Der „Dschungel“ von Calais
Calais vor der Explosion: Vor einem halben Jahr wurde das Flüchtlingslager bei Calais zur Hälfte geräumt. Jetzt halten sich dort wieder 10.000 meist schwarzafrikanische Migranten auf. Der Zustrom hält an. Die Menschen werden immer gewaltbereiter. Chaos und Rechtlosigkeit breiten sich aus. Die Polizei kämpft um die Kontrolle über die Autobahn zum Eurotunnel-Terminal.
Frankreich

Der „Dschungel“ von Calais

Calais vor der Explosion: Vor einem halben Jahr wurde das Flüchtlingslager bei Calais zur Hälfte geräumt. Jetzt halten sich dort wieder 10.000 meist schwarzafrikanische Migranten auf. Der Zustrom hält an. Die Menschen werden immer gewaltbereiter. Chaos und Rechtlosigkeit breiten sich aus. Die Polizei kämpft um die Kontrolle über die Autobahn zum Eurotunnel-Terminal.

„Wir sind alle am Ende“, sagt Landwirt Xavier Foissey aus dem Städtchen Marck (10.000 Einwohner) am östlichen Rand des Großraums Calais der Pariser Tageszeitung Le Figaro: „Wir sind alle am Ende, Bürger, Landwirte, Polizisten, Lastwagenfahrer. Die Migranten werden immer mehr und immer aggressiver.“ Wie er schildert, fallen jede Nacht 50 bis 100 über seine Felder her und fällen Obstbäume – um damit Barrieren auf der angrenzenden Autobahn A16 zu bauen und anzuzünden. Die Migranten wollen so Lkws auf dem Weg zum Euro-Tunnel und nach England stoppen und entern. Landwirt Foissey hat auf diese Weise schon gut 40 Obstbäume verloren. Ihm und seinem Nachbarn wurden 13 von 80 Hektar Ackerfläche regelrecht zerstört. Der Schaden beläuft sich auf etwa 35.000 Euro. Der Landwirt findet kaum noch Schlaf: „Zumal die Flüchtlinge mit Knüppeln und Macheten bewaffnet sind und mit Sägen, um die Bäume zu fällen. Wir fangen an, die Geduld zu verlieren.“

Die Bevölkerung ist kurz vor der Explosion.

Natacha Bouchart, Bürgermeisterin von Calais

Nicht nur Bauer Foissey. Die andauernde Migrantenkrise hat die Hafenstadt Calais im vergangenen Jahr schätzungsweise zehn Millionen Euro Umsatz gekostet, berichtet auch Bürgermeisterin Natacha Bouchart dem Figaro: „Die Bevölkerung ist kurz vor der Explosion.“ Es hätten sich schon Milizen gebildet. Um die Politik – in der Region und in Paris – endlich in Bewegung zu bringen, werden am kommenden Montag Lkw-Fahrer und Gewerbetreibende der Region die Autobahn A16 beiderseits von Calais blockieren, im Norden ab Dünkirchen, im Süden ab Boulogne-sur-Mer. Die Landwirte wollen sich anschließen. Foissey: „Wenn nötig, dann blockieren wir, bis die Regierung uns hört.“

Mindestens 12.000 Migranten im Raum Calais

„Migranten: Calais wieder am Rande der Explosion“, titelte Mitte August Le Figaro auf Seite eins. Zählungen hatten ergeben, dass sich wieder knapp 7.000 Menschen in dem Lager bei Calais befanden, das alle Welt nur „den Dschungel“ nennt. „Calais: Der ‚Dschungel‘ völlig außer Kontrolle“, lautete eine Überschrift in Le Figaro. Jetzt, drei Wochen später, ist alles noch schlimmer geworden: Irgendwann Anfang September werden es im „Dschungel” von Calais mehr als 10.000 Migranten sein. Die meisten von ihnen kommen aus Afrika – Sudan, Eritrea, Äthiopien – viele aus Afghanistan. Nur für etwa 1.900 gibt es Wohn-Container.

Die französische Polizeigewerkschaft Unsa-Police schilderte Ende Juli auf ihrer Internetseite die Lage wie folgt: „Der Dschungel von Calais, seine Tausenden Migranten, seine wild besetzten Flächen, seine Brandstiftungen und Morde sind praktisch zu einer kulturellen Eigenheit der Region Pas-de-Calais geworden. Aber wer geglaubt hat, dass damit die Situation auf ein bestimmtes Gebiet eingegrenzt wurde, der hat sich getäuscht: Das Chaos breitet sich aus und erfasst jetzt auch die Autobahn A16.“

Das Chaos breitet sich aus und erfasst jetzt die Autobahn A16.

Polizeigewerkschaft Unsa-Police

Zone der Rechtlosigkeit

Im Flüchtlingslager, das seit einer Teilräumung im vergangenen März nur noch halb so groß ist, nun aber doppelt so viele Personen beherbergt, kommt es regelmäßig zu Gewalt zwischen den Migranten-Ethnien. Ende Mai etwa wurden bei einer Massenschlägerei zwischen Hunderten Afrikanern und Afghanen fast 40 Personen verletzt. Ende Juli wurde bei einer anderen Massenauseinandersetzung zwischen Äthiopiern, Sudanesen, Eritreern und Afghanen ein Äthiopier erstochen. Die Gewaltgewohnheiten aus Afghanistan oder dem Sudan haben die Menschen nach Calais mitgebracht. In der Enge stauen sich die Emotionen auf.

Polizisten beschreiben den „Dschungel“ als „Zone der Rechtlosigkeit“, in die sich nachts kein Kollege mehr traut. Die Migranten seien inzwischen „quasi militärisch organisiert.“ Früher seien sie Konfrontationen mit den Sicherheitskräften ausgewichen. Heute spricht Bürgermeisterin Bouchart sogar von Angriffen hunderter Menschen auf die Ordnungskräfte. Le Figaro ergänzt, dass CRS-Bereitschaftspolizisten jede Nacht 100, 200 oder mehr Tränengas-Granaten verschießen müssten, um sich der Angriffe zu erwehren.

Wie soll es nun weiter gehen?

Zum achten Mal seit Beginn seiner Amtszeit im Jahr 2014 hat Innenminister Bernard Cazeneuve heute Calais besucht. Ende September will auch Präsident Franςois Hollande folgen und persönlich zu den zunehmend verzweifelten und erbitterten Calaisiens sprechen. Die Räumung des Lagers sei im Innenministerium in Paris seit Monaten in Vorbereitung, schreibt Le Figaro. Aber der Kampf gegen den Terror habe alle Maßnahmen – und Entscheidungen dazu – aufgehalten. Cazeneuve konnte jetzt in Calais mit einer echten Überraschung aufwarten: Nach der Räumung des nördlichen Lagerteils im März habe die schrittweise Räumung der verbliebenen Südzone schon begonnen, so der Minister: „Es ist meine Absicht, das mit größter Entschlossenheit fortzuführen.”

Die meisten Migranten in Calais sind Wirtschaftsflüchtlinge ohne Anspruch auf Asyl

Die Hälfte der Migranten von Calais habe die Hoffnung, England zu erreichen, aufgegeben und sei bereit, in Frankreich Asyl zu beantragen, berichtet jetzt Le Monde. Problem: Noch fehlen Plätze in Aufnahmelagern anderswo im Lande. Bislang hieß es, das Innenministerium wolle bis Oktober die Zahl der für Asylbewerber aus Calais zur Verfügung stehenden Plätze von 2.000 auf 5.000 erhöhen. Es wird wohl länger dauern: Bis zum Ende des Jahres soll es insgesamt 8.000 zusätzlichen Plätze in 161 französischen Aufnahmelagern geben, hat Cazeneuve jetzt in Calais präzisiert. 2017 sollen 5.000 Plätze in Notunterkünften dazu kommen. Weiteres Problem: Die meisten Migranten in Calais sind Wirtschaftsflüchtlinge ohne Anspruch auf Asyl. Alle Migranten in Calais, die unberechtigt Flüchtlingsstatus beanspruchen, müssten sofort in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden, fordert denn auch Ex-Präsident und Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner, Nicolas Sarkozy.

Frankreichs Angst vor der großen Völkerwanderrung

Unterdessen wächst die französische Ratlosigkeit – und wird hochpolitisch. In den Reihen der republikanischen Opposition ist der Wettbewerb um die Präsidentschaftskandidatur in vollem Gange. Prompt hat sich Ex-Präsident Sarkozy mit der Forderung zu Wort gemeldet, das britisch-französische Abkommen von Touquet zu kündigen. Der Vertrag sieht vor, dass Reisende nach England schon in den französischen Häfen kontrolliert und gegebenenfalls aufgehalten werden. Großbritanniens Grenzen werden damit sozusagen schon auf französischem Boden bewacht. Frankreich darf dafür seine Schengen-Außengrenze schon in Dover mit Kontrollen schützen. Ironie: Sarkozy selber hat das Abkommen im Februar 2013 als Innenminister unterzeichnet. Jetzt verlangt er, die Briten sollten in ihrem Lande ein Auffanglager für Asylbewerber aus dem „Dschungel“ von Calais einrichten. Sein Mitbewerber um die Kandidatur, Ex-Premier und Bürgermeister von Bordeaux Alain Juppé, will ebenfalls den Status quo von Touquet beenden. Das Gleiche fordern Regional-Präsident Bertrand oder die Bürgermeisterin von Calais.

In London werden solche aggressiven Töne ernst genommen. Ein Sprecher des britischen Home Office bezeichnete Sarkozys Vorschläge und Forderungen als „völlig abwegig“. Wenn Paris das Abkommen von Touquet in Frage stellen sollte, wird in London angedeutet, dann stünde als britische Antwort die britisch-französische Zusammenarbeit beim Kampf gegen den Terror auf dem Spiel. Für Frankreich keine leere Drohung: Die Briten gehören mit den USA, Kanada, Australien und Neuseeland zum Geheimdienstbündnis der sogenannten Five-Eyes, von wo regelmäßig besonders wichtige Aufklärungsergebnisse kommen.

Wenn wir morgen die Grenze öffnen, dann werden wir angesichts der aktuellen Migrationssituation in Europa nicht nur einige Tausende sondern Zigtausende Migranten in Calais haben.

Innenminister Bernard Cazeneuve am 16. Februar 2016

Aber auch ohne die leise Drohung aus London, wird Innenminister Cazeneuve sich hüten, am Vertrag von Touquet zu rühren. Aus dringendem französischen Eigeninteresse. Im vergangenen Februar hat er es im Parlament erklärt: „Wenn wir morgen, im Rahmen einer Neuverhandlung der Übereinkunft von Touquet die Grenze öffnen, dann werden wir angesichts der aktuellen Migrationssituation in Europa nicht nur einige Tausende, sondern Zigtausende Migranten in Calais haben.“ Cazeneuve hat gelernt, was man in einer anderen großen europäischen Hauptstadt noch immer nicht recht begreifen will: Grenzöffnungen in Europa sind für Migranten in Afrika und anderswo vor allem das Signal und die Einladung zur großen Völkerwanderung. Und vor der haben die Franzosen mit Blick auf ihre einstigen Kolonien im frankophonen Afrika allergrößte Angst.