Untersuchungsbericht zum Abschuss der MH17: Die Ursache war ein russisches Buk-Flugabwehrsystem. (Bild: Imago: Hollandse Hoogte)
MH17-Abschuss

Russlands Rakete

Eine russische Rakete hat am 17. Juli 2014 Flug MH17 über der Ostukraine abgeschossen. Das Raketensystem kam aus Russland und wurde nach dem Abschuss schnell dorthin zurück gebracht. Das kann ein Internationales Ermittlerteam jetzt gerichtsfest belegen. Die Ermittler haben außerdem 100 Personen namentlich identifiziert, die am Abschuss beteiligt waren. Bleibt eine Frage: Wer gab den Befehl?

Langsam schließt sich die Schlinge um die Verantwortlichen für den Abschuss der Passagiermaschine mit der Flugnummer MH17 an jenem Nachmittag des 17. Juli 2014. Ermittler des Internationalen Joint Investigation Team (JIT) haben am gestrigen Mittwoch in Nieuwegein bei Utrecht ihren Vorläufigen Bericht der Kriminaluntersuchung MH17 sowie zahlreiche Beweise vorgelegt. Die Ermittler haben etwa 100 Personen namentlich identifizieren können, die sie mit dem Abschuss des malaysischen Linienjets und dem Transport des russischen Raketensystems, das sie dafür verantwortlich machen, in Verbindung bringen. In den weiteren Ermittlungen wird es nun darum gehen, persönliche Schuld exakt festzumachen und gerichtsfest zu belegen.

Gerichtsfeste Beweise

„Es sind überzeugende und unwiderlegbare Beweise”, sagte der Chef der niederländischen Kriminalpolizei, Wilbert Paulissen, am Mittwoch. Die Ermittler kennen die Tatwaffe: Eine russische Buk-Luftabwehrrakete. Sie wissen, woher sie kommt: Russland. Sie können bis auf den Quadratmeter genau die Stelle angeben, von der aus am 17. Juli 2014 die Rakete abgefeuert worden war: ein Feld bei Perwomajske im Gebiet der pro-russischen Separatisten. Und sie wissen auch, dass das mobile Raketensystem danach wieder nach Russland zurück transportiert worden war. Die Erkenntnisse stützten sich auf die Auswertung von Satellitenbildern − übrigens auch der europäischen Raumfahrtagentur ESA −, ukrainischen und russischen Radaraufzeichnungen und Informationen der Geheimdienste, berichten die Ermittler.

Die Ermittler können bis auf den Quadratmeter genau die Stelle angeben, von der aus am 17. Juli 2014 die Rakete abgefeuert worden war: ein Feld bei Perwomajske im Gebiet der pro-russischen Separatisten.

Die Rakete explodierte in gut zehn Kilometer Höhe, ganz in der Nähe der Boeing 777 der Malaysia Airlines. Tausende kleine Metallteile bohrten sich von außen in die Maschine. Dann stürzte sie ab. 298 Menschen starben − und manche von ihnen erst nach 90 grauenvollen Sekunden, schreibt jetzt die US-Online-Zeitung The Daily Beast. Seit über zwei Jahren fordern die Angehörigen eine Antwort auf die Frage: Wer ist dafür verantwortlich? „Wir sind einen Schritt näher an der Wahrheit”, sagte Robby Oehlers. Seine 20-jährige Cousine und deren 23-jähriger Freund Bryce waren getötet worden.

Die Rakete kam aus Russland

„Das Buk-Raketensystem, das benutzt wurde, ist vom Territorium der Russischen Föderation in die Ost-Ukraine gebracht worden”, heißt es im schriftlichen JIT-Bericht. Das Ermittlungsteam „hat einen großen Teil der Route, den das Buk-System und begleitende Fahrzeuge genommen haben, exakt rekonstruieren können”. Und weiter unten: „Die Untersuchung zeigt auch, dass das Buk-System anschließend, nachdem es Flug MH17 abgeschossen hatte, in die Russische Föderation zurück geführt wurde.”

Die Untersuchung zeigt überdies, dass das Buk-System vom Territorium der Russischen Föderation hereingebracht und anschließend, nachdem es Flug MH17 abgeschossen hatte, in die Russische Föderation zurück geführt wurde.

Joint Investigation Team

Was die Schuldzuweisung besonders klar macht: Die Ermittler können anhand abgefangener und aufgezeichneter Telefongespräche belegen, dass pro-russische Separatisten nur Tage vor dem Abschuss bessere Flugabwehrsysteme angefordert hatten, um sich gegen Luftangriffe verteidigen zu können: „In diesem Zusammenhang wurde explizit über das Buk-Raketensystem gesprochen.” Es wurde prompt geliefert − allerdings nur ein System und nicht zwei, wie von den Separatisten erwartet.

100 beteiligte Personen namentlich identifiziert

Jetzt, so der Bericht, gehe es darum, folgende Fragen zu beantworten: „Wer war dafür verantwortlich? Welche Personen waren in die Lieferung, den Begleitschutz und die Rückführung des Buk-Systems und/oder für den Abschuss von Flug MH17 verantwortlich?” Tatsächlich haben die Ermittler schon etwa 100 Personen namentlich identifizieren können, die am Transport des Buk-Systems beziehungsweise am Abschuss beteiligt gewesen sein sollen. Diese Personen, so der Bericht, „sind nicht automatisch Verdächtige”.

Insbesondere bitten wir Insider-Zeugen, die uns mehr darüber sagen können, welche Rollen die verschiedenen Personen gespielt haben, sich zu melden.

Joint Investigation Team

Um beurteilen zu können, in wie weit die beteiligten Personen schuldhaft und mit Vorsatz handelten, wollen sich die Ermittler nun ein besseres Bild über die Befehlskette bei der Bedienung des Waffensystems verschaffen: „Wer hat die Befehle zur Lieferung des Buk-Systems gegeben? Wer hat den Befehl gegeben, MH17 abzuschießen? Hat die Besatzung (des Buk-Systems) den Entschluss eigenmächtig gefasst oder führte sie einen Befehl aus, der von weiter oben kam? Was genau wussten diejenigen Personen, die in diese Operation verwickelt waren?” Das Ermittlerteam ruft darum noch einmal Zeugen auf, Aussagen zu machen: „Insbesondere bitten wir (ostukrainische oder russische, A.d.V.) Insider-Zeugen, die uns mehr darüber sagen können, welche Rollen die verschiedenen Personen gespielt haben, sich zu melden.“

Strafrechtliche Ermittlung

Fünf Länder beteiligen sich an der strafrechtlichen Untersuchung. Da die meisten der Opfer aus den Niederlanden kamen, hat das Land auch die Leitung übernommen. Täglich arbeiteten 100 bis 200 Kriminalbeamte an diesem Fall, seit über zwei Jahren. Sie untersuchten bisher fünf Milliarden Internetseiten, 500.000 Fotos, 150.000 abgehörte Telefongespräche, vernahmen über 200 Zeugen. Es gibt viele Daten und Beweise: Satellitenaufnahmen, Informationen verschiedener Geheimdienste, Fotos und Videos.

Bei einer normalen Ermittlung wäre bei dieser Beweislage wohl längst ein Haftbefehl ausgestellt worden. Doch der Fall MH17 ist nicht normal. Seit Juli 2014 wütet um die Katastrophe ein Propagandakrieg. Russland und die Ukraine beschuldigen sich gegenseitig. Vor allem Moskau bringt immer wieder angeblich neue Beweise für die Schuld der Ukraine ins Spiel. „Die beweisen aber gar nichts”, sagte dazu kühl Chefermittler Paulissen.

Zur Bedienung eines komplexen, modernen Flugabwehr-Raketensystems braucht es eine monatelange Ausbildung.

Die strafrechtlichen Ermittler bewegen sich in einem politischen Minenfeld und müssen eine lückenlose Beweiskette vorlegen − auch um politischen Vorwürfen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie müssen zweifelsfrei die Schuldfrage beweisen: Wer hat auf den Knopf gedrückt? War auf den Radarbildern deutlich zu sehen, dass Flug MH17 eine zivile Maschine war? Wer konnte überhaupt das komplizierte Waffensystem bedienen? Soviel ist immerhin klar: Zur Bedienung eines komplexen, modernen Flugabwehr-Raketensystems braucht es eine monatelange Ausbildung. Die Spuren könnte zu Russlands 53. Flugabwehr-Brigade führen, ahnt die Neue Zürcher Zeitung unter Hinweis auf das Recherche-Netzwerk Bellingcat.

Am Schluss der Ermittlungen könnten Klagen und sehr hohe Schadenersatz-Forderungen stehen − was zu weiteren politischen Verwicklungen führen dürfte.

Nicht zuletzt fordern die Angehörigen der 298 Opfer Antworten. Vor allem auch auf das Warum. War es Absicht oder ein verhängnisvoller Irrtum? Und dann ist schließlich die Frage nach der Gerechtigkeit. Werden die Täter jemals vor ein Gericht gestellt werden? Robby Oehlers ist davon überzeugt, dass es irgendwann einmal soweit ist. „Vielleicht dauert es ein paar Jahre“, sagte der junge Mann vor dem Kongresszentrum, in dem er und andere Angehörige von den Ermittlern informiert worden waren. Am Schluss der Ermittlungen könnten Klagen und sehr hohe Schadenersatz-Forderungen stehen − was zu weiteren politischen Verwicklungen führen dürfte.

Die Rolle Russlands

Zur Zeit ist undenkbar, dass Moskau mitarbeiten und mögliche Verdächtige ausliefern würde. Im vergangenen Jahr scheiterte schon der Antrag, ein internationales MH17-Tribunal einzurichten, im UN-Sicherheitsrat am Veto Russlands. Seither haben sich die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland nur noch verschlechtert.

Die Separatisten haben den Abzug gezogen, aber Herr Putin hat an den Fäden gezogen.

The Economist, 26. Juli 2014

„Ein Netz aus Lügen”, titelte am 26. Juli 2014 die Londoner Wochenzeitung The Economist, mit dem Gesicht des russischen Präsidenten Wladimir Putin vor einem Spinnennetze auf dem Cover. Das einflussreiche Wochenmagazin schrieb schon damals Putin „die Urheberschaft an der Zerstörung von MH17” zu. Russlands Präsident, so The Economist, „ist gleich zwei Mal in das Verbrechen verstrickt: Erstens weil es aussieht, als sei die Rakete von Russland geliefert, seine Besatzung von Russland ausgebildet und dann das Abschusssystem schnell nach Russland zurückgeschafft worden. Zweitens ist Herr Putin in einem weiteren Sinn verwickelt, weil dies sein Krieg ist.” Denn die eigentlichen Drahtzieher der selbst ernannten Volksrepublik Donezk seien eben keine ukrainischen Separatisten, sondern russische Bürger, die Angehörige der Gehemdienste seien oder gewesen seien, so das Blatt: „Deren ehemaliger Kollege, Herr Putin, hat für den Krieg bezahlt und sie mit Panzern, Schützenpanzern, Artillerie ausgerüstet − und mit Batterien von Flugabwehrraketen. Die Separatisten haben den Abzug gezogen, aber Herr Putin hat an den Fäden gezogen.”

(dpa/BK/H.M.)