Italiens Wirtschaft lahmt
Italiens Wirtschaftsleistung ist heute kaum höher als vor zehn Jahren und die Arbeitslosigkeit so hoch wie 1998. Über 36 Prozent Jugendarbeitslosigkeit beudeuten ein Vierjahrestief. Italien braucht Strukturreformen. Mit einem Verfassungsreferendum will Ministerpräsident Renzi den Weg dazu freimachen. Scheitert er, droht neues Unheil für Europa.
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Italiens Wirtschaft lahmt

Italiens Wirtschaftsleistung ist heute kaum höher als vor zehn Jahren und die Arbeitslosigkeit so hoch wie 1998. Über 36 Prozent Jugendarbeitslosigkeit beudeuten ein Vierjahrestief. Italien braucht Strukturreformen. Mit einem Verfassungsreferendum will Ministerpräsident Renzi den Weg dazu freimachen. Scheitert er, droht neues Unheil für Europa.

In Rom wurde die Europäische Union im Jahr 1957 als EWG gegründet. Und in Rom steuert sie in diesem November auf eine potentiell kritische Situation zu. Irgendwann zwischen dem 15. November und dem 5. Dezember will Ministerpräsident Matteo Renzi ein Verfassungsreferendum stattfinden lassen: Der Senat, die zweite Parlamentskammer, die bislang jede Gesetzgebung blockieren kann, soll reduziert und entmachtet werden.

Die Verfassungsänderung soll in Italien Reformgesetzgebung möglich machen. Renzi hat sein politisches Schicksal mit dem Ausgang der Abstimmung verknüpft. Obwohl er davon zuletzt wieder etwas abgerückt ist, droht nun das Verfassungsreferendum zur Vertrauensabstimmung über den ohne Wahl ins Amt gelangten Regierungschef zu werden – und womöglich über Italiens Mitgliedschaft in der Eurozone. Denn wenn Renzi sein Referendum verliert, könnten politische Turbulenzen bevorstehen und Neuwahlen. Aus denen könnte dann die eurokritische Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo als Sieger hervorgehen.

Italien wird nicht reicher, sondern ärmer

Die Stimmung in Italien ist denkbar schlecht. Kein Wunder: Das Land und die Menschen werden nicht reicher, sondern immer ärmer. Italiens Wirtschaftsleistung liegt heute auf etwa 75 Prozent des Standes von 2008, vor dem Absturz in der Krise und auch unter dem Niveau von 2006. Nach sieben Jahren Rezession – oder Minimzuwächsen 2010 und 2011 – ist das Land erst im vergangenen Jahr zum Wachstum zurückgekehrt: mit mageren 0,7 Prozent. Für 2016 hatte sich Rom 1,2 Prozent Wachstum erhofft. Erwartet werden jetzt nur noch 0,6 Prozent.

Italiens Wirtschaftsleistung pro Kopf ist seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise auf den Stand von 1996 zurückgefallen.

Was das für die Menschen bedeutet, macht eine andere Rechnung deutlich: Italiens Wirtschaftsleistung pro Kopf ist seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise auf den Stand von 1996 zurückgefallen: 35.000 Dollar. Damals ging es den Italienern besser als den Franzosen mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf von etwa 33.000 Dollar. Heute hat Frankreich mit etwa 40.000 Dollar BIP pro Kopf Italien weit zurückgelassen. Italien ist das einzige Land der Eurozone, dessen Wirtschaftsleistung pro Kopf 2015 unter dem Vergleichswert von 1998 lag, vor der Einführung des Euro, erinnert in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung der Volkswirtschaftsprofessor und ehemalige Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Thomas Mayer.

Industrieproduktion im Mai um 0,6 Prozent gesunken.

Andere Indikatoren sprechen die gleiche Sprache: Etwa Italiens Industrieproduktion. Nach dem Absturz 2008 konnte sie sich bis 2011 zwar leicht erholen. Aber seither geht es bergab. Heute liegt Italiens Industrieproduktion nur wenig über dem Wert von 2009, seit Monaten bei fallender Tendenz: Im vergangenen Mai ist sie wieder um 0,6 Prozent gesunken.

Stagnation und Bankenkrise ohne Ausweg

Nur die Staatsschulden wachsen – und jetzt auch wieder die Arbeitslosigkeit. Seit 2006 ist Italiens Staatsverschuldung von 1,6 auf heute 2,2 Billionen Euro gestiegen – von 102 auf 133 Prozent der Wirtschaftskraft. Nur dank der Politik des billigen Geldes und der extrem niedrigen Zinsen der Europäischen Zentralbank kann Rom die Schuldenlast verkraften. Auch die Arbeitslosigkeit liegt mit 11,6 Prozent etwa auf dem Wert von 1998 – und ist im Juni wieder um einen Zehntelprozentpunkt gestiegen. Ebenfalls von Mai auf Juni ist die Jugendarbeitslosigkeit von 36,8 auf 36,5 Prozent kaum wahrnehmbar gefallen. Dass die Schreckenszahl dennoch ein Vierjahrestief markiert, sagt eigentlich alles – und erklärt die Wahlerfolge der linkspopulistischen Fünf-Sterne-Bewegung.

Erst wenn die Wirtschaft gesundet, können sich die Banken erholen.

Thomas Mayer, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Die beängstigende Dauerrezession und Stagnation ist die eigentliche Ursache der italienischen Bankenkrise, die die europäische Finanzwelt zunehmend beunruhigt. In der miesen Wirtschaftslage können immer mehr Firmen und Kleinkunden ihre Bankschulden nicht mehr bedienen. Bei Italiens Banken haben sich so notleidende Kredite über 360 Milliarden Euro aufgetürmt – fast 20 Prozent des Kreditvolumens italienischer Banken und ein Drittel der gesamten faulen Darlehen in der Eurozone, wie die Neue Zürcher Zeitung kürzlich errechnete: „Faule Kredite soweit das Auge reicht.“ Weil in Italien bei 80 Prozent der notleidenden Kredite Unternehmen die Schuldner sind, helfen begrenzte Bankenrettungen nicht wirklich weiter, erläutert in der FAZ-Volkswirt Mayer: Solange die wirtschaftliche Stagnation anhält, kann es den Unternehmen nicht besser gehen und solange werden sich darum bei den Banken immer neue faule Kredite auftürmen.

Strukturreformen statt Abwertung

Italien muss aus Rezession und Stagnation herausfinden zu wirklichem Wachstum. Aber das ist nicht in Sicht. Dafür zeigt sich ein Dilemma: Vor dem Euro hat sich Italien mit regelmäßigen Lira-Abwertungen Wettbewerbsfähigkeit erkaufen können. Das Land ist damit jahrzehntelang gut gefahren: Seit dem Zweiten Weltkrieg konnte Italien so vom Agrarland zum bedeutenden Industriestaat aufsteigen. Auf der Skala der Exportnationen belegt es noch immer Rang Acht. Aber der Euro hat Rom das einfache Konjunktur-Heilmittel der Abwertung genommen. Wenn Rom nun die Wettbewerbsfähigkeit des Landes erhöhen und die Wirtschaft wieder in Schwung bringen will, bleibt nur ein Weg: tiefgreifende Strukturreformen.

Die Gegner der Verfassungsreform liegen derzeit mit etwa 30 Prozent leicht vor den Befürwortern – bei 40 Prozent Unentschiedenen.

Den gesetzgeberischen Weg dazu soll nun im November Renzis Verfassungsreferendum frei machen. Knapp zwei Monate vor der Volksabstimmung sieht es nicht gut aus: Renzis Zustimmungswerte sind seit seinem Amtsantritt im Februar 2014 von 40 auf jetzt knapp über 30 Prozent gesunken. Die Gegner der Verfassungsreform liegen mit etwa 30 Prozent leicht vor den Befürwortern – bei 40 Prozent Unentschiedenen.

Scheitert das Verfassungsreferendum, droht die Ixit-Debatte

Bei einem „Nein“ zu Renzis Verfassungsänderung, meint das US-Wirtschaftsmagazin Forbes, bliebe Italien nur die Wahl, sich entweder mit der andauernder Stagnation abzufinden oder zur alterprobten Politik der Währungsabwertungen zurückzukehren – außerhalb der Eurozone. Wie diese Wahl ausfallen würde, ahnte kürzlich die Neue Zürcher Zeitung: „Ohne stärkeres Wachstum dürfte der Widerstand gegen den Euro eine kritische Masse erreichen.“ Es führe kein Weg an der Einsicht vorbei, ergänzt in der FAZ Volkswirtschaftsprofessor Mayer, „dass es Italien in den vergangenen 18 Jahren nicht gelungen ist, sich in der Währungsunion wirtschaftlich zu behaupten“. Früher oder später müsse sich Italien aus dieser Situation befreien. Und jetzt gibt es auch noch das Beispiel und Vorbild des Brexit.

Ohne stärkeres Wachstum dürfte der Widerstand gegen den Euro eine kritische Masse erreichen.

Neue Zürcher Zeitung

Ausgeschlossen? Leider nein. Denn käme es nach einem negativen November-Votum zu Neuwahlen, läge das Thema eines italienischen Euro-Ausstiegs – den Begriff Ixit gibt es schon – sofort auf dem Tisch: Grillos Fünf-Sterne-Bewegung hat den Wählern eine Abstimmung über den Euro versprochen.