Macrons politischer Urknall
Es ist eine Überwältigende Mehrheit mit historisch niedrigem Wahlergebnis: Mit 32 Prozent der Stimmen – 15 Prozent der Wahlberechtigten – steuert Präsident Macron auf eine Drei-Viertel-Mehrheit im Parlament zu. Kann das gut gehen?
Frankreich

Macrons politischer Urknall

Es ist eine Überwältigende Mehrheit mit historisch niedrigem Wahlergebnis: Mit 32 Prozent der Stimmen – 15 Prozent der Wahlberechtigten – steuert Präsident Macron auf eine Drei-Viertel-Mehrheit im Parlament zu. Kann das gut gehen?

Noch nie in der Geschichte der Fünften Französischen Republik hat ein Präsident mit so wenigen Wahlstimmen eine so große Parlamentsmehrheit erhalten. 32 Prozent der Stimmen hat Präsident Emmanuel Macrons gerade 16 Monate alte Partei La République En Marche (LRM) in der ersten Runde der Parlamentswahl gewinnen können, zusammen mit der verbündeten zentristischen Demokratischen Bewegung (MoDem). Aber bei einer rekordniedrigen Wahlbeteiligung von 48,7 Prozent sind das kaum 15 Prozent aller Wahlberechtigten für Macrons Partei.

Bis jetzt hat noch keine Partei so viele Sitze gewonnen, mit so wenig Stimmen.

Le Monde

Wenn in Frankreich nach Verhältniswahlrecht gewählt würde, rechnet die Pariser Tageszeitung Le Monde aus, könnten LRM und MoDem allenfalls auf eine „sehr relative Mehrheit“ von 186 Mandaten hoffen. Aber nach dem französischen Mehrheitswahlrecht steuert Macron nun mit den Stimmen von 15 Prozent der Wahlberechtigten in der zweiten Wahlrunde am kommenden Sonntag auf 415 bis 455 Mandate für seine LRM und Modem Kandidaten zu. In der französischen Nationalversammlung mit 577 Sitzen wären 433 Mandate eine Dreiviertel-Mehrheit. Man muss das zweimal lesen: Macron und seine Partei, die es vor zwei Jahren noch gar nicht gegeben hat, stehen vor der Dreiviertel-Mehrheit.

Sozialistische Partei: Untergang am Geburtstag

Eine Opposition wird es in der neuen französischen Nationalversammlung kaum geben. Die bürgerliche Rechte – Les Républicains (LR) mit der Union der Demokraten und Unabhgängigen (UDI) –  kamen in der ersten Wahlrunde auf 21,5 Prozent. Damit können sie auf 70 bis 110 Mandate rechnen – gegenüber 226 im alten Parlament.

Beinahe ausgelöscht worden ist die bis zum Mai noch regierende Sozialistische Partei (PS) mit 9,5 Prozent und 20 bis maximal 30 Abgeordneten – 300 waren es bisher. Parteichef Jean-Christophe Cambadelis und Präsidentschaftskandidat Benoît Hamon haben es nicht in die zweite Runde geschafft. Besondere Demütigung: Die PS wurde vom kommunistischen Linksauße Jean-Luc Mélenchon und seiner Partei La France Insoumise mit 11 Prozent überflügelt, was für acht bis 18 Mandate gut ist. Und das alles am Geburtstag: Auf den Tag genau vor 46 Jahren, am 11. Juni 1971, hat Franςois Mitterrand die PS gegründet. Jetzt geht es wohl zuende mit der Mitterrand-Partei.

Spott für die Verlierer

Wer solchen Schaden hat muss auf den Spott nicht warten: Noch am Wahlabend bot ein Scherzbold das traditionelle Pariser Hauptquartier der PS in der Rue de Solferino auf einer Immobilien-Website zum Verkauf an: „Gut für ein Museum, französische Folklore.“ Einen Preis wollte der als Camba – der gängige Spitzname für den in der Wahl eliminierten Parteichef Cambadelis – auftretende Anbieter nicht nennen, „denn die PS ist nichts mehr wert“.

Der rechtspopulistische Front National von Marine Le Pen blieb mit 13,2 Prozent fast auf dem Ergebnis von vor fünf Jahren – blieb mit drei Millionen Stimme aber deutlich unter dem Ergebnis den 3,5 Millionen von 2012. Der FN könnte damit auf drei bis zehn Mandate kommen, was zur Fraktionsbildung (15 Mandate) nicht reicht.

Macron hat alles in die Luft gesprengt.

Le Figaro

12,5 Prozent – nicht der Stimmen, sondern der Wahlberechtigten – braucht ein Kandidat, um in seinem Wahlkreis am kommenden Sonntag in die Stichwahl zu kommen. Die extrem niedrige Wahlbeteiligung hat nun zur Folge, dass es nur in einem Wahlkreis im nordwestfranzösischen Département Aube überhaupt zu einem Dreier-Rennen kommt, in keinem einzigen zu einem Vierer-Rennen.

In 449 von 577 Wahlkreisen landete die Macron-Partei in der ersten Wahlrunde auf Rang eins, in 513 Wahlkreisen tritt sie zur zweiten Wahlrunde an. Die bürgerlichen Parteien LR und UDI treten nur in 300 Wahlkreisen an, der FN in 118. Die Sozialisten und ihre grünen Verbündeten treten nur noch in 73 und Mélenchons Partei samt Kommunisten nur in 69 Wahlkreisen an.

Regierung ohne Opposition …

Wenn am nächsten Sonntag wahr wird, was sich schon ankündigt, dann steuert Macron also auf eine „erdrückende Mehrhet“ (Le Figaro) zu, auf die politische „Hegemonie“ (Le Monde). „Wir schauen einem enormen Big-Bang zu“, kommentierte am Wahlabend der ehemalige Premierminister Jean-Pierre Raffarin: „Man wird alles neu aufbauen müssen.“ Raffarin hat recht: Um die Entstehung des Universums geht es zwar nicht, aber um einen politischen Urknall in Frankreich schon: um eine politische Revolution, die vollständige Neu- und Umgründung der Fünften Republik. „Macron hat alles in die Luft gesprengt“, kommentiert Le Figaro auf Seite Eins.

Die Wähler haben noch eine Woche Zeit, um die Dinge ins Gleichgewicht zu bringen. Danach ist es für fünf Jahre zu spät.

Jean-Franςois Copé, ehemaliger Parteichef der Républicains

Die traditionellen Parteien sind hinweggefegt. Die Sozialisten gibt es nicht mehr, die Républicains stehen vor Spaltung und Zerreißprobe. In dem er einen bürgerlichen Premier mit zwei republikanische Ministern ernannte, hat Macron die Republikaner schon fast geschluckt. Der Rest – der FN und Mélenchon – sind keine Opposition.

„Die Wähler haben noch eine Woche Zeit, um die Dinge ins Gleichgewicht zu bringen. Danach ist es für fünf Jahre zu spät“, warnt am Wahlabend der ehemalige Parteichef der Républicains, Jean-Franςois Copé. Er ahnt, dass es dazu nicht kommen wird: „Das Rote Meer hat sich geteilt, das passiert hin und wieder.“ Was sich da in Frankreich anbahnt, kommt der Einparteien-Herrschaft sehr nahe. „Viele Wähler schließen einfach die Augen“, so deutet es der Direktor des Umfrageinstituts Kantar Public: „Sie wollen, dass die Sache mit dieser Präsidentschaftswahl jetzt ganz durchgezogen wird. Man ist halb durch, es gibt kein Zurück mehr.“

… und ohne politische Kontrolle

Die Fünfte Republik ist so konstruiert, dass der Präsident, einmal gewählt, eine solide Mehrheit erhält. Aber eine Ein-Partien-Herrschaft auf dünner Wahlstimmen-Basis und ohne Opposition? „Macron und die Herausforderung der Hegemonie“, titelt am Montag nach der Wahl Le Monde. Einige dieser Herausforderungen sind schon absehbar: Etwa 100 der Abgeordneten Macrons sind ehemalige Sozialisten. Aber der Regierungschef und zwei entscheidende Minister kommen von den Républicains. Einen Monat lang hat Macron jetzt Politik für die rechten Wähler machen lassen, kommentiert Le Figaro. Kann das lange gut gehen?

Wie werden diese Abgeordneten, die alles der Entscheidung eines Mannes verdanken, ihre Macht ausüben, vor allem die der Kontrolle der Exekutive?

Le Monde

Und dann ist da die Versuchung der erdrückenden Mehrheit, warnt wieder Le Monde: „Wie soll man die Notwendigkeit der Debatte respektieren, wenn man sich erlauben kann, dem Widerspruch keine Aufmerksamkeit zu schenken?“  Das Blatt fragt weiter: „Wie werden diese Abgeordneten, die zum größten Teil politische Anfänger sind und alles der Entscheidung eines Mannes verdanken, ihre Macht ausüben, vor allem die der Kontrolle der Exekutive?“ Regierung ohne Opposition und ohne politische Kontrolle – ein heikles Experiment.

Opposition auf der Straße?

Und wie wird das skeptische Publikum das alles aufnehmen? Zwar habe Macron in seinen ersten Amtswochen vieles richtig gemacht, kommentiert Le Figaro: „Er hat in einigen Stunden zu dem präsidentiellen Format gefunden, dass sein Vorgänger fünf Jahre lang vergeblich gesucht hat.” Aber von Macron-Begeisterung kann keine Rede sein: Mit 57 Prozent Zustimmung liegt er gerade zwei Prozentpunkte über dem Wert von François Hollande zur gleichen Zeit vor fünf Jahren. Nach zehnmonatigem, so aufregendem wie ermüdendem Wahlkampf ist am vergangenen Sonntag über die Hälfte der Wähler schlicht zuhause geblieben.

Ich fürchte, dass die Opposition dann auf der Straße ist, sehr gewalttätig und geführt von der extremen Linken.

Jean-Franςois Copé

Die Skepsis überwiegt. Was Folgen haben könnte, warnt wieder Le Monde: „Wie soll man verhindern, dass der Protest, den es im Parlament nicht mehr gibt, sich anderswo Bahn bricht?“ Die Gefahr sieht auch der Republikaner Copé: „Mit 80 oder 100 Oppositionsabgeordneten gibt es keine Opposition mehr. Wo wird dann die Opposition sein? Ich fürchte, dass die dann auf der Straße ist, oft sehr gewalttätig, geführt von der extremen Linken.“