollgrenze zwischen England und Nordirland. Das kann nicht gut gehen. Der Ausweg: Eine Brexit-Übergangslösung und Zeit für echte Verhandlungen.
Brexit

Deutschlands Risiko

Kommentar Kommt der harte Brexit? Brüssel fordert von London mindestens sechs komplette EU-Netto-Beiträge und eine Zollgrenze zwischen England und Nordirland. Das kann nicht gut gehen. Der Ausweg: Eine Brexit-Übergangslösung und Zeit für echte Verhandlungen.

50,5 Milliarden Euro. Das ist für Deutschland die wichtigste Brexit-Zahl. Auf diese 50,5 Milliarden Euro beläuft sich der Handelsbilanzüberschuss, den Deutschland 2016 gegenüber dem Vereinigten Königreich erzielt hat. Großbritannien ist damit derjenige Handelspartner, an dem Deutschland im vergangenen Jahr am allermeisten Geld verdient hat. 9,3 Milliarden Euro lautet die Zahl nur für Bayern, das 2016 ebenfalls gegenüber Großbritannien sein bestes Saldo erzielt hat.

Großbritannien ist nach Deutschland Europas zweitgrößte Wirtschaft und nach Frankreich der drittgrößte Markt. Zur Erinnerung: Jedes fünfte Auto, das in Deutschland hergestellt wird, wird in Großbritannien zugelassen. Deutschland hat beim Brexit – dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU – viel zu verlieren. Nicht nur Deutschland: Sogar Wirtschaftssorgenkind Frankreich erzielt gegenüber den Briten einen kleinen Handelsbilanzüberschuss.

Aber nach Verlieren sieht es aus für Deutschland, Frankreich und alle anderen britischen Handelspartner in EU-Europa. Denn die Brexit-Verhandlungen laufen schlecht. Eigentlich sind sie bis zum Termin am 29. März 2019 gar nicht mehr zu schaffen. Dann droht der ganz harte Brexit – das Ende der britischen EU-Mitgliedschaft ohne Brexit-Abkommen, ohne Freihandelsvertrag. Für Deutschlands Exportwirtschaft wäre das ein Schock.

Sechs komplette EU-Nettobeiträge

Michel Barnier, der Verhandlungsführer der EU-Kommission, gibt den Briten die Schuld. Er hat ihnen jetzt ein Ultimatum gestellt. Aber so einfach ist das nicht. Das zeigt ein Blick auf die strittigen Punkte und auf die Statements der Verhandlungsführer Barnier und David Davis.

Bevor Brüssel über die zukünftigen Beziehungen zu Großbritannien reden will – über ein Freihandelsabkommen – will es grundlegende Fragen geklärt wissen. Etwa die, welche finanziellen Verpflichtungen die Briten gegenüber der EU noch haben. Aus Brüssel hört man, dass Barnier den Briten eine Rechnung über mindestens 60 Milliarden Euro präsentiert hat. Es könnten auch 100 Milliarden sein.

Brüssel verlangt also, dass Großbritannien nach dem EU-Austritt noch sechs – oder gar zehn – vollständige Netto-Jahresbeiträge zahlt. Brüssel sieht sich im Recht. Aber völlig klar ist auch: Keine britische Regierung und kein britischer Wähler könnte das je akzeptieren.

Zollgrenze innerhalb Großbritanniens

Bei der Nordirland-Frage ist es ähnlich. Ab dem 29. März 2019 wird zwischen Nordirland und der Republik Irland eine Zollgrenze verlaufen. Aber das Karfreitagsabkommen von 1989, das den Nordirlandkonflikt beilegte, beschreibt die irische Insel als „einheitliches Reisegebiet“. London ist entschlossen, dort auch in Zukunft keine Grenzkontrollen durchzuführen. Nur: Dann ist in Irland die EU-Zollgrenze offen.

Für die Briten kein Problem: Sie kennen die EU-Standards und haben von Importen aus Irland nichts zu befürchten. Für die EU untragbar und ein riesiges Dilemma: Will in Brüssel ernsthaft jemand fordern, an der irischen Grenze Stacheldrahtzaun und Mauer hochzuziehen?

Barnier hat eine andere Idee: Nordirland soll in der EU-Zollunion bleiben. Problem: Dann wäre Nordirland nicht mehr Teil des britischen Wirtschaftsraums. Die Vereinigung Nordirlands mit Irland wäre wirtschaftliche Realität. Wieder ist völlig klar, dass weder die Briten, noch die britischen Nordiren das je akzeptieren könnten. Und selbst wenn: Wer sollte dann die Zollgrenze zwischen Nordirland und dem restlichen Großbritannien kontrollieren? EU-Beamte? Die Iren? Eine sonderbare Idee.

Mehr Flexibilität nötig

Dabei liegt die Lösung nahe: Brüssel und London einigen sich auf eine Übergangsfrist, in der dann ein Freihandelsabkommen ausgehandelt wird, vielleicht ähnlich dem zwischen der EU und Kanada. Die beiden großen Streitpunkte würden sich von ganz alleine auflösen: Die Briten würden noch ein paar Jahre ganz regulär zahlen und hoffentlich alle alten Verpflichtungen abtragen. Die neue Zollgrenze zwischen Nordirland und Irland bräuchte es gar nicht.

Tatsächlich hat Premierministerin Theresa May schon von einer begrenzten Übergangsfrist – sie hat es „Umsetzungszeitraum“ genannt – gesprochen, in der die alten Regeln weiter gelten sollen. So wirr, wie in Brüssel gern behauptet, ist die britische Verhandlungsposition gar nicht.

Aber wieder gibt es ein Problem: EU-Verhandlungsführer Barnier darf darüber nicht verhandeln. Er hat dafür vom Rat der Staats- und Regierungschefs noch kein Mandat erhalten. An der Stelle sollte sich jetzt Berlin einbringen und in Brüssel auf mehr Flexibilität und Fantasie bei der Verhandlungsführung dringen. Es geht um den britischen Markt und um Deutschlands und Europas Exportwirtschaft.

Und um Vertrauen in Europa: Einer aktuellen britischen Umfrage zufolge sind über 60 Prozent der Briten der Auffassung, dass die EU keinen guten Deal will, sondern nur die Briten für den Brexit bestrafen. Da geht Vertrauen verloren zwischen Europäern. Was dann alle Verhandlungen belastet. Der Brexit ist Bruch genug. Schlimmer darf es nicht mehr werden. Um Europas Willen.