"Das machen wir mit keinem anderen Bundesland." Podium des deutsch-französischen Seminars in Fischbachau: Generalkonsul Jean-Claude Brunet, Botschafter Philippe Etinenne; Ministerialrat Dr. Paul Fischer. Bild: Bayerische Staatskanzlei
Fischbachau

In Oberbayern über den Dschihad reden

Seit 48 Jahren ist das deutsch-französische Seminar in Fischbachau eine Institution – und lebendiges Symbol für alte Sonderbeziehungen zwischen München und Paris. Einmal im Jahr kommen Vertreter der französischen Elite nach Oberbayern, um dort über Frankreich zu reden. Dieses Jahr war das Programm so dramatisch politisch wie noch nie: Terror, Front National, französische Identitätskrise.

Deutsche stellen sich die europäische Einheit immer in der Form ihrer föderalen Bundesrepublik vor – und können mit dem Gedanken gut leben. „Franzosen dagegen stellen sich einen europäischen Bundesstaat automatisch so vor wie ihr zentralistisches Frankreich – und haben sofort Angst vor Brüssel.“ Die Beobachtung trug vor einigen Tagen im oberbayerischen Fischbachau die französische Europaabgeordnete Sylvie Goulard vor. Die liberaldemokratische Europapolitikerin kennt Deutschland seit langem gut: Vor 26 Jahren hat die Absolventin der Ecole Nationale d’Administration (ENA) auf französischer Seite an der Formulierung des 2+4-Vertrages mitgewirkt und ist Trägerin des Bundesverdienstkreuzes.

Auf einen anderen prägenden Unterschied deutsch-französischer Europa-Denke macht der hohe französische Staatsbeamte Philippe Gustin aufmerksam: Frankreich hat von Anfang die EU vor allem als Mittel und Vehikel gesehen, „um in Europa Grande Nation“ zu sein.  Ziel deutscher Europapolitik war es dagegen, ebenfalls von Anfang an, „ die alten Dämonen zu verjagen“. Auch Gustin, Diener acht französischer Minister, ist Abgänger der französischen Eliteschmiede ENA. Und auch er sprach in Fischbachau.

Frankreichs Polit-Prominenz in Oberbayern

Kein Zufall. Denn die kleine Gemeinde (5600 Einwohner) im Landkreis Miesbach ist in einem knappen halben Jahrhundert sozusagen zu einem bayerischen – wenn nicht deutschen – Zentrum deutsch-französischen Nachdenkens über Frankreich, Deutschland und Europa geworden. Jedes Jahr Ende Januar oder Anfang Februar berichten hier ein knappes Dutzend hoch- und höchstrangiger Franzosen aus Politik, Wirtschaft, Kultur oder Kirche drei Tage lang über aktuelle französische Debatten und Fragen. Mindestens vier ehemalige oder amtierende französische Ministerpräsidenten und bestimmt ein Dutzend Minister sind schon nach Fischbachau gekommen. Ihre Zuhörer – und Diskussionspartner – sind etwa 100 bayerische Beamte und Richter. Vorgetragen und diskutiert wird in Fischbachau auf Französisch und nur auf Französisch. Wer am deutsch-französischen Seminar in Fischbachau teilnimmt, taucht auf diese Weise tief ein in Frankreichs politische und kulturelle Debatte: Ein besseres, aktuelleres Frankreich-Briefing als in Fischbachau wird niemand in Deutschland so schnell erhalten.

Privilegierte Beziehungen zwischen Frankreich und Bayern

Wer die Top-Tagung lediglich als Kind des Elysée-Vertrages und der deutsch-französischen Aussöhnung versteht, der blickt nicht weit genug zurück. Für Franzosen und Bayern war nach 1945 Aussöhnung einfacher und selbstverständlicher. München und Paris konnten an alte bayerisch-französische Freundschaft aus napoleonischer und nach-napoleonischer Zeit anknüpfen. München hatte schon, was Bonn sich erst erarbeiten musste: eine „relation privilegiée“ zu Paris.

Brückenschläge wie in Fischbachau verdienen es, gepflegt, gefördert, ermutigt und voran getrieben zu werden.

Ministerpräsident Franz Josef Strauß

Angefangen hat das Fischbachauer Seminar als „Tagung zur Erhaltung und Förderung bereits bestehender französischer Sprachkenntnisse“ für höhere bayerische Beamte und Richter. So wurde es jedenfalls 1968 in der Staatskanzlei von Ministerpräsident Alfons Goppel konzipiert. Auf französischer Seite wurde das Projekt sofort angenommen und prominent unterstützt. Neben der Staatskanzlei treten die Französische Botschaft, das Generalkonsulat in München und das Münchner Institut Franςais als Mitveranstalter auf. 450 hochrangige französische Referenten haben seit der ersten Veranstaltung im Jahr 1969 vor insgesamt 5500 frankophilen und frankophonen bayerischen Beamten vorgetragen.

In Paris bewundert man Bayerns rasanten Aufstieg zur dynamischsten Region Deutschlands.

„Brückenschläge wie in Fischbachau verdienen es, gepflegt, gefördert, ermutigt und voran getrieben zu werden“, bedankte sich 1987 Ministerpräsident Franz Josef Strauß in einem Schreiben an den französischen Generalkonsul. Strauß hat dabei eben nicht nur an die deutsch-französischen, sondern genauso an die bayerisch-französischen Beziehungen gedacht – und recht behalten. Denn längst ist Fischbachau auch in Paris zur wohlbekannten bayerisch-französischen Institution geworden.

Das machen wir mit keinem anderen Bundesland.

Philippe Etienne, Botschafter der Französischen Republik in Berlin

Dass es zwischen Bayern und Frankreich tatsächlich besondere Beziehungen gibt, hat jetzt in Fischbachau Botschafter Philippe Etienne wieder bestätigt. Die Europäische Union erlebt gerade ihre größte Krise. Im deutsch-französischen Tandem – Franzosen sprechen vom couple franco-allemand, also vom französisch-deutschen Ehepaar – gibt es Spannungen. Da, so Botschafter Etienne, betrachtet Paris Bayern als „besonders stabile Stütze“ in Deutschland und als, wenn auch kleineren, Partner fast auf Augenhöhe. Echte Bewunderung für Bayerns rasanten Aufstieg zur dynamischsten Region Deutschlands spielt dabei eine Rolle. Vor einem Jahr haben denn auch die Regierungen der Französischen Republik und des Freistaats eine gemeinsame Deklaration über Zusammenarbeit „in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Innovation“ abgeschlossen. Das war keine Symbolpolitik. Botschafter Etienne: „Das machen wir mit keinem anderen Bundesland.“

Die Idylle der 60er und 70er ist vorbei

An den Fischbachauer Tagungsprogrammen kann man auch ablesen, wie sehr sich seit 1969 Frankreich, Deutschland, Europa, ja die Welt verändert haben. Um französisch-deutsche Kulturbeziehungen, Schulreform in Frankreich, französische Landwirtschaft im Gemeinsamen Markt, Tendenzen der französischen Gegenwartsliteratur, Ausbildung hoher Beamter in Frankreich sowie um romanische Kirchen und die Provence ging es im ersten Fischbachauer Seminar. Was für eine friedliche Idylle die 60er und 70er Jahre doch waren! Vorbei, wirklich vorbei.

Dass man in anderen deutschen Staatskanzleien so gut über unser großes Nachbarland im Bilde ist wie in München, ist eher ungewiss.

So dramatisch politisch – fast schon beunruhigend politisch – wie dieses Jahr war Fischbachau noch nie: Terror und Dschihad im Hexagon, Frankreich nach dem Erfolg des Front National in den Regionalwahlen, kulturell-politische Identitätskrise, Blasphemie in der Republik, Europas Antworten auf die neuen Migrationsflüsse, Europas stotternder deutsch-französischer Motor, Frankreichs und Deutschlands Demographie im Vergleich, Reform des französischen Deutschunterrichts. Alles Themen, die in Frankreich kaum anderthalb Jahre vor der nächsten Präsidentschaftswahl erregt diskutiert werden. Paul Fischer, als frankophiler Ministerialrat in der Staatskanzlei seit 21 Jahren die Seele des Fischbachauer Seminars, hatte sie mit Fingerspitzengefühl zusammengestellt: Dass man in anderen deutschen Staatskanzleien so gut über unser großes Nachbarland im Bilde ist wie in München, ist eher ungewiss.

Dschihad in Frankreich

Großer Star in Fischbachau war dieses Jahr Gilles Kepel mit seinem Vortrag über „Terror im Hexagon: Die Genese des Dschihad in Frankreich.“ Das ist auch der Titel seines neuen Buches – seit Wochen an der Spitze französischer Bestsellerlisten –, das im kommenden Oktober bei einem Münchner Verlag auf Deutsch erscheinen wird. Hexagon ist eine Bezeichnung für Frankreich, die sich aufgrund der sechseckigen Landesform ergeben hat. In Frankreich flimmert Kepel derzeit fast ständig über die TV-Bildschirme. Kein Wunder: Er ist seit langem Frankreichs führender und gefragtester Islam-, Orient- und Einwanderungsexperte. Kepel weiß alles über die Verhältnisse in Frankreichs Banlieues, über üble Trends in der muslimischen Einwanderungsgesellschaft und darüber, was Frankreich – und Europa – diesbezüglich wohl noch erwartet.

Mohammed Merah hat die Kinder der jüdischen Schule in Toulouse am 19. März 2012 umgebracht, auf den Tag genau 50 Jahre nach dem Waffenstillstand im Algerien-Krieg.

Gilles Kepel

Frankreich ist besonders im Visier arabischer Dschihadisten. Kepel erklärt warum: Frankreich ist sozusagen das größte arabische Land in Europa mit der größten muslimischen Bevölkerung. Der syrische Bürgerkriegsschauplatz ist vergleichsweise nah. Ein bedrohlicher Faktor sind die Verhältnisse in den muslimischen Banlieues: hohe Arbeitslosigkeit, ausufernde Drogenkriminalität, Vormarsch des Salafismus, Verachtung für Wissen und Bildung, wütende Ablehnung der Republik und der Werte der Moderne. Dazu kommt, so Kepel, nicht aufgearbeitete französische Kolonialgeschichte: Viele algerisch-stämmige arabische Franzosen geben ihren Hass auf Frankreich an die Kinder weiter – und hassen sich selber dafür, dass sie im Land der Feinde leben. Kepel spricht vom „doppelten Selbstmord“ – „auto-suicide“ – der algerischen Dschihadisten, die „eine Identität aus sich herausreißen wollen, die sie verabscheuen.“

Viele algerisch-stämmige arabische Franzosen geben ihren Hass auf Frankreich an die Kinder weiter – und hassen sich selber dafür, dass sie im Land der Feinde leben.

Mohammed Merah, der 2012 in einer jüdischen Schule in Toulouse einen Lehrer und mehrere Kinder besonders brutal ermordete, tat das am 19. März – der 50. Jahrestag des Waffenstillstands im Algerienkrieg. Merah selber war das wahrscheinlich gar nicht klar. Aber seine Familie und andere arabische Algerien-Einwanderer haben die Schreckenstat als Aufkündigung – „als Zerreißen“ –  des Waffenstillstands gefeiert. Franzosen, denen das bewusst wird, erschrecken und verstehen plötzlich, wenn Präsident Hollande jetzt in Zusammenhang mit dem Dschihad-Terror von „Krieg“ redet.

Ob Saudi-Arabien in den kommenden Jahren in dieser Form überleben wird? Ich bin mir nicht sicher.

Gilles Kepel

Kepel erklärt Dschihad und islamischen Aufruhr in Frankreich vor allem aus französischen Bedingungen heraus. Aber etwa im kleinen und beschaulichen Dänemark ist die Zahl der Syrien-Dschihadisten pro Kopf der Bevölkerung deutlich größer als im Hexagon – bei völligem Fehlen eben jener typisch französischen Faktoren. Man sollte Kepel einmal danach fragen.

Doch der Mittelost-Experte Kepel denkt natürlich auch über Frankreichs Sorgen hinaus und ahnt, dass wir womöglich erst am Anfang der großen Umwälzung im Mittleren Osten stehen: Überall Bevölkerungsexplosion und „gescheiterte arabische Gesellschaften“. Algerien wird gerade jetzt vom Absturz des Ölpreises hart getroffen und hat nur noch für sechs Monate Währungsreserven – „dann kann es seine Bevölkerung nicht mehr ernähren“.  Saudi-Arabien muss aus dem gleichen Grunde Subventionen streichen. Kepel: „Die Stammes-Jugend gehorcht nicht mehr ihren Scheichs, sondern versammelt sich auf facebook.“ Tausende ziehen in den Dschihad nach Syrien und Irak. Kepel weiter: „Ob Saudi-Arabien in den kommenden Jahren in dieser Form überleben wird? Ich bin mir nicht sicher.“

Aufstieg des Front National

Terror, wachsende islamische Radikalisierung, Einwanderungsdruck und identitäre Krise lassen auch in Frankreich den Druck im politischen Kessel wachsen – und treiben etwa dem rechtspopulistischen Front National (FN) Millionen Wähler in die Arme. In der ersten Runde der Regionalwahlen im vergangenen Dezember erschien der FN als stärkste politische Kraft in Frankreich, erinnerte in Fischbachau Politik-Professor Eddy Fougier. Er lehrt in Lille und Aix-en-Provence – just in jenen Regionen im Norden und Süden des Hexagon, wo der FN besonders stark ist. Für die nächste Präsidentschaftswahl im Mai/Juni 2017 sei nicht mehr die Frage, so Fougier, ob FN-Chefin Marine Le Pen die zweite Runde erreicht, „sondern nur noch mit wem“.

Eine Le Pen-Präsidentschaft ist möglich.

Eddy Fougier, Politik-Professor in Lille und Aix-en-Provence

Das ist umso beunruhigender, als es derzeit danach aussieht, als würde die Wahl im Jahr 2017 mit den Präsidentschaftskandidaten Franςois Hollande, Nicolas Sarkozy, dem linksradikalen Jean-Luc Mélenchon, dem unabhängigen Liberalen Franςois Bayrou und eben Marine Le Pen zur personell identischen Wiederholung der Wahl von 2012 werden. Problem: Die Wähler haben vor vier Jahren nicht Hollande gewählt, sondern Sarkozy abgewählt – und sind jetzt auch von Hollande zutiefst enttäuscht. Fougier: „80 Prozent der Wähler wollen weder Sarkozy noch Hollande als Kandidat.“ Eine Wiederholung des Duells Hollande-Sarkozy entspricht nicht der politischen Realität von heute – oder von 2017. Immer mehr Franzosen sagen sich ganz kühl, so Fougier: „Wir haben Rechts ausprobiert, wir haben Links ausprobiert – warum nicht FN?“ Fougier: „Eine Le Pen-Präsidentschaft ist möglich.“

Frankreich und die Migrantenkrise

Am Schluss nahm Botschafter Etienne zur Migrantenkrise Stellung. Deutschland und Frankreich seien hier eben „nicht auf einer Linie“. Frankreich habe 2015 nur sehr wenige Migranten aufgenommen, so Etienne. Der Botschafter ließ das unkommentiert, machte dafür aber klar, dass vor einer europäischen Lösung für Paris drei Dinge unbedingt zusammengehören:

• Kontrolle der EU-Außengrenzen mit effizienter Registrierung aller Migranten;

• schnelle Abweisung und Rückführung all jener, die keine Anrecht auf Asyl haben: „Wirtschaftsflüchtlinge muss man zurückschicken“;

• Einrichtung eines neuen Mechanismus zur Umverteilung der Migranten.

Wirtschaftsflüchtlinge muss man zurückschicken.

Botschafter Philippe Etienne

Etienne: „Diese drei Punkte gehören zusammen.“ Was bedeutet: Paris wird sich auf Kontingente und eine europaweite Umverteilung von Migranten nur dann einlassen, wenn zuvor die Kontrolle der EU-Außengrenzen und die vollständige Erfassung aller Migranten in griechischen und italienischen Aufnahmezentren – Hotspots – garantiert ist. Bisher ein wenig realistisches Szenario. Bleibt ein Problem, das Botschafter Etienne nicht ansprach: Griechen und Italiener stellen die exakt gegensätzliche Bedingung: Sie vollen nur kontrollieren und registrieren, wenn zuvor die europaweite Umverteilung der Flüchtlinge geregelt und garantiert ist.

Fischbachau − Ort deutschfranzösisch-deutscher Harmonie

Darüber waren sich in Fischbachau alle Redner einig: 2016 steht die Europäische Union vor der größte Krise ihrer Geschichte. Und gleichzeitig steht es eben ziemlich schlecht um das „couple franco-allemand“.

Hier habe ich die Deutschen lieben gelernt.

Georges Beuchard, seit 36 Jahren Teilnehmer in Fischbachau

Genau das macht Fischbachau so wichtig als Ort deutsch-französischer Harmonie und echter bayerischer Neugier auf den großen Partner westlich des Rheins. Der 93-jährige Algerienfranzose Georges Beuchard − er hat noch am Weltkrieg teilgenommen, lebt seit 30 in Deutschland und ist seit 36 Jahren treuer Gast und Teilnehmer in Fischbachau − brachte es in seinem anrührendem Schlusswort zum Ausdruck: „Hier habe ich die Deutschen lieben gelernt.“