Wohin geht die Reise?
Amtsübergabe im Elysée-Palast: Am Sonntag wird Emmanuel Macron Präsident eines Landes in der Krise: Das politische System löst sich auf, die Wirtschaft stagniert, die Gesellschaft ist radikalisiert. Im Juni muss er um eine Parlamentsmehrheit kämpfen.
Frankreich

Wohin geht die Reise?

Amtsübergabe im Elysée-Palast: Am Sonntag wird Emmanuel Macron Präsident eines Landes in der Krise: Das politische System löst sich auf, die Wirtschaft stagniert, die Gesellschaft ist radikalisiert. Im Juni muss er um eine Parlamentsmehrheit kämpfen.

Frankreichs neue Zeitrechnung beginnt im Hof des Louvre. Den Ort hatte sich Emmanuel Macron ausgesucht für den Auftritt am Abend seines großen Wahltriumphes. Nicht den Place de la Bastille, Revolutions-Fetisch der Sozialisten. Auch nicht den Place de la Concorde, Erinnerungsort nationaler Größe für Frankreichs bürgerliche Rechte.

„Weder noch“, hat Emmanuel Macron einen Wahlkampf lang gesagt: „Weder links noch rechts.“ Am Wahlabend ist er der Devise treu geblieben: Weder Revolution noch Imperium, weder Danton noch Napoleon. Sondern den Louvre, einstige Residenz der Könige, heute Ort der Begegnung des tausendjährigen Frankreich mit dem Heute und Bewunderern aus der ganzen Welt. Der gewählte Präsident Macron beginnt seine große Reise anders als seine Vorgänger. Er will ganz woanders hin.

Das politische System der Fünften Republik gesprengt

Was Frankreich mit Emmanuel Macron erlebt, kommt einer Revolution nahe – vielleicht konnte er darum so leicht auf die Bastille-Erinnerung verzichten. Vor drei Jahren kannte ihn fast niemand. Heute ist er mit 39 Jahren der jüngste Staatschef, den das moderne Frankreich je hatte – seit Napoleon. Nur ein Jahr alt ist seine Bewegung En Marche! – Vorwärts. Nur mit ihr hat er Frankreichs zwei große alte Regierungsparteien eliminiert und „alle Gesetze der politischen Schwerkraft“ (Le Monde) widerlegt.

Macron hat alle Gesetze der politischen Schwerkraft widerlegt.

Le Monde

Macron hat das politische System der Fünften Republik gesprengt. Nichts ist geblieben vom 60 Jahre alten Links-Rechts-Parteiensystem. Von der „völlständigen Neugründung unsers politisches System“ sprach Macron denn auch schon vor der zweiten Wahlrunde.  Der junge Präsident verkörpert regelrecht Generationswechsel, Umbruch und Neuanfang. „Die Franzosen werden entdecken, dass sie ein kleines Genie gewählt haben“, sagt ein viel älterer, erfahrener politischer Begleiter Macrons: „Er ist ein außergewöhnlicher Mann, der wirklich das Land verändern kann.“

Frankreich in tiefster Depression

Das muss er nun auch. Denn: Frankreichs alte Probleme sind geblieben, vor allem die wirtschaftlichen. Macron tritt an als junger dynamisch-optimistischer Präsident eines Landes in tiefster Depression: Massenarbeitslosigkeit seit 30 Jahren, dürftiges Wirtschaftswachstum. Die Industriequote ist auf 11,1 Prozent gesunken (Deutschland: 22,6), die Außenhandelsbilanz ist seit Jahren negativ. Die Staatsausgaben fressen 57 Prozent der Wirtschaftsleistung (Deutschland: 44). Die Staatsverschuldung steht bei 96 Prozent. Das Land zahlt 42 Milliarden Euro nur für Schuldendienst – bei Niedrigstzinsen. Das Haushaltsdefizit liegt seit 2008 über der Maastrichter 3-Prozent-Grenze.

Die beiden großen Parteien konnten die Probleme unseres Landes nicht mehr lösen.

Emmanuel Macron

Das Land wehrt sich gegen Reformen. Schon immer. Sozialistische wie bürgerliche Regierungen haben sie darum nie wirklich gewagt. „Wir haben alles versucht – vergeblich“, soll der Sozialist Mitterrand einmal zum Thema Arbeitslosigkeit gesagt haben. Das war Anfang der 90er. Dazu Macron vor der entscheidenden zweiten Wahlrunde: „Die beiden großen Parteien konnten die Probleme unseres Landes nicht mehr lösen.” Jetzt also das junge Genie. Zwei Jahre lang war er Wirtschaftsberater für den gescheiterten Präsident Hollande, dann zwei Jahre dessen Wirtschaftsminister. Vorher Investment-Banker und davor hoher Beamter im Finanzministerium. Von Wirtschaft und Finanzen versteht er etwas. Was nicht selbstverständlich ist in der Politik.

Vage Reformpläne − und europäische Transferunion

Doch einen Wahlkampf lang sind seine Reformpläne vage geblieben. Der unabhängige Kandidat wollte Stimmen sammeln links und rechts und überall: Steuern für Haushalte und Unternehmen sollen um 10 Milliarden Euro sinken. Zugleich sollen in fünf Jahren die Staatsausgaben um 60 Milliarden schrumpfen. Wie, das hat er nicht gesagt. Dafür spricht er von Wachstums-Gewinnen, die das Defizit zurückführen sollen. So hat fünf Jahre lang auch Hollande geredet: Wachstum statt Reform und Sparkurs. Macron wolle das Land allenfalls „mit homöopathischen Dosen reformieren“ und schrecke davor zurück, „seinen Landsleuten reinen Wein einzuschenken“, kommentiert die Neue Zürcher Zeitung.

Investitionen müssen irgendwo herkommen. Wie Hollande blickt auch Macron genau dafür auf Europa – und wird plötzlich konkret: Investitionsprogramme aus Brüssel sollen es richten. Die Eurozone soll dazu einen Wirtschaftsminister mit großem Etat erhalten und ein eigenes Parlament. Ein gemeinsames Einlagensicherungssystem soll die Bankenunion vollenden. Schon als Hollandes Wirtschaftsminister hat er sich für die Vergemeinschaftung von Schulden und für Eurobonds stark gemacht.

Das alles ist schon hundert Mal durchdiskutiert worden. Macrons Vorhaben würden die Maastrichtverträge erledigen, den Euro auf eine völlig andere Basis stellen und in die europäischen Umverteilungsunion führen – für Deutschland und andere nördliche EU-Zahlerländer unakzeptabel. Bis zur Bundestagswahl im September wird Macron wohl still halten. Aber danach droht Streit zwischen Paris und Berlin. Wenn Macron dann zuhause unter Druck steht, wird es nicht leichter werden, nicht für Paris und nicht für Berlin.

Vor den Parlamentswahlen

Dazu könnte es kommen. Denn Macron startet als schwacher Präsident. Seine Zweidrittel-Mehrheit aus der zweiten Wahlrunde ist reine Fiktion. Seine Wählerbasis ist nicht größer als die 24 Prozent aus der ersten Wahlrunde – kaum 20 Prozent der Wahlberechtigten. Fast die Hälfte der Wähler haben radikal gewählt. Die einstigen radikalen Randparteien haben plötzlich das Potential für Mehrheiten. 25,4 Prozent der Wahlberechtigten sind nicht zur Wahl gegangen, 11,4 Prozent haben extra ungültige weiße Wahlstimmen abgegeben – ein Rekordwert. „Rebellion liegt in der Luft“, warnte die Pariser Tageszeitung Le Monde zwei Tage nach der Wahl.

Wir müssen eine starke Mehrheit bauen – eine Mehrheit für den Wechsel.

Emmanuel Macron

„Unsere Aufgabe ist immens und zwingt uns dazu, ab morgen eine echte Mehrheit, eine starke Mehrheit zu bauen – eine Mehrheit für den Wechsel“. Am Wahlabend hat Macron das gesagt, im Hof des Louvre. Gemeint hat er damit die Parlamentswahlen am 11. und 18. Juni. Problem: In einer aktuellen Umfrage sagen 61 Prozent der Wähler, dass sie keine Parlamentsmehrheit für Macrons Bewegung wünschen. Die wandelt sich gerade zur Partei: La France En Marche! Im Juni will sie in allen 577 Wahlkreisen antreten, mit eigenen Kandidaten oder mit Sozialisten, Republikanern und anderen, die sich ihnen anschließen.

Rebellion liegt in der Luft.

Le Monde

Ausgeschlossen ist nicht, dass Macrons Rechnung aufgeht. Die Wähler wollen Erneuerung, unbedingt. Die Sozialistische Partei ist in Auflösung begriffen. Kein Wunder: Zwischen Macrons Mitte-Links-Bewegung und Mélenchons Linksradikalen ist für eine weitere Mitte-Links-Partei kein Platz mehr. Die bürgerlichen Les Républicains widerstehen der Anziehungskraft Macrons – noch. Ihr Ziel: die Parlamentswahl gewinnen und Macron die Kohabitation mit einer bürgerlichen Mehrheit und einem bürgerlichen Premierminister aufzwingen.

Kohabitation mit den Républicains?

Für Reformen brauche Macron eine eigene Mehrheit, heißt es. Wirklich? Das Programm der Republikaner steht Macrons Reformen nicht im Wege. Im Gegenteil: Die Kohabitation mit einer republikanischen Mehrheit würde Reformen eher befördern – echte Reformen. Vielleicht wäre die Kohabitation mit den Républicains tatsächlich das Beste – für Macron und für Frankreich.

Und dann ist da noch etwas: Ohne starkes Ergebnis der Républicains droht die Gefahr, dass Le Pens Front National die Rolle der einzigen effektiven Oppositionspartei zufällt. An die Stelle des 60 Jahre alten Links-Rechts-Schema träte dann ein ganz anderer Dualismus in Frankreich: Macron und seine Partei gegen den Front National. Das kann niemand wollen.

Ich glaube, die Franzosen werden uns wieder überraschen.

Luc Chatel (Les Républicains)

Frankreich ist En Marche! – aufgebrochen – nur wohin? Der 18. Juni, die zweite Runde der Parlamentswahlen, wird es weisen. Vielleicht soll man sich einfach auf die Franzosen verlassen, sagt Luc Chatel, eine Parteigröße der Républicains: „Die Franzosen haben in den vergangenen Wochen alle politischen Regeln Lügen gestraft. Ich glaube, dass sie es wieder tun und uns wieder überraschen werden.“

Frankreichs politische Landschaft in vollständigem Umbruch, die Wirtschaft am Rande des gefühlten Bankrotts, die Gesellschaft zerrissen, gespalten, gar radikalisiert. Macron weiß, dass er nicht einen Tag Regierungszeit verwarten oder verschwenden darf. Am kommenden Sonntag wird er sein Amt übernehmen − und muss sofort loslegen, vor den Parlamentswahlen und ohne eigene Mehrheit: „Ich werde keine politische Schonfrist haben, ich werde nicht so regieren können, wie man seit 1958 regiert hat, denn sonst wird nichts erreicht werden.” Das klingt nach Entschlossenheit, nach Konfliktbereitschaft sogar. Kann das gut gehen? Frédéric Mitterrand, Präsidenten-Neffe und ehemaliger Kulturminister, wagt eine optimistische Prognose – für das Land und für den jungen Präsidenten: „Ich glaube, Frankreich wird sich in Macron verlieben.“