Ein Sturm braut sich in Libyen zusammen
In Libyen warten 800.000 afrikanische Migranten auf Frühlingswetter und die Überfahrt nach Europa, warnt Frankreichs Verteidigungsminister. Der Islamische Staat setzt sich in Libyen fest und will am Menschenschmuggel verdienen – und Terroristen rekrutieren. Libyen versinkt im Chaos: drei Regierungen und ein Gaddafi-Cousin. Europa wird handeln müssen, um sich zu schützen.
Migrantenkrise

Ein Sturm braut sich in Libyen zusammen

In Libyen warten 800.000 afrikanische Migranten auf Frühlingswetter und die Überfahrt nach Europa, warnt Frankreichs Verteidigungsminister. Der Islamische Staat setzt sich in Libyen fest und will am Menschenschmuggel verdienen – und Terroristen rekrutieren. Libyen versinkt im Chaos: drei Regierungen und ein Gaddafi-Cousin. Europa wird handeln müssen, um sich zu schützen.

Die nächste große Migrantenwelle nach Europa bahnt sich an. Nicht mehr über die inzwischen geschlossene Balkanroute, sondern über die schon bis 2014 hunderttausendfach genutzte Route über Libyen, Lampedusa und Sizilien. Eine halbe Million Migranten könnten dieses Jahr von Libyen aus den Weg nach Europa suchen, warnte Mitte März die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und rief die Europäer auf, schnell zu handeln. „In den nächsten Monaten droht ein neuer Ansturm aus Libyen“, warnt jetzt auch der CDU-Europapolitiker Elmar Brok im Gespräch mit der Düsseldorfer Tageszeitung Rheinische Post. Die Terrormiliz Islamischer Staat habe in Libyen einige Häfen erobert, so Brok, und wolle an den Migranten Geld verdienen.

In Libyen warten schon 800.000 afrikanische Migranten auf Überfahrt nach Europa

Womöglich sind Mogherinis Zahlen sogar noch optimistisch: Von rund 800.000 illegalen Migranten, die schon an Libyens Küsten auf eine Gelegenheit zur Überfahrt nach Europa warteten, sprach kürzlich Frankreichs Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian im Radiosender Europe 1. Paris macht sich ernsthafte Sorgen, vor dem was da kommen könnte, wenn mit dem Frühling das Wetter im Mittelmeer wieder besser wird und die Überfahrt sicherer. Das brachte Staatspräsident Franςois Hollande zum Ausdruck mit Blick auf die zunehmend chaotische Situation in Libyen: „Wenn sie nicht geregelt wird, besteht die große Gefahr, dass es auch dort neue Bevölkerungsbewegungen gibt.“

Morgen sind vielleicht wieder Länder wie Deutschland und Frankreich betroffen.

Staatspräsident Franςois Hollande

In Paris weiß man aus den Jahren 2012 bis 2014, dass Frankreich von einer neuen Migrantenwelle aus Libyen direkt betroffen wäre. Die Welle würde dann nicht über Griechenland laufen, sondern über andere Staaten, so Hollande: „Diese Länder sind bekannt. Das ist Malta, das ist Italien, und das werden morgen vielleicht wieder Länder wie Deutschland und Frankreich sein, die betroffen sind.“ Eine Flut schwarzafrikanischer Migranten, die Frankreich trifft, würde auch dessen Hafenstadt Calais erreichen – und damit sofort auch Großbritannien. Was wohl der Grund dafür ist, dass auf dem jüngsten Brüsseler EU-Gipfel der britische Premierminister David Cameron vorschlug, den laufende EU-Marineeinsatz gegen Schlepper auf libysche Hoheitsgewässer auszudehnen, um ihn wirksamer zu machen.

Die neue Migrantenwelle aus Libyen hat schon begonnen

Die Gefahr eines neuen Massenansturms subsaharischer und westafrikanischer Flüchtlinge über Libyen und Sizilien ist real. Tatsächlich ist die Welle schon längst angelaufen. Die Zahl der von Westlibyen abfahrenden Boote wächst täglich und mit ihr jene der aus den Gewässern zwischen Libyen und Sizilien „geretteten“ Migranten: Am vergangenen Dienstag (29. März) nahmen italienische Schiffe fast 1400 illegale Migranten auf. Gleichen Tags trafen weitere 730 Personen, die in den Tagen zuvor aus dem Wasser gefischt worden waren, im südsizilianischen Hafen Pozzallo ein. Auch in der Woche zuvor wurden allein an einem Tag (19. März) rund 1500 Migranten von italienischen Schiffen aufgenommen. Tage zuvor retteten Schiffe der deutschen Marine und der italienischen Küstenwache über 3000 Migranten.

Seit Jahresbeginn sind schon etwa 16.000 Migranten über Libyen nach Italien gekommen − 6000 mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres.

Paradox: Je mehr EU- oder Nato-Schiffe Jagd auf Schlepper machen, desto einfacher, sicherer und einträglicher wird deren Geschäft: Denn die regelmäßig mit über 100 Migranten besetzten Schlauchboote müssen nicht mehr aus eigener Kraft Lampedusa oder Sizilien erreichen. Außerhalb der libyschen Zwölf-Meilen-Zone kreuzen die EU-Schiffe und retten die Migranten aus den Booten, berichtet die Presseagentur dpa. Presseberichten zufolge haben in der Vergangenheit Schlepper per Funk Hilfe angefordert, sowie ihre Boote die libyschen Gewässer verlassen hatten. Seit Jahresbeginn, also in einer Schlechtwetterperiode mit stürmischen Mittelmeergewässern, sind auf diesem Wege schon etwa 16.000 Migranten in Italien angekommen, mehrheitlich Afrikaner, meist Nigerianer, Gambier, Senegalesen oder Malier, berichtet die Pariser Tageszeitung Le Figaro. Das sind schon jetzt 6000 mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Insgesamt wählten 2015 etwa 150.000 Migranten die Route über Libyen und Sizilien, 2014 über 170.000.

Der Islamische Staat in Libyen

Unterdessen treibt Libyen immer weiter ins Chaos. Beobachter sehen dort schon die „nächste Front gegen den Islamischen Staat“ (The Economist) – auf der anderen Seite des Mittelmeers, gerade einmal 400 Kilometer südöstlich von Sizilien. Bis zu 6000 I.S.-Kämpfer sollen sich schon in der Region der Hafenstadt Sirte – der Heimatstadt des 2011 ermordeten Diktators Gaddafi – festgesetzt haben und dort dem direkten Kommando der IS-Führung in Syrien und Irak unterstehen, schreibt die New York Times. Die Zahl der IS-Terroristen in Libyen wächst weiter: In Tripolis werden regelmäßig Djihadisten aufgegriffen, die per Flugzeug aus Istanbul anreisen, berichtet Le Figaro. Manche Berichterstatter sehen Sirte schon als neues Raqqa, als neue Hauptstadt des Islamischen Staates (IS).

Wir müssen unbedingt verhindern, dass der Migranten-Schmuggel dem Islamischen Staat stärkt und ihm Einnahmen verschafft.

Frankreichs Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian

Sirte und andere Hafenstädte im IS-Machtbereich liegen auf der eingefahren Migrantenroute von Afrika nach Europa. Das gibt dem Islamischen Staat Gelegenheit, von der afrikanischen Völkerwanderung nach Europa zu profitieren. Jetzt müsse unbedingt verhindert werden, warnt denn auch Frankreichs Verteidigungsminister Le Drian, dass der IS als Schlepper und Schleuser in großem Stil seine finanziellen Ressourcen verstärken könne. Eine weitere Gefahr droht: Der Migrantenstrom gibt dem I.S. auch die Möglichkeit, Kämpfer zu rekrutieren, berichten im Figaro Milizionäre aus der westlibyschen Hafenstadt Misrata: „Wenn Lastwagen mit Migranten Sirte passieren, hält der I.S. sie an und bietet den Illegalen große Geldsummen, wenn sie sich ihm anschließen.“

Drei libysche Regierungen

Washington, Paris und Rom suchen derzeit einen Weg, um in Libyen gegen den I.S. vorzugehen. Alle drei Hauptstädte hätten dafür gerne eine legitimierende Einladung der libyschen Regierung – und verbündete einheimische Miliztruppen am Boden. Problem: Libyen hat zwei Regierungen – im Westen in Tripolis eine islamistische, die nicht einsehen will, dass sie 2014 eine Wahl verloren hat; im Osten in Tobruk eine weniger islamistische mit dem dortigen Militäroberbefehlshaber General Chalifar Haftar als starkem Mann. Die Islamisten in Tripolis werden von Qatar und der Türkei unterstützt und der Abgeordnetenrat in Tobruk von den Vereinigten Arabischen Emiraten und von Ägypten.

Milizen in Tripolis drohen mit Krieg gegen eine Nationale Einheitsregierung.

Weil die UN zwischen den beiden Regierungen in Tripolis und Tobruk vermitteln wollte, gibt es nun als drittes noch eine Nationale Einheitsregierung, die über keinerlei demokratische Legitimation verfügt und lediglich vom UN-Sicherheitsrat und Teilen der internationalen Gemeinschaft anerkannt wird − aber weder in Tripolis noch in Tobruk. Ihr im Grunde von der UN eingesetzte Ministerpräsident Fayiz Al-Sarradsch wollte schon vor einer Woche in Tripolis einziehen. Was allerdings der Regierungschef der Islamisten in Tripolis sofort ausschloss. Die Kommandeure mehrerer Milizen in Tripolis, die sich sonst gerne gegenseitig bekämpfen, verständigten sich darauf, jeden Einzug einer Regierung „die nicht den Wünschen Libyens entspricht“, mit Gewalt zu verhindern.

Die nächsten Stunden werden entscheidend sein: Dann wird sich zeigen, ob politische Verhandlungen es schaffen, die Kriegsherren in Tripolis zufriedenzustellen, oder ob sich eine neues Kapitel im libyschen Bürgerkrieg öffnet.

La Repubblica

Al-Sarradsch hat es nun dennoch versucht. Am vergangenen Mittwoch (30.März) sind er und Teile seiner Regierung der Nationalen Einheit auf einem Schiff der libyschen Marine in Tripolis eingetroffen. Die Islamisten-Regierung in Tripolis rief prompt zum Widerstand auf. Presseberichten zufolge riegelten Milizionäre die Zufahrtstraße zum Marinestützpunkt Abu Sita ab, wo Al-Sarradschs Einheitsregierung offenbar ihren Hauptsitzt einrichten will. Es sollen Schüsse gefallen sein. Die römische Tageszeitung La Repubblica schreibt von einem „im wahrsten Sinne des Wortes explosiven Empfang” für Al-Sarradsch. Auf die nächsten Stunden käme es an, so das Blatt. Dann werde sich zeigen, ob ein Kompromiss herbeizuführen sei „oder ob sich ein neues Kapitel im libyschen Bürgerkrieg öffnet”. Kleines Hoffnungszeichen: Inzwischen haben zehn westlibysche Städte zwischen Tripois und der tunesischen Grenze dazu aufgerufen, die Regierung Al-Sarradsch zu unterstützen. Le Figaro berichtet von „quasi normalem” Leben in Tripolis.

Der nächste Gaddafi hält sich bereit

Eine vierte libysche Machtoption hält sich Ägyptens Präsident Abd Al-Fattah As-Sisi  in einem Kairoer Luxusappartement offen: Ahmed Gaddaf Al-Dam, einen 63-jährigen Cousin von Ex-Diktator Gaddafi. Gaddaf Al-Dam, dem man die familiäre Verbindung mit dem Ex-Dikatator durchaus ansieht, unterhält enge Beziehungen zu wichtigen libyschen Stämmen und natürlich zu alten Regimefiguren mit viel Geld. Außerdem ist er völlig auf Kairos Linie, erläutert im Figaro ein ägyptischer Beobachter: „Gegen die Muslimbrüder, gegen die Türkei, gegen Qatar.“ Der Gaddafi-Cousin behauptet, in Ägypten und Tunesien binnen Kürze 70.000 libysche Truppen versammeln zu können, darunter auch ehemalige Gaddafi-Eliteeinheiten. Gaddaf Al Dam: „Wenn die nach Libyen zurückkehren, dann sind sie in der Lage, die Terroristen ohne fremde Hilfe innerhalb weniger Wochen loszuwerden.“ Solche Sätze hören Europäer und Washington gerne, glaubt der Gaddafi-Cousin wahrscheinlich.

Wir kommen bald zurück, machen sie sich keine Sorgen.

Ahmed Gaddaf Al-Dam

Was der Premier der Islamistenregierung in Tripolis allerdings ganz anders sieht: „Wir wissen ganz genau, dass der Islamische Staat in Libyen von Ahmed Gaddaf Al-Dam finanziert wird mit dem Ziel, das neue Libyen zu destabilisieren.“ Alles ist möglich in Libyen und im Gaddafi-Klan sowieso. Für Gaddaf Al-Dam bleibt sein Cousin, der ermordete Ex-Dikator, jedenfalls „für immer ein Heiliger in den Herzen der Libyer, ganz Afrikas und der islamischen Welt“. Er selbst, sagt er, will keine Rolle für sich: „Ich bin ein Soldat.“ Er will versuchen, „mit der ganzen Welt und mit allen Libyern zu reden“, um sein Land wieder zu stabilisieren. Am Schluss eines Pressegespräches, schon bei abgeschalteten Mikrophonen, verabschiedet er die Figaro-Journalisten: „Wir kommen bald zurück, machen sie sich keine Sorgen.“

Europa mit dem Problem Libyen alleine

Das Chaos in Libyen wird so schnell nicht enden, heißt das alles. Die Zahl der politischen Akteure in dem nordafrikanischen Wüstenstaat wird immer größer. Dazu kommt immer schnellerer wirtschaftlicher Verfall, der Hunderttausende Afrikaner noch schneller aus dem Land treiben wird – nach Europa. Libyens Ölförderung hat sich halbiert, die Währungsreserven sind praktisch aufgezehrt. 500.000 Libyer sollen aus ihren Dörfern vertrieben worden sein, über eine Million von sechs Millionen Libyern leidet angeblich schon an Unterernährung. Die Londoner Wochenzeitung The Economist sieht Libyen schon als das „Land“, wenn man so noch sagen will, „mit der 2016 weltweit am schnellsten schrumpfenden Wirtschaft“. Libyen könnte „ein zweites Somalia“ werden, warnte vor einem Jahr ein libyscher Ölminister – aber ein Somalia gleich auf der anderen Seite des Mittelmeers. Von einem libyschen Somalia spricht auch schon Ägyptens Präsident As-Sisi und sieht auf Europa eine verdoppelte und verdreifachte Migrationswelle zukommen (Le Figaro).

Wenn es möglich ist, den großen Exodus aufzuhalten, in dem man die Boote der Menschenschmuggler in den Häfen zerstört – warum dann noch warten?

Le Figaro

Wie auch immer. Die Europäer sind mit dem libyschen Problem und der über Libyen rollenden Völkerwanderung allein gelassen. Sie werden schon bald eine Antwort finden und handeln müssen – mit oder ohne Einladung einer libyschen Regierung, mit oder ohne internationalem Mandat. Einen Vorschlag dazu macht jetzt Le Figaro: „Wenn es möglich ist, den großen Exodus aufzuhalten, in dem man die Boote der Menschenschmuggler in den Häfen zerstört – warum dann noch warten?“ Die Zeit drängt tatsächlich. Der Frühling kommt – und mit ihm wahrscheinlich die nächste große Migrantenflut über Libyen und das Mittelmeer.