Mehrheiten gegen Deutschland
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will „öfter und einfacher im Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheiden“. Gefährlich für Deutschland: Ohne Großbritannien ist die Sperrminorität dahin. Das Mittelmeer triumphiert über die Nordsee.
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Mehrheiten gegen Deutschland

Kommentar EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will „öfter und einfacher im Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheiden“. Gefährlich für Deutschland: Ohne Großbritannien ist die Sperrminorität dahin. Das Mittelmeer triumphiert über die Nordsee.

Das hat kaum jemand gemerkt: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will im Europäischen Rat öfter „mit qualifizierter Mehrheit statt einstimmig“ entscheiden lassen. Was für fiskalisch solide EU-Nordländer gefährlich werden kann: Mit dem EU-Auszug der Briten kommt ihnen die Sperrminorität abhanden. Wenn es nach Juncker geht, können ab dem 29. März 2019 die Mittelmeerländer die Nordseeländer häufiger überstimmen.

Steuern und Außenpolitik

Juncker in seiner Rede zur Lage der Nation: „Ich möchte, dass wir in wichtigen Binnenmarktfragen öfter und einfacher im Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheiden.“ Als Beispiele für „bestimmte Felder“, in denen das geschehen soll, nennt Juncker etwa „Beschlüsse über die gemeinsam konsolidierte Körperschaftssteuer-Bemessungsgrundlage, über die Mehrwertsteuer, über eine faire Besteuerung der Digitalwirtschaft und über die Finanztransaktionssteuer“.

Es geht um Geld – und um Außenpolitik. Denn um der EU „mehr Gewicht auf der Weltbühne“ zu geben und um „außenpolitische Beschlüsse schneller fassen (zu) können“, will er die Mitgliedstaaten prüfen lassen, „welche Beschlüsse nicht mehr einstimmig, sondern mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden können“.

Qualifizierte Mehrheit und Sperrminorität

Wie das funktioniert, steht im Lissabonner Vertrag: Als qualifizierte Mehrheit gelten mindestens 55 Prozent der Mitglieder des Rates (16 von 28 Ländern), die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Außerdem verhindert eine Sperrminorität, dass große Minderheiten einfach überstimmt werden: Mindestens vier Mitgliedsländer mit zusammen mehr als 35 Prozent der EU-Bevölkerung plus einem weiteren Mitgliedsland können jede Mehrheitsentscheidung blockieren.

Die komplizierte Regelung war genau austariert für eine EU aus 28 Mitgliedsstaaten mit den vier Schwergewichten Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien. Ab dem 29. März 2019 gilt das nicht mehr. An dem Tag verlässt Großbritannien die EU – und das Gleichgewicht von qualifizierter Mehrheit und Sperrminorität ist dahin.

Erdrückendes Übergewicht der Mittelmeerländer

In der heutigen EU der 28 vertritt Deutschland 16,06 Prozent der Bevölkerung und Großbritannien 12,79. Macht zusammen fast 29 Prozent. Mit ein paar kleineren Ländern im Norden – Dänemark (1,12), Niederlande (3,37), Österreich (1,71) – war die Sperrminorität von 35 Prozent immer gesichert, etwa gegen Abstimmungswünsche krisenhafter Club-Med-Schuldenländer im Süden. Ohne Großbritannien bleiben Deutschland im Norden nur kleine und sehr kleine Länder als potentielle Verbündete. Zu wenig für die Sperrminorität.

Der Brexit schenkt den Mittelmeerländern das Stimmenübergewicht. Ihre Mehrheit ist dann nicht mehr qualifiziert, sondern nur noch erdrückend. Zusammen mit ärmeren Ländern im Osten erst recht. Gerade jetzt ist aber der falscheste Moment für die Abwendung vom Einstimmigkeitsprinzip und den Übergang zu mehr Ratsentscheidungen mit qualifizierter Mehrheit.

Gefährlich für Deutschland – und die EU

Junckers Plan für „eine stärkere Union“ mit mehr Mehrheitsentscheidungen im Rat ist gefährlich – vor allem für Deutschland. Ab dem 29. März 2019 kann der Zahlmeister majorisiert werden – und isoliert. Was Juncker übersieht: Der Harmonie in der Europäischen Union und besonders in Deutschland wird das kaum förderlich sein. Auch eine Lektion: Ohne die Briten wird in der EU vieles anders, aber nichts leichter.