Auf dem Weg ins Sultanat
Präsident Erdogan will die ungeteilte Macht – bis ins Jahr 2034. Seine Verfassungsreform macht Schluss mit der Gewaltenteilung. Unterdessen kommt die Türkei in wirtschaftliche Bedrängnis: Die Währung fällt, das Kapital flieht. Erdogan will per Inflation Wachstum erzwingen – und befeuert die Krise.
Türkei

Auf dem Weg ins Sultanat

Präsident Erdogan will die ungeteilte Macht – bis ins Jahr 2034. Seine Verfassungsreform macht Schluss mit der Gewaltenteilung. Unterdessen kommt die Türkei in wirtschaftliche Bedrängnis: Die Währung fällt, das Kapital flieht. Erdogan will per Inflation Wachstum erzwingen – und befeuert die Krise.

Das ist fast ein Bankrott-Wert: 11,81 Prozent Rendite muss die Türkei auf zehnjährige Staatsanleihen zahlen. Für Venezuela, das auch ohne Zahlungsausfall als praktisch bankrott betrachtet werden darf, beträgt der Wert nur 10,43 Prozent. Auf der Liste mit Wirtschafts- und Finanzindikatoren für 43 Länder, die das Londoner Magazin The Economist jede Woche druckt, belegt die Türkei mit ihrem Rendite-Wert derzeit den allerletzten Platz. Die Finanzmärkte, heißt das, vertrauen nicht mehr auf die wirtschaftliche Stabilität des Landes, halten sich mit Investitionen zurück oder ziehen gar ihre Gelder aus der Türkei ab.

Lira-Absturz

Was Folgen hat: Die türkische Landeswährung stürzt in den Keller. In den ersten beiden Wochen des Jahres hat die türkische Lira gegen Dollar und Euro zehn Prozent verloren, in den vergangenen drei Monaten 20 Prozent. 3,94 Dollar mussten die Türken zuletzt für einen Dollar bezahlen – ein Rekordwert. Im vergangenen Juni lag der Dollarkurs noch bei 2,93 und vor zweien Jahren gar bei 2,40 Lira. Jetzt ist die psychologisch kritische Vier-Dollar-Marke in Sicht.

90 Prozent der Auslandsschulden der Türkei sind Dollar-Schulden.

Die rasante Lira-Talfahrt bringt die türkische Wirtschaft in Gefahr: Alle Einfuhren werden teurer. Das Land ist auf den Import von Rohstoffen angewiesen. Besonders auf den von Öl, dessen Preis sich im vergangenen Jahr verdoppelt hat. Mit dem Verfall der Lira kommen Staat und Unternehmen finanziell unter Druck: Die Auslandsverschuldung der Türkei von 55 Prozent der Wirtschaftsleistung (The Economist) verteuert sich. 90 Prozent der türkischen Auslandsschulden sind Dollar-Schulden. Noch bedrohlicher: 40 Prozent der Schulden türkischer Unternehmen sind Nicht-Lira-Kredite (Neue Zürcher Zeitung). Wenn die Währung weiter verfällt, droht dem Land eine Insolvenzwelle. Was dann schnell die türkischen Banken in Schwierigkeiten bringen könnte. Ratingagenturen warnen schon vor einer Zunahme fauler Kredite.

Eine Krise kündigt sich an: Vor einem Jahr erwartete Ankara für 2016 etwa 4,5 Prozent Wachstum. Es sind bestenfalls 2,7 Prozent geworden, mit fallender Tendenz: Im dritten Quartal des vergangenen Jahres ist die türkische Wirtschaft um 1,8 Prozent geschrumpft – noch vor den letzten Ölpreissprüngen und dem jüngsten, beschleunigten Abwärtstrend der Lira.

Kapitalflucht

Auf 4,7 Prozent der Wirtschaftsleistung beläuft sich das chronische Außenhandelsdefizit der importabhängigen Türkei. Lira-Verfall und steigender Ölpreis werden es weiter wachsen lassen. Um es zu begleichen und seine Einfuhren bezahlen zu können, ist das Land auf fremdes Geld angewiesen, auf ausländische Investitionen. Doch die bleiben aus. Davon zeugt die hohe Rendite auf türkische Staatsanleihen.

Über 80 Prozent des türkischen Leistungsbilanzdefizites werden über kurzfristige Investitionen finanziert, errechnete schon vor drei Jahren die Neue Zürcher Zeitung. „Heißes Geld“, das ebenso schnell wieder abfließen kann, wie es gekommen ist. Was die türkische Finanzlage notorisch wackelig macht. Tatsächlich sind 2016 ausländische Direktinvestitionen in der Türkei um etwa ein Drittel gesunken. Investoren-Gelder fließen ab. Der Trend wird sich verstärken, wenn etwa in den USA die Zinsen weiter steigen. Das „heiße Geld“ wird fliehen.

Die Einnahmen aus dem Tourismus-Sektor sind um 20 bis 30 Prozent gesunken.

Was Außenhandelsdefizit und Kapitalnot erhöht: Die Einnahmen aus dem Tourismus-Sektor sinken. In den vergangenen Jahren trug der Tourismus mit jährlichen Einnahmen von etwa 30 Milliarden Dollar fast fünf Prozent zur Wirtschaftsleistung bei. Nicht mehr: Terroranschläge, Reisewarnungen und wachsende politische Instabilität verschrecken die Touristen. Im vergangenen Jahr dürfte der Sektor um zwischen 20 und 30 Prozent geschrumpft sein.

Autokratische Finanzpolitik

Die Türkei braucht dringend neues Kapital.  Doch das wird nur kommen, wenn sich die Landeswährung stabilisiert. Vor allem eine Maßnahme könnte dazu beitragen: höhere Zinsen. Tatsächlich hat die türkische Notenbankbank im November den Leitzins von 7,5 auf 8,0 Prozent erhöht. Was bei weitem nicht reicht: Denn die Inflation betrug im Dezember 8,5 Prozent und strebt jetzt gegen neun Prozent. Um den Währungsverfall aufzuhalten, bräuchte es eine Leitzinserhöhung um vier Prozentpunkte, sagen Experten. Erwartet wird aber für den nächsten möglichen Termin am 24. Januar eine Erhöhung um allenfalls 0,5 Punkte.

Ich kann nicht zulassen, dass die Rechte, Ansprüche und Ressourcen der Nation über hohe Zinsen verschwendet werden.

Präsident Recep Erdogan

Die Zentralbank wagt nicht zu tun, was ökonomisch geboten wäre. Das hat einen Grund: Staatspräsident Recep Erdogan, der Zinsen nicht erhöhen, sondern senken will. Theoretisch ist die türkische Notenbank unabhängig. Was für Erdogan nicht viel heißt: „Ich kann nicht zulassen, dass die Rechte, Ansprüche und Ressourcen der Nation über hohe Zinsen verschwendet werden.“ Die Notenbanker verstehen die Drohung und fügen sich. Zumal Erdogan gegen höhere Zinsen auch das Zinsverbot des Islam ins Felde führt.

Erdogan dehnt seinen autokratischen Regierungsstil auf die Wirtschaft aus – ohne Rücksicht auf die Gesetze der Volkswirtschaft. Für den Lira-Verfall macht er, ähnlich wie sein russisches Vorbild Wladimir Putin, eine „Zinslobby“ verantwortlich und einen Komplott auswärtiger Finanzinstitute gegen die Türkei. Trotz des Verfalls der Lira besteht Erdogan auf Fortsetzung der Politik des billigen Geldes. Aus nur einem Grund: Erdogan will Wirtschaftswachstum um jeden Preis. Der Autokrat und Populist braucht die Zustimmung seiner Wähler – vor einer Volksabstimmung über eine neue präsidiale Verfassung mehr denn je. Um seine Wähler bei der Stange zu halten, will er ihnen vor allem eines liefern: Die ohnehin hohe Arbeitslosigkeit darf nicht weiter steigen.

Erdogans gefährlichstes Problem: Arbeitslosigkeit

Ein vergebliches Unterfangen, seit vergangenen Juni ist die Arbeitslosigkeit in der Türkei von 10,1 (The Economist) auf jetzt 11,3 Prozent gestiegen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt mit etwa 18 Prozent noch höher. Weit über drei Millionen Türken finden keine Arbeit. Im vergangenen Jahr hat Erdogan allen Ernstes einmal vorgerechnet: Wenn die 1,5 Millionen Mitglieder des Verbandes der türkischen Handelskammern und Börsen jeweils einen Arbeitslosen einstellten, wäre das Problem schon zur Hälfte gelöst. Erdogan: „Kollabiert ein Unternehmen, nur weil es einen mehr beschäftigt? Treibt es deswegen auf den Bankrott zu?“ Autokratische Wirtschaftspolitik – wer weiß, wohin sie Erdogan und die Türkei noch führt.

Damit die in den Arbeitsmarkt strömenden Schulabgänger in Lohn und Brot zu gesetzt werden können, muss die türkische Wirtschaft jährlich um mindestens vier Prozent wachsen.

Wie auch immer. Erdogan hat jedenfalls ein demographisches Problem: Seit 1950 hat sich die türkische Bevölkerung von 21 Millionen auf heute fast 80 Millionen knapp vervierfacht. Derzeit wächst die Bevölkerung jährlich um fast ein Prozent. 41 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 25 Jahre. Damit die jedes Jahr in den Arbeitsmarkt strömenden Schulabgänger in Lohn und Brot zu gesetzt werden können, muss die türkische Wirtschaft jährlich um mindestens vier Prozent wachsen − wovon sie jetzt weit entfernt ist. Umso wütender will Erdogan Wachstum um jeden Preis – ohne Rücksicht auf Inflation, Währung oder die Gesetze der Ökonomie. Doch derzeit sieht es nicht so aus, als ginge seine Rechnung auf.

Neue Verfassung ohne Gewaltenteilung

Zur wirtschaftlichen Instabilität kommen wachsende politische Risiken: Erdogan will die vollständige, ungeteilte Macht. Nichts anderes steht in der neuen radikal-präsidialen Verfassung, die das Parlament in Ankara derzeit behandelt: Der Ministerpräsident soll abgeschafft werden. Der Staatspräsident wird zugleich sein eigener Regierungschef. Er bestimmt die Minister und braucht für die Regierungsbildung nicht die Zustimmung des Parlaments. Das ihn auch nur sehr theoretisch kontrollieren kann: Laut Verfassungsentwurf erhält der Präsident das Recht, per Dekret zu regieren – ohne Parlamentsabstimmung. Parlamentsbeschlüsse kann er per Veto aufheben und das Parlament jederzeit auflösen.

Der Präsident wird sozusagen neuer Sultan und die Türkei wieder zum Sultanat.

Das Parlament wird nicht nur machtlos, sondern im Grunde überflüssig. Der Präsident erhält zugleich ausführende (exekutive) und gesetzgeberische (legislative) Gewalt. Damit nicht genug: Da der Präsident künftig auch fast alle Top-Positionen der Justiz besetzt, bekommt er auch die rechtsprechende (judikative) Gewalt in die Hand: Vom Demokratie-Gebot der Gewaltenteilung wird in der neuen, radikal-präsidialen Türkei nichts mehr übrig bleiben. Der Präsident – und das wird dann zunächst einmal Erdogan sein – wird sozusagen neuer Sultan, die Türkei wieder zum Sultanat. Also zur Diktatur.

Viele Wähler wissen nicht, worum es geht

Weil Erdogans islamistische AKP-Partei auch zusammen mit der nationalistischen MHP-Partei im Parlament nicht über die zur Verfassungsänderung nötige Zweidrittel-Mehrheit verfügt, muss Erdogan die neue Verfassung den Wählern zur Abstimmung vorlegen. Auch dem Beschluss zum Referendum müssen 330 von insgesamt 550 Abgeordneten zustimmen. Das scheint gesichert, nachdem etliche unliebsame Abgeordnete mit verschiedenen Methoden zum Schweigen gebracht wurden. Schon Anfang April könnten darum die Wähler zur Abstimmung über die neue Verfassung gerufen werden.

Zeitungen und Fernsehen berichten nicht ernsthaft über die Verfassungsreform und die Parlamentsverhandlungen darüber.

Werden sie sich an der Wahlurne zur Rückkehr ins Sultanat entscheiden? Umfragen zufolge hat paradoxerweise die große Mehrheit der Bevölkerung von den neuen Verfassungsbestimmungen und ihrer Bedeutung keine oder nur geringe Kenntnis. Was leicht zu erklären ist: Hunderte kritische Journalisten sitzen in den Gefängnissen. Kein Zufall: Unmittelbar vor Beginn der Parlamentsverhandlungen über den neuen Verfassungstext wurden zwei hohe Manager des Dogan-Medienkonzerns verhaftet. Zur Dogan-Mediengruppe gehört auch die Tageszeitung Hürriyet, mit einer Auflage von 400.000 eine der größten Zeitungen des Landes. Das Blatt, das jeden Tag mit dem Bildnis von Republik-Gründer Kemal Atatürk im Kopf erscheint, war lange Zeit die schärfste kritische Stimme gegen Erdogan. Nicht mehr. Einschüchterung, Säuberung und Gleichschaltung tun ihre Wirkung: Zeitungen und Fernsehen berichten nicht ernsthaft über die Verfassungsreform und die Parlamentsverhandlungen darüber.

Präsident bis 2034

Wenn Erdogan mit seinem stillen Putsch – denn nichts anderes bedeutet die Verfassungsreform – durchkommt, dann auf lange Zeit. Gelten soll die neue Verfassung ab der Präsidentschaftswahl 2019. Der Verfassungstext gewährt dem Präsidenten dann zwei fünfjährige Amtsperioden. Aber auch danach muss laut Artikel 11 noch nicht Schluss sein: „Sollte das Parlament in der zweiten Amtsperiode des Präsidenten Neuwahlen beschließen, kann der Präsident noch einmal kandidieren.“ Für die vorgezogene Neuwahl im Jahr 2029 wird Präsident Erdogan dann schon sorgen. Und noch einmal fünf Jahre regieren – also womöglich bis 2034.

Bleibt mit Blick auf Lira- Verfall und drohende Finanz- und Wirtschaftskrise eine Frage: Ob die Aussicht auf ein Erdogan-Sultanat die Investoren ins Land zurück bringt? Wenn nicht, wie zu erwarten ist, dann steht der Türkei der große wirtschaftliche Sturz noch bevor.