Sorgenkind Griechenland. Bild: Fotolia/refreshPIX
Griechenland

Europas griechischer Albtraum

325 Milliarden Euro – soviel hat Griechenland seit 2010 an öffentlichen Kredithilfen erhalten. Trotzdem ist Griechenland so wettbewerbsunfähig wie eh und je. In einer spannenden kurzen Studie erklärt ifo-Direktor Hans-Werner Sinn alle Griechenland-Zahlen und findet vier unerfreuliche Auswege aus der endlosen Misere.

Wer glaubt, er weiß, um welche Zahlen es beim aktuellen griechischen Schuldenpoker geht, der täuscht sich wahrscheinlich. Die beiden Rettungspakete aus den Jahren 2010 und 2012 sind in Erinnerung. Von etwa 240 Milliarden Euro war damals die Rede. Tatsächlich geflossen sind erst knapp 216 Milliarden. Was kein Trost ist, denn tatsächlich ist seit Beginn der Griechenlandkrise schon sehr viel mehr Geld im Spiel.

Die griechischen Kredit- und Rettungsmilliarden können schwindlig machen. Zum Glück gibt es da das Münchner ifo-Institut für Wirtschaftsforschung und seinen Direktor Hans-Werner Sinn. Niemand kann die griechischen Schreckenszahlen so gut anschaulich machen und erklären wie er. Zuletzt erklärte er, dass Griechenland für eine Übergangsperiode zwei Währungen brauche, zumindest solange, bis neue Banknoten gedruckt sind, eine neue nationale als gesetzliches Zahlungsmittel und den Euro als Parallelwährung. In einer eben erschienenen kleinen Studie über „Die griechische Tragödie“ rechnet er vor, das bis Ende März nicht nur 215, sondern satte 325,4 Milliarden Euro an Krediten von den Rettungseinrichtungen der EU, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Zentralbank (EZB) nach Athen geflossen sind. Denn zu den beiden Rettungspaketen kommen 17,2 Milliarden, die der Kauf griechischer Staatsanleihen durch die EZB und andere Euro-Notenbanken gekostet hat. Dazu rechnen muss man außerdem 96,4 Milliarden Euro Schulden der griechischen Notenbank, die im Target-Zahlungssystem der Eurozone aufgelaufen sind. Und schließlich hat die griechische Notenbank für etwa 14 Milliarden Euro mehr Banknoten ausgegeben, als ihrem Anteil am haftenden Kapital der EZB entspricht. Abzüglich einiger Zahlungen und Beiträge, die Athen seit Beginn der Krise geleistet hat, kommt Sinn auf jene 325,4 Milliarden Euro.

Hunderte von Milliarden Euro, aber Griechenland ist so wettbewerbsunfähig wie eh und je

Aber auch das ist noch lange nicht alles: nicht alles. 2012 erhielt Griechenland einen Schuldenschnitt im Umfang von 105 Milliarden Euro. Bis Ende März diesen Jahres hat die griechische Notenbank den Banken ihres Landes sogenannte ELA-Liquiditäts-Notkredite über 80 Milliarden Euro gewährt – für die die EZB und die anderen Notenbanken haften. Außerdem profitiert Athen schließlich von 52 Milliarden Euro Zinsersparnissen auf seine exorbitanten Staatsschulden. Wer will, kann so die Griechenland-Hilfen auf über 500 Milliarden Euro aufaddieren.

Diese riesigen Summen stehen in schrillem Gegensatz zu Athener Vorwürfen, die Troika aus EU, EZB und IWF hätten Griechenland ein brutales Sparregime aufgezwungen und es in eine humanitäre Katastrophe gezwungen, wundert sich Sinn. Das Gegenteil sei der Fall: Der Sparzwang kam von den Märkten, die Griechenland kein Geld mehr leihen wollten. Die Staatengemeinschaft und die Troika hätten vielmehr diesen Sparzwang mit eben jenen Hunderten von Milliarden „in einem Umfang gemildert, der ohne geschichtliche Parallelen ist“.

Was hat Athen aus den Hilfen gemacht, was haben die Giga-Kreditsummen in Griechenland bewirkt? Nicht viel konstatiert Sinn: Die Arbeitslosigkeit ist zwischen 2010 und 2015 von elf auf 26 Prozent gestiegen, die Jugendarbeitslosigkeit sogar von 30 auf 50 Prozent. Griechenlands Wirtschaftsleistung ist seit 2010 um 21 und die Industrieproduktion um zehn Prozent gesunken. Griechenland ist so wenig wettbewerbsfähig wie eh und je.

Nicht einmal die Hälfte der Reformauflagen erfüllt

Nicht zuletzt darum, weil die Reformauflagen, die die Troika als Gegenleistung für die Rettungskredite verlangt hatte, allenfalls „äußerst unzureichend erfüllt wurden“, so Sinn: Noch immer sind griechische Renten im Durchschnitt deutlich höher als in der Bundesrepublik. Statt Steuern konsequent einzutreiben, erlaubt die Regierung säumigen Steuerzahlern ihre Schulden über 100 Monate abzustottern. Mit 684 Euro liegt der monatliche Mindestlohn über dem Durchschnitt der meisten osteuropäischen Länder. Im verarbeitenden Gewerbe ist der durchschnittliche Stundenlohn mit 14,70 Euro fast doppelt so hoch wie in Polen. Insgesamt wurden von 787 Troika Reformauflagen nicht einmal die Hälfte erfüllt, so eine Auswertung der EU-Kommission. Privatisierungen brachten statt der erwarteten 50 Milliarden bis Ende 2014 nur 3,1 Milliarden Euro.

Schuld an der anhaltenden griechischen Misere ist das, was Ökonomen mit Bezug auf ein Phänomen der 60er Jahre die „Holländische Krankheit“ nennen. Sinn: „Je mehr öffentlicher Kredit dem Land zur Verfügung gestellt wird, desto länger lässt sich der Zustand der der fehlenden Wettbewerbsfähigkeit aufrecht erhalten, und zwar ungeachtet der politischen Reformauflagen.“ Einfach gesagt: Weil Griechenland soviel Geld erhalten hat, musste es nicht reformieren.

Die Rettungsmilliarden flossen in Konsum und Kapitalflucht

Griechenlands Finanzminister  Yanis Varoufakis – aber auch Linkspolitiker hierzulande – behaupten gerne, die Rettungsmilliarden seien eben nicht Griechenland, sondern nur den internationalen Gläubigern und europäischen Banken zugutegekommen. Das ist falsch, wie Sinns Zahlen und ein Blick auf Griechenlands privaten und öffentlichen Konsum zeigen: Während etwa in Deutschland der öffentliche und private Konsum seit 2005 von knapp über 90 auf heute 88,1 Prozent der Wirtschaftsleistung sank, ist er in Griechenland immer gestiegen. 2005 lag Griechenlands staatlicher und privater Konsum über 100 und 2010 bei 114,8 Prozent der Wirtschaftskraft. Für 2014 lautet die Ziffer 113,7 Prozent. Die Griechen konsumieren noch immer viel mehr, als sie erwirtschaften – „eine Entwicklung, die man nur schwer mit der griechischen These von der „humanitären Katastrophe in Einklang bringen kann“, meint Sinn.

Die Sache wird noch übler, wenn auf Griechenlands seit 2008 akkumuliertes Leistungsbilanzdefizit von 108 Milliarden Euro schaut – ebenfalls ein Konsum-Indikator – und auf die Kapitalflucht, die die öffentlichen Rettungsgelder ebenfalls möglich machten. Sinn geht davon aus, „dass von den öffentlichen Kreditmitteln, die Griechenland während der Krise bekommen hat, ein Drittel der Finanzierung der griechischen Leistungsbilanzdefizite, ein Drittel der Tilgung von griechischen Auslandsschulden und ein Drittel der Vermögensanlage von Griechen im Ausland diente.“ Soll heißen: Die Rettungsmilliarden werden von den Griechen außer Landes getragen. Und mit Target- und ELA-Notkrediten befeuert die griechische Notenbank die Kapitalflucht munter weiter: „Bereits Ende April verfügten die Bürger über Bargeldbestände von etwa 43 Milliarden Euro, und der Bestand der netto ins Ausland überwiesenen Geldbeträge lag bei 100 Milliarden Euro.“ Sinn weiter: „Beide Beträge wachsen Woche für Woche zusammen um etwa ein bis zwei Milliarden Euro, was 0,5 bis 1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes entspricht.“

Eine von vier unerfreulichen Optionen: befristeter Ausstieg aus dem Euro

Griechenlands Problem ist schon immer mangelnde Wettbewerbsfähigkeit. Zunächst durch den Euro-Beitritt, dramatisch niedrige Zinsen und ebenso dramatischer Verschuldung und nun durch Hunderte von Rettungsmilliarden ist es bis heute dabei bleiben. Für Sinn gibt es vier allesamt unangenehme Möglichkeiten, um Griechenlands mangelnde Wettbewerbsfähigkeit auszugleichen:

• Die übrigen Euro-Länder Länder könnten Griechenland dauerhaft alimentieren. Das, so Sinn, wäre der Weg in die Transferunion. Und wenn die anderen Krisenländer Irland, Portugal, Spanien, Italien und Zypern ähnliche Hilfe erhalten wollten, wie sie Griechenland schon erhalten hat – 182 Prozent der Wirtschaftskraft – würde das 5,5 Billionen Euro kosten.

• Man könnte Griechenland zu einer Deflation zwingen – dramatischen Lohn- und Preissenkungen. Aber dann könnten Haushalte, Firmen und Staat keinen Schuldendienst mehr leisten. Das würde zu massenhaften Konkursen führen und in eine sozial wie politisch heillose Situation – Weimar lässt grüßen.

• Die nordeuropäischen Länder könnten stattdessen inflationieren. Die EZB ist mit Nullzinspolitik und uferloser Geldpolitik schon dabei. Problem: Damit das Wirkung hat, müssten die Süd-Länder etwa zehn Jahre stagnieren und Deutschland ebenso lange eine massive Erhöhung seines Preisniveaus hinnehmen. Beides wäre kaum hinnehmbar.

Man sollte den temporären Austritt wie einen Hospitalsaufenthalt sehen. Man klinkt sich temporär aus und kehrt dann gesund wieder zurück.

Hans-Werner Sinn

• Als vierte Option bietet Sinn an, dass Griechenland befristet aus dem Euro aussteigt. Griechenland müsste selbstverständlich Mitglied der Europäischen Union bleiben und die Möglichkeit  erhalten, nach einer Gesundung und der Herstellung einer wettbewerbskonformen Wechselkurses den Euro wieder einzuführen. Sinn: „Man sollte den temporären Austritt wie einen Hospitalsaufenthalt sehen. Man klinkt sich temporär aus und kehrt dann gesund wieder zurück.“ Die Rückkehroption würde auch dazu führen, „dass Griechenland gegenüber den Verlockungen einer stärkeren Kooperation mit Russland gefeit wäre“, hofft der ifo-Direktor.

Transferunion oder wettbewerbsfähige Wirtschaften

Die größte Gefahr sind für Sinn weder der Griechenlands Euro-Austritt – der Grexit – noch eine neu aufbrechende Finanzkrise, sondern „dass Europa immer weiter im Schuldensumpf versinkt“. Das könne in schwere Staatskrisen münden und die Völker Europas gegeneinander aufbringen. Sinn: „Jetzt entscheidet sich, ob der Euroraum zu einer Transfer- und Haftungsgemeinschaft wird, bei der große Teile dauerhaft alimentiert werden, oder ob er eine Währungsunion mit funktionierenden Volkswirtschaften wird, die sich im weltweiten Wettbewerb behaupten können, weil sie sie auch im Inneren wettbewerblich aufgestellt sind.“

Das ifo-Institut sollte unbedingt ein Exemplar seiner Studie nach Brüssel schicken an EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.

Hans-Werner Sinn: Die griechische Tragödie, ifo Schnelldienst 29. Mai 2015, ifo Institut, 34 Seiten, 10,00 Euro.