Der ehemalige spanische Ministerpräsident José Maria Aznar. (Bild: imago)
José Maria Aznar

Existenzkrise der EU

Die Europäische Union befinde sich in ihrer ersten Existenzkrise, warnt der ehemalige spanische Premierminister José Maria Aznar und rät zu größerem europapolitischem Realismus: „Mehr Europa zu wollen, würde die Europäische Union sprengen.“ Die EU müsse sich auf jene großen gemeinsamen Aufgaben konzentrieren, die man teilen könne, und die anderen den Nationalstaaten überlassen.

Jetzt mehr Europa zu wollen, würde die Europäische Union sprengen, warnt Spaniens konservativer Elder Statesman José Maria Aznar im Interview mit der Pariser Tageszeitung Le Figaro. Der einstige Vorsitzende der spanischen Volkspartei war von 1996 bis 2004 Spaniens Ministerpräsident und hat große Erfahrung im Umgang mit der EU.

Die Europäische Union muss sich auf diejenigen gemeinsamen Aufgaben konzentrieren, die man teilen kann. Und die anderen Aufgaben müssen von den Nationalstaaten wahrgenommen werden.

José Maria Aznar

Die Europäische Union durchlaufe derzeit keine übliche Krise, so Aznar. Denn die klassischen EU-Krisen seien durch die Erweiterung der Zahl der Mitgliedsstaaten entstanden, was dann zu einer Krise im System der Entscheidungsfindung geführt habe. Aznar: „Aber heute stehen wir der ersten existentiellen Krise seit der Entstehung der Europäischen Union gegenüber.“ England verlasse die EU und andere Länder drohten, je nach Wahlausgang, den Briten zu folgen.

Sprengstoff für die EU

In dieser Situation würde „mehr Europa“ die Europäische Union sprengen, warnt der spanische Expremier und jahrzehntelanger Anhänger der europäischen Idee. „Die Europäische Union muss sich auf diejenigen gemeinsamen Aufgaben konzentrieren, die man teilen kann, meinetwegen in verschieden Geschwindigkeiten, wenn man das will. Und die anderen Aufgaben müssen von den Nationalstaaten wahrgenommen werden.“

Ich schlage nicht weniger Europa vor, sondern das Europa, das möglich ist.

José Maria Aznar

Aznar will damit nicht „weniger Europa“ vorschlagen, sondern „das Europa, das möglich ist“. Man könne die Bankenunion fertigstellen, den freien Handel stärken, Reformen angehen, eine gemeinsame Energiepolitik verfolgen und andere Dinge mehr. „Aber eine Antwort auf der Basis von mehr Integration, mehr Abgabe von Souveränität – Nein!“ Aznar: „Die Menschen sagen uns, dass sie dieses Europa so nicht mögen, und dann kann man ihnen doch nicht davon noch mehr geben. Das wäre völlig absurd!“

Aznar schließt sein Plädoyer für größeren europapolitischen Realismus mit dem Hinweis auf ein derzeit viel diskutiertes Politik-Beispiel: „Wie sollen wir etwa ein gemeinsames Europa der Verteidigung konstruieren, wenn wir nicht einmal in der Lage sind, im Rahmen der Nato zwei Prozent unserer Wirtschaftskraft für Verteidigung aufzubringen? Das hat doch überhaupt keinen Sinn!“