14.000 – das ist die Zahl, auf die es jetzt beim Blick auf die anwachsende Migrantenwelle von Libyen über das Mittelmeer nach Europa ankommt. Denn allein in der vergangenen Woche haben Marine- Handels- und Rettungsschiffe mehr als 14.000 Migranten zumeist aus den Gewässern unmittelbar vor der libyschen Küste aufgenommen und nach Sizilien gebracht. Allein am vergangenen Freitag wurden bei siebzehn Einsätzen 2000 Migranten – vor allem aus Ländern wie Eritrea, Nigeria, Somalia und dem Sudan – an Bord genommen. Über 70 Schlepperboote hätten in der vergangenen Woche von libyschen Stränden abgelegt, heißt es in der Pariser Tageszeitung Le Monde mit Bezug auf das italienische Innenministerium. Weiteren Berichten zufolge sollen in den vergangenen Wochen zwischen Libyen und Sizilien hunderte afrikanische Migranten ertrunken sein.
Die EU droht von Afrika aus überspült zu werden.
De Telegraaf
Da hilft es wenig, dass sich für die ersten Monate des Jahres 2016 die Migrantenzahlen auf der Mittelmeerroute halbwegs beruhigend lesen – auf den ersten Blick: Von Januar bis Ende Mai erreichten auf dieser Strecke etwa 47.000 zuallermeist afrikanische Migranten Italien. Im Vorjahr waren es auf der Mittelmeerroute bis zum gleichen Zeitpunkt ebenfalls etwa 47.500 Migranten-Ankünfte – im ganzen Jahr 2015 kamen dann 160.000. Was derzeit auffällt: Während noch im vergangenen Jahr acht Prozent der Migranten auf der Mittelmeerroute Syrer waren, betrug ihr Anteil 2016 bislang nur 0,1 Prozent. Die Strecke über Libyen nach Italien spielt nach der Schließung der Balkanroute bislang keine Rolle als Ausweichroute für die syrische oder irakische Flüchtlinge. Die anhaltend hohen und wachsenden Migrantenzahlen auf der Mittelmeerroute bedeuten darum vor allem eines: Der Migrationsdruck aus Afrika steigt.
Zwischen 700.000 und einer Million Migranten in Libyen
Internationale Organisation für Migration (IOM)
Die hohe Flüchtlingszahl in nur einer Woche macht eine Dynamik sichtbar, die erschreckt – vor allem in Rom. Nach der Schließung der Balkanroute sind Sizilien und Italien für Zuwanderer aus Afrika zum großen Tor nach Europa geworden. Dabei hat die Migrantensaison mit gutem Wetter und ruhiger See eben erst begonnen. Aus Libyen berichtet die Internationale Organisation für Migration, dass sich dort zwischen 700.000 und einer Million Migranten aufhalten: „Aber niemand weiß, wieviele nach Europa reisen möchten.“ Beuunruhigend ist, dass dem italienischen Innenministerium zufolge inzwischen auch Migrantenboote aus ägyptischen Häfen kommen. In Ägypten mündet eine alte Wanderroute, die von Ostafrika über den Sudan ans Mittelmeer führt. Auch syrische Flüchtlinge nehmen inzwischen den Weg über den Sudan nach Ägypten. Kairoer Angaben zufolge sollen sich in Ägypten fünf Millionen Migranten aufhalten. Das Land grenzt an Libyen. Die EU „droht von Afrika aus überspült zu werden“, warnt schon die niederländische Tageszeitung De Telegraaf.
Italienische Aufnahmezentren überfüllt
Mit hörbarer Nervosität betont die Regierung in Rom wieder und wieder, dass alle ankommenden Migranten wie vorgesehen registriert würden: „Die Identifizierung liegt bei fast 100 Prozent“, so Innenminister Angelino Alfano. Rom blickt bei solchen Erklärungen vor allem auf Wien, das angedroht hatte, am Brenner wieder Grenzkontrollen durchzuführen und schon mit Vorbereitungen für den Bau eines Zaunes begonnen hatte. Nach dem italienischen Versprechen, alle Migranten konsequent zu registririeren, hat Wien vorläufig auf die Maßnahme verzichtet. Was vor allem bedeutet, dass die in Italien ankommenden Migranten nicht mehr einfach untertauchen und nach Norden weiterreisen können. Die italienischen Aufnahmezentren seien schon überfüllt, berichtet jetzt die Neue Zürcher Zeitung. In der Tageszeitung Corriere della Sera hat Innenminister Alfano „Probleme mit der Unterbringungen“ zugegeben, „weil es so viele (Migranten) in kurzer Zeit waren“. Dass italienische Asylverfahren sehr lange dauern und Rom keine Rücknahmeabkommen mit den meisten Herkunftsstaaten hat, macht die Sache nicht einfacher.
Gegen die Schlepper muss man mit aller Härte vorgehen. Wenn es darauf ankommt, auch mit dem Einsatz von Waffen und innerhalb der 12-Meilen-Zone vor Libyen.
EVP-Fraktionschef Manfred Weber
Italiens Ministerpräsident drängt darum die EU, mit afrikanischen Ländern Abkommen zur Rücknahme von Migranten abzuschließen. Als Gegenleistung für strengere Grenzkontrollen soll Brüssel den afrikanischen Ländern Einreisequoten und Finanzhilfen anbieten. Renzi: „Entweder Europa reagiert, oder wir werden es alleine machen müssen. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Abkommen gegen illegale Migration mit afrikanischen Staaten fordert auch der EVP-Fraktionschef im Europaparlament, Manfred Weber: „Mit den Staaten Nordafrikas braucht es schnell weitgehende Abkommen, um die illegale Migration über das Mittelmeer zu stoppen.” Weil die libysche „Phantomregierung“ (NZZ) nicht in der Lage ist, massenhafte illegale Migrantenabfahrten von der eigenen Küste zu unterbinden, plädiert Weber außerdem dafür, notfalls mit Gewalt gegen das Schlepperunwesen vorzugehen, „um das Sterben im Mittelmeer zu beenden“ Weber: „Gegen die Schlepper muss man mit aller Härte vorgehen. Wenn es darauf ankommt, auch mit dem Einsatz von Waffen und innerhalb der 12-Meilen-Zone vor Libyen.“
EU-Schiffe leisten Taxi-Service für Schlepper und Migranten
Weber spricht ein Kernproblem an. Das Vorgehen der Schiffe der italienischen Marine und der EU in den Gewässern zwischen Libyen und Sizilien ist nicht zufriedenstellend. Berichten zufolge wurden die meisten der in der vergangenen Woche geretteten 14.000 Migranten etwa 50 Kilometer vor der libyschen Küste aufgenommen – und dann nicht etwa zum nächsten libyschen Hafen befördert, sondern nach Sizilien. Im April zitierte die Londoner Tageszeitung Daily Mail einen EU-Marine-Offizier, der das Verfahren als „Taxi-Service“ beschrieb.
In den vergangenen Wochen sind die Schlepper-Preise für die Passage nach Italien brutal um 50 Prozent abgestürzt: Für 400 Euro bekommt man einen Platz auf einem schlechten Boot.
Le Figaro
Tatsächlich arbeitet die Vorgehensweise der europäischen Retter den Schleppern und ihrem Geschäft in die Hände: Sie können immer mehr seeuntüchtige Boote losschicken, die es nicht mehr bis Lampedusa schaffen müssen, sondern nur noch bis in internationale Gewässer – dann wird um Hilfe gefunkt. Die Überfahrt nach Italien wird dadurch viel billiger, immer mehr afrikanische Migranten können sie sich leisten und machen sich auf den Weg nach Libyen. In den vergangenen Wochen sei der Preis für eine Überfahrt von Libyen nach Sizilien um 50 Prozent auf 400 Euro „brutal abgestürzt“, berichtet die Pariser Tageszeitung Le Figaro. Und das obwohl gerade die Schönwetterphase beginnt. Schon darum ist zu erwarten: Die Zahl der Migranten auf der Mittelmeerroute nach Sizilien wird zunehmen. Kommentar der Amsterdamer Tageszeitung De Telegraaf: „Es ist höchste Zeit, dass die EU ein UN-Mandat für den nächsten Schritt in dieser Mission bekommt – nämlich für Militäreinsätze in den Hoheitsgewässern Libyens.“
Griechenland überfordert
Unterdessen kommen von der anderen Migrantenroute, der Balkanroute, keine guten Nachrichten. Noch hält der Deal mit der Türkei halbwegs, was er verspricht: Vom vergangenen Sonntag auf Montag erreichten etwa 100 Flüchtlinge von der türkischen Küste kommend griechische Ägäisinseln. In Griechenland befinden sich derzeit rund 53.000 Migranten. Das Land ist mit der Situation völlig überfordert. Beunruhigend: In der Türkei hofften drei Millionen Flüchtlinge auf die Weiterreise nach Europa, berichtete kürzlich EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos.
Die Räumung des Migrantencamps beim Dorf Idomeni nahe der griechisch-mazedonischen Grenze hat dazu geführt, dass es in dem Gebiet nun offenbar viele kleine Idomenis gibt, sagen Beobachter. Griechischer Presse zufolge haben sich nur 3700 von zuletzt etwa 8500 Migranten aus dem Camp bei Idomeni in feste Unterkünfte bringen lassen. Griechische Polizisten sagen, dass sich noch etwa 4000 Migranten in der Grenzregion aufhalten, vor allem Pakistaner, Afghanen und Nordafrikaner, die jetzt versuchen, an anderer Stelle über die grüne Grenze zu gelangen.
Was bei Griechenlands EU-Nachbar Bulgarien zu der Sorge führt, dass nun immer mehr Migranten den Weg über dieses Land wählen könnten: Weil bereits Flüchtlinge aus Idomeni ins Land gelangt seien, will Sofia seine Grenze zu Griechenland mit zusätzlichen Soldaten schützen. In den vergangen Tagen sollen knapp 100 aus Griechenland kommende Migranten in Bulgarien festgesetzt worden seien. 56 Personen, die versucht hatten, sich in einem Güterzug ins Land zu schmuggeln, wurden nach Griechenland zurückgeschickt. Auch an der bulgarisch-türkischen Grenze wird Aktivität sichtbar: Auf der türkischen Seite wollten zuletzt 1200 Personen nach Bulgarien, so Bulgariens Innenministerin Rumjana Batschwarowa: „In den vergangenen Tagen nahm der Migrationsdruck leicht zu.“ Zur Erinnerung: Im vergangenen Jahr wurden in Bulgarien etwa 27.000 Migranten registriert, 2014 waren es weit über 30.000.
Wieder mehr Migranten in Bayern
Der anhaltende und wieder steigende Flüchtlingsdruck macht sich auch an der bayerisch-österreichischen Grenze bemerkbar: Mehrere Monate nach der Schließung der Balkanroute nimmt die Zahl der Schleusungen jetzt wieder zu. Während im Januar nur 90 Migranten aufgegriffen wurden, waren es im April etwa 850. In den vergangenen Wochen wurden auch wieder mehr Schleuser festgenommen: 80 im April nach 50 von Januar bis März. Der Bundespolizeidirektion zufolge wurden in den ersten vier Monaten des Jahres in Bayern 53.00 Migranten aufgegriffen – gegenüber 12.500 im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Warnung eines Polizeisprecher: „Die Lage hat sich keineswegs beruhigt.“