Londons neue Rolle in Europa
Der Brexit verändert alle politischen Gleichungen in Europa: 40 Jahre lang gab es nur die EU und ein paar kleine Länder am Rande. Jetzt tritt Großbritannien zu den kleinen Ländern am Rande hinzu – und verleiht ihnen Gewicht, politisch und wirtschaftlich. In der Schweiz träumt man schon von der Achse Bern-London. Die skandinavischen Länder werden zuschauen, womöglich mit wachsendem Interesse.
Brexit

Londons neue Rolle in Europa

Der Brexit verändert alle politischen Gleichungen in Europa: 40 Jahre lang gab es nur die EU und ein paar kleine Länder am Rande. Jetzt tritt Großbritannien zu den kleinen Ländern am Rande hinzu – und verleiht ihnen Gewicht, politisch und wirtschaftlich. In der Schweiz träumt man schon von der Achse Bern-London. Die skandinavischen Länder werden zuschauen, womöglich mit wachsendem Interesse.

„Das ist nicht das Ende der Welt, aber es ist das Ende Europas, so wie wir es kannten.“ Das schrieb die Pariser Tageszeitung Le Figaro am Samstag nach dem Brexit-Votum. Die Londoner Financial Times wurde am gleichen Tag noch drastischer und anschaulicher: „Großbritanniens Entscheidung, die EU zu verlassen, ist der stärkste Schock für die politische und wirtschaftliche Ordnung des Kontinents seit dem Fall der Berliner Mauer.“

Das sind keine Übertreibungen. Wir machen es uns noch nicht klar, aber nach der britischen Volksabstimmung über den Brexit ist in Europa nichts mehr so, wie es 40 Jahre lang war. Europa verändert seine Gestalt, nicht geographisch, aber politisch. Aus der Vogelperspektive wird sichtbar, was in Europa gerade geschieht: 40 Jahre lang gab es auf dem petit cap d’asie – dem kleinen Kap Asiens, wie der französische Dichter Paul Valéry Europa einmal nannte – nur einen alles dominierenden Koloss, die Europäische Union (vorher Europäische Gemeinschaft), und ein paar kleine Länder am Rande. Die kleinen EU-Nachbarn im Osten sind fast alle beigetreten. Die Westbalkanstaaten im Südosten gieren danach. In der EU-Randlage geblieben sind eigentlich nur drei Nachbarn im Westen: Die Schweiz, Island und Norwegen. Den vierten übersehen die meisten Europäer gleich: Liechtenstein (die Zwergstaaten Andorra, Monaco, San Marino und Vatikan bleiben hier außen vor). Kleine Länder, die sich wirtschaftlich mit dem wirtschaftlichen Riesen arrangieren mussten und dabei doch soviel Souveränität wahren wollten wie nur irgend möglich. Keine leichte Übung bei solch ungleicher Nachbarschaft.

Neues Schwergewicht am Rande der Europäischen Union

Auf einmal gilt das nicht mehr. Denn zu den vier kleinen Ländern am Rande der EU tritt ein fünftes hinzu. Nicht irgendeines, sondern Großbritannien – die zweitgrößte Wirtschaft in Europa, die fünftgrößte weltweit, Markt von 65 Millionen und Weltfinanzzentrum, zweitgrößter Auslandsinvestor in den USA, Militär- und Atommacht, führendes Nato-Mitglied und Veto-Macht im UN-Sicherheitsrat. 40 Jahre lang waren die Schweiz, Liechtenstein, Island und Norwegen einfach nur kleine Länder am Rande der EU. Gleichsam über Nacht erhält jetzt dieser Rand ein ganz anderes Gewicht, politisch und wirtschaftlich. Mit Großbritannien wird der einstige Rand bedeutend. Das verändert alles, für die Länder am Rand und für die EU.

Der Traum von der Achse Bern-London.

Tages-Anzeiger, Zürich

„Die Schweiz ersehnt sich, dass der Brexit kommt“, titelte exakt zwei Wochen vor dem Schicksalsdonnerstag im Figaro der Schweizer Journalist Alain Cassidy: Quer über alle politischen Lager hinweg habe man in der Eidgenossenschaft auf den Brexit gehofft und einen Traum geträumt: den von der Achse Bern-London. Jetzt könnte der Traum wahr werden. Schweizer und Briten haben tatsächlich viel gemeinsam, erläutert Cassidy, diesmal in seiner eigenen Zeitung, im Züricher Tages-Anzeiger: Zwei Inseln sozusagen, eine reale in der Nordsee und eine „eingebildete im Herzen des Kontinents“; zwei Nationen, die sich als glückliche Sonderfälle der europäischen Geschichte sehen; zwei Völker, die sich den Rest Europas mit seinen Irrungen und Wirrungen jahrhundertelang vom Hals gehalten haben; zwei Handelsnationen, die freien Handel wollen ohne Aufgabe von Souveränität; zwei Länder, die gegen die EU entschieden haben: die Briten jetzt und die Schweiz 2001 mit 77 Prozent – Schweizer Umfragen zufolge hat sich seither an der Anti-Stimmung nichts geändert. Wenn die Briten die EU verlassen, dann seien alle Schweizer Probleme mit der EU gelöst – das hoffen jedenfalls große Teile der Schweizer Politik, so Cassidy.

Das Efta-Modell: Freihandel ohne Souveränitätsverzichte

Mal sehen. Aber ziemlich sicher ist: Über kurz oder lang werden die bisherigen vier Kleinen am Rande der EU und der große Neue zusammenfinden, wirtschaftlich und politisch. Am bisherigen westlichen Rande der EU entsteht etwas Neues. Tatsächlich hat es die Achse Bern-London schon einmal gegeben – in der Europäischen Freihandelsassoziation Efta. Am 4. Januar 1960 waren Schweiz und Großbritannien Efta-Gründungsmitglieder. Mit dabei waren am Gründungstag – in Stockholm – Dänemark, Österreich, Norwegen, Portugal und Schweden. Der Freihandelsclub dieser Sieben hat sich von vornherein als Gegenmodel zur größeren EWG der Sechs verstanden und zugleich als Vehikel zur Annäherung an sie, aber zu eigenen Bedingungen: Freihandel ohne Souveränitätsverzichte.

Am westlichen Rand der EU entsteht etwas Neues: Über kurz oder lang werden die bisherigen vier Kleinen am Rande der EU und der große Neue zusammenfinden, wirtschaftlich und politisch.

Das hielt nicht lange: 1973 verließen Briten und Dänen die Efta, um der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beizutreten. Die Norweger entschieden sich per Referendum gegen den EWG-Beitritt. Ohne die Briten fehlte es der Rest-Efta an Gewicht. Über bilaterale Freihandelsverträge rückte das Efta-Gegenmodell näher an die EWG heran, nicht zuletzt weil das Briten und Dänen wichtig war. Am 2. Mai 1992 schließlich fanden Efta und EU im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zusammen: Der Europäische Binnenmarkt wurde ausgedehnt auf die Efta-Länder Island, Liechtenstein und Norwegen, die sich das allerdings erkaufen mussten. Die Schweizer votierten per Referendum dagegen die Beteiligung am EWR, um seither in bilateralen Verträgen mit der EU ihren eigenen Zugang zum Gemeinsamen Markt zu suchen.

Durch die Aufnahme der hoch leistungsfähigen britischen Volkswirtschaft würde die Efta über Nacht wirtschaftlich wesentlich größere Bedeutung erlangen.

Johann Schneider Ammann, Schweizer Bundespräsident

Wenn jetzt der einstige Efta-Mitbegründer Großbritannien zum großen Rückkehrer wird, könnte am Rande der EU das alte Gegenmodell eine neue Zukunft erhalten: Freihandel ohne Souveränitätsverzichte – ohne das große Ziel von der politischen Union. Beim Efta-Ministertreffen in Bern, nach dem Brexit-Votum, ließ der Schweizer Bundespräsident Johann Schneider-Ammann vorsichtig durchblicken, dass er einen Efta-Beitritt Großbritanniens begrüßen würde, berichtet die Neue Zürcher Zeitung.  Dies würde die Efta grundsätzlich stärken, so Schneider-Ammann. „Durch die Aufnahme der hoch leistungsfähigen Volkswirtschaft würde die Efta über Nacht wirtschaftlich wesentlich größere Bedeutung erlangen”, gibt die NZZ das Schweizer Staatsoberhaupt wieder.

Interessierte Beobachter

Andere einstige Efta-Länder und jetzige EU-Mitglieder werden mit Interesse zuschauen, was sich nun zwischen Bern, London und Oslo entwickelt. Ganz besonders Norwegens skandinavische Nachbarn Dänemark und Schweden: Beide sind wie die Briten spätberufene EWG- und EG-Mitglieder und haben auch seither Brüssel mit ausgehandelten Sonderkonditionen ein wenig auf Distanz gehalten, jedenfalls mehr als andere. Beide haben die Einführung des Euro abgelehnt: die Schweden 2003 per Referendum, die Dänen erst per Vertrag 1992 und dann per Referendum im Jahr 2000. Auch Schweden und Dänen haben damit jedem, der es hören wollte, gesagt: Wir brauchen den gemeinsamen Markt, aber bitte nicht um den Preis zu großen Souveränitätsverzichts. Mit Großbritannien verlieren jetzt vor allem die latent euroskeptischen Dänen ihren wichtigsten gleichgesonnen Partner in der EU. Wenn Brüssel jetzt auf den Brexit reagiert, sollte es die Gefühle der Skandinavier bedenken.

Andere einstige Efta-Länder und jetzige EU-Mitglieder werden mit Interesse zuschauen, was sich nun zwischen Bern, London und Oslo entwickelt. Ganz besonders Norwegens skandinavische Nachbarn Dänemark und Schweden.

Wenn jetzt am Rande der EU das alte Efta-Gegenmodell in neuer Gestalt auflebt, gar blüht, kann es weitere Freunde finden. Moderate Euroskeptiker gibt es nicht nur in Bern und London. Wer weiß, wohin unter solch neuen Bedingungen alte skandinavische Partnerschaft noch führt. Womöglich steckt hier die eigentliche vielbeschworene Ansteckungsgefahr, die vom Brexit-Votum ausgehen könnte. Und womöglich ist das der Grund für Wut und Verzweiflung in Brüssel.

Großbritannien ist nicht die Schweiz und nicht Norwegen

Großbritannien will sich natürlich den Zugang zum EU-Binnenmarkt erhalten, aber eben ohne Zwang zur politischen Integration. Das wird schwierig. Welches Modell werden die Briten wählen? Welches wird Brüssel gewähren? Das norwegische über die Mitgliedschaft im EWR? Oder das Schweizer Modell bilateraler Verträge mit der EU? Die viel gestellte Frage geht in die Irre. Denn Brüssel wird mit dem politischen und wirtschaftlichen Schwergewicht Großbritannien nicht umgehen können wie mit Norwegen oder der Schweiz. Nach dem Brexit wird Großbritannien wichtigster Außenhandelspartner der EU sein: 16 Prozent des gesamten Außenhandels der EU stehen dann auf dem Spiel. Jedes Jahr kommen 50 Prozent der in Großbritannien zugelassenen Neuwagen aus Deutschland. Und nicht nur Deutschland hat einen Handelsüberschuss mit Großbritannien, sondern auch das notleidende Frankreich. Die EU hat viel zu verlieren.

Ein Staat von der Größe Großbritanniens würde auf einem – wie auch immer gearteten – Mitbestimmungsrecht bestehen.

Carl Baudenbacher, Präsident des Efta-Gerichtshofes

Die Briten sind also keine Bittsteller. Sie werden auf ein eigenes britisches Modell der Einbeziehung in den Gemeinsamen Markt pochen können – zu anderen Bedingungen als Schweizer und Norweger. Brüssel wird London zugestehen müssen, was es Bern und Oslo nicht zugestanden hat: Mitbestimmung. „Ein Staat von der Größe Großbritanniens würde auf einem – wie auch immer gearteten – Mitbestimmungsrecht bestehen“, ahnt in der Neuen Zürcher Zeitung Carl Baudenbacher, Präsident des Efta-Gerichtshofes. „Wenn die Briten das aushandeln könnten, so würden auch die Norweger, Isländer und Liechtensteiner profitieren.“ Und die Schweizer.

Amerikas Sorge um die atlantische Partnerschaft

London und Brüssel brauchen einander. Sie können sich arrangieren und werden sich arrangieren müssen. Im Wege stehen nicht Werte und Prinzipien, sondern derzeit vor allem Brüssels Zorn über den Brexit. Was man verstehen kann: Das Brexit-Votum der Briten ist „ein Urteil über die EU“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) und eine „einzigartige Demütigung“ (Neue Zürcher Zeitung). Wutentbrannte EU-Chargen dürsten danach, jetzt an Großbritannien ein Exempel zu statuieren. Nur: Das wird zu wirtschaftlichen Schmerzen führen und zu noch mehr Zorn – nicht nur in Großbritannien.

Wir wollen ein starkes Großbritannien, ein starkes Europa und gute Beziehungen auf beiden Seiten des Kanals.

The National Interest (US-Politikmagazin)

Und es wird früher oder später einen weiteren Akteur auf den Plan rufen: Washington. Die Europäer sind Amerikas wichtigste Partner und Verbündete – weltweit. Das Letzte, was Washington in aktueller weltpolitischer Krisenlage brauchen kann, ist lähmender Dauerkonflikt zwischen Briten und EU-Europäern. Die Zukunft der Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU sei für die USA von überragender Bedeutung, schreibt denn auch das US-Politikmagazin The American Interest: „Wir wollen ein starkes Großbritannien, ein starkes Europa, gute Beziehungen auf beiden Seiten des Kanals und ein Handelssystem, das amerikanischen Exporten oder Investitionen keine neuen bürokratischen Hindernisse in den Weg legt.“

Die EU sollte Großbritannien jetzt nicht wie einen Gefängnis-Ausbrecher behandeln, sondern wie einen potentiellen Landsmann.

Henry Kissinger

Wenn Brüssel jetzt zur Bestrafungsaktion gegen Großbritannien aufbricht, steht für Washington die Frucht siebzigjähriger politisch-diplomatischer Arbeit auf dem Spiel,  erläutert in der New Yorker Tageszeitung The Wall Street Journal der ehemalige US-Außenminister und Sicherheitsberater Henry Kissinger: die atlantische Partnerschaft. Auf sie stützt sich amerikanische Weltpolitik. Nur: Ohne Großbritannien wäre sie kaum je zustande gekommen. London war für die atlantische Partnerschaft von Anfang an unverzichtbar − und bleibt es. „Die EU sollte Großbritannien jetzt nicht wie einen Gefängnis-Ausbrecher behandeln, sondern wie einen potentiellen Landsmann“, mahnt Kissinger jetzt Brüssel. Denn beide werden noch gebraucht. Kissinger: „Großbritannien und Europa müssen zusammen überlegen, wie sie wenigstens teilweise zu ihrer historischen Rolle als Gestalter der internationalen Ordnung zurückkehren könnten.“ Beim Brexit geht es um viel mehr als nur um Großbritannien und Europa.