Die Münchner Sicherheitskonferenz ist Veranstalter zahlreicher internationaler Meetings. Hier trifft der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier gemeinsam mit Wolfgang Ischinger seine Amtskollegen aus Iran und Oman in Therean. Foto: imago/Xinhua
Sicherheitskonferenz

„Um Europa ist ein Feuerring entstanden“

Interview Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, erläutert im Gespräch mit dem Bayernkurier, warum Europa sich deutlich stärker in der Mittelmeerregion engagieren muss und warum trotz aller Spannungen Moskau nicht politisch ausgegrenzt werden darf.

Bayernkurier: Herr Botschafter, zahlreiche gefährliche Krisen dominieren zu Beginn des Jahres das Weltgeschehen. Welche ist aus Ihrer Sicht die brisanteste?

Wolfgang Ischinger: Um Europa herum ist ein Feuerring entstanden: Die Großkrise im Nahen und Mittleren Osten mit seinen Hauptprotagonisten Iran, Saudi-Arabien und dem sogenannten Islamischen Staat auf den Kriegshauptschauplätzen Syrien und Jemen bereitet mir die größten Sorgen. Sie hat mit Blick auf die Flüchtlingskrise und den Terrorismus große Implikationen für Europa. Aber auch die Ukraine-Krise ist noch nicht überwunden, während gleichzeitig schwere Dissonanzen zwischen der Türkei und Russland nach dem Luftzwischenfall über Syrien die Lage weiter erschweren. All diese Fragen werden die Agenda der 52. Münchner Sicherheitskonferenz beherrschen.

Bayernkurier: „Wie aus fünf Ländern 14 werden“, schrieb eine Autorin der New York Times und zeichnete eine Mittelostkarte, auf der Syrien, Irak und Libyen in je drei neue staatliche Einheiten zerfallen waren. Sie scheint recht zu behalten. Gibt es Syrien, Irak und Libyen überhaupt noch?

Ischinger: Leider ist es so, dass im Gürtel von Westafrika über den Nahen und Mittleren Osten bis nach Zentralasien hinein die Dichte der „failing and failed states“ besonders hoch ist und durch ethnische und religiöse Konflikte noch zusätzlich befeuert wird. Staatlichkeit erodiert wie im Falle Syriens, des Iraks und anderswo zusehends oder droht zu implodieren. Das hat Auswirkungen auf die regionale, aber auch globale Sicherheit und Stabilität. Für die internationale Sicherheitspolitik wird es immer schwieriger, auf Staaten und Zentralregierungen einzuwirken, die durch koloniale oder postkoloniale Grenzziehungen entstanden sind. Erklärtes Ziel der internationalen Gemeinschaft muss es jedoch sein, diese Länder in ihrer Gesamtheit zu bewahren. Vom Ziehen neuer Grenzen halte ich nichts – weder innerhalb noch außerhalb Europas, es sei denn, sie werden friedlich und einvernehmlich beschlossen, Beispiel Prag und Bratislava.

Bayernkurier: Aber nach bald fünf Jahren mörderischen Bürgerkriegs mit blutigen ethnischen und religiösen Säuberungen ist Syriens ethnisches und religiöses Mosaik zerstört. Wie soll das irgendjemand je wieder zusammensetzen?

Ischinger: Syriens Strukturen – und damit meine ich sowohl die politischen als auch die tatsächlichen – wiederherzustellen wird die große Aufgabe über lange Jahre werden. Zuerst geht es darum, dass alle Beteiligten in dieser vollkommen verfahrenen Lage zur Deeskalation beitragen, um im nächsten Schritt über Verhandlungsrunden einer Friedenslösung näher zu kommen und dem sogenannten Islamischen Staat den Garaus zu machen. Ich fürchte allerdings, dass es sehr lange dauern wird, bis dieser Konflikt beendet sein wird. Anders als Afghanistan, das nach 30 Jahren Krieg kaum mehr Strukturen vorzuweisen hatte, hat Syrien heute in Teilen noch eine funktionierende Zivilgesellschaft. Hier liegt die Hoffnung und hier kann die Weltgemeinschaft unterstützen, finanziell, materiell und mit Knowhow.

Bayernkurier: Niemand in den USA oder in Europa hat eine Vorstellung, wie Syrien nach Assad aussehen soll. Aber kann man Krieg führen, ohne ein gestalterisches politisches Ziel zu haben? Ist so ein Krieg nicht von vornherein verloren?

Ischinger: Es geht um die Beendigung eines Bürgerkriegs. Über die Zukunft Syriens müssen die Syrer entscheiden, nicht wir. Beim politischen Neuanfang in Syrien kann der Westen allerdings helfen: Aufarbeitung und Verfolgung der Kriegsverbrechen, aber auch nationale Versöhnung und Vertrauensbildung. Das sind zentrale Themen, abgesehen vom materiellen Wiederaufbau. Das wird Zeit und viel Geld kosten. Eine weitere Lehre ist, dass man nicht wirklich im Wortsinn einen Krieg gegen den Terrorismus gewinnen kann. Das Phänomen des Terrorismus wird man auch im 21. Jahrhundert nicht endgültig besiegen können. Es ist aber dringend notwendig, dass die strategischen Ziele zur Bekämpfung des IS und zur Beendigung des Bürgerkrieges in Syrien klar und einvernehmlich definiert werden. Ich hoffe, dass die Wiener Konferenz, die nach Wegen für einen Frieden in Syrien sucht, in dieser Frage weiter kommt, also unter Beteiligung sowohl Moskaus, wie von Riad und Teheran.

Bayernkurier: Wäre es nicht einfacher, wir sagen: O.K., machen wir halt aus Syrien drei Staaten: einen Alawiten-Staat, ein sunnitisches Territorium und Kurdistan – egal was die Türken dazu sagen?

Ischinger: Was wäre das denn für ein Signal? Das würde weltweit die Büchse der Pandora für sezessionistische Ambitionen öffnen. Es gibt keine einfachen Lösungen in derartig komplexen Situationen. Multiethnische Staaten sind weltweit zunehmend die Normalität. Nationalstaaten, die sich rein ethnisch oder religiös definieren, sind in einer globalisierten Welt nicht mehr zeitgemäß. Jeder Schritt in diese Richtung wäre ein Schritt zurück.

Bayernkurier: Eine sehr zweifelhafte Rolle in Syrien und Irak spielt Saudi-Arabien. Die Dschihad-Religion des Islamischen Staates kommt aus Saudi-Arabien. Der Islamische Staat und Saudi-Arabien sind sich ideologisch ziemlich ähnlich. „Saudi-Arabien – ein Islamischer Staat, der es geschafft hat“, titelte kürzlich die New York Times. Müssen wir mit Saudi-Arabien einmal sehr offen reden, vielleicht auf dieser Sicherheitskonferenz?

Ischinger: Ja, natürlich, aber das ist nur eine unter mehreren strategischen Fragen, die kritisch erörtert werden müssen, nicht nur mit Riad. Es gibt heute keine regionale Ordnung mehr im Nahen Osten, in diesem Vakuum ringen Iran und Saudi-Arabien um die Führungsrolle, politisch wie religiös. Frühere wichtige Akteure wie etwa Ägypten fallen als Ordnungsmächte weitgehend aus. Die Region braucht aber eine Grundordnung, genau wie Europa auch. In Europa haben wir Institutionen geschaffen, die EU, die OSZE, die Nato usw. Kann die Arabische Liga, kann die Organisation islamischer Staaten eine stärkere Ordnungsfunktion übernehmen? Welche Rolle kann die EU, können Moskau und Washington dabei spielen? Darüber werden wir in München reden müssen. Aber auch darüber, wie man die Wiener Syrien-Gespräche erweitert: Das Verfahren in Wien ist der erste Ansatz seit Jahren, Saudi-Arabien und Iran an einen Tisch zu bekommen. Eigentlich müsste diese Konferenz ab sofort, sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag, mit Krisenbewältigungsmechanismen und militärischen Krisenvermeidungs-Untergruppen tagen, nämlich als Krisenvermeidungs- und als Friedenskonferenz.

Eine heikle Frage zum Thema Libyen: Mare nostrum nannten die Römer ihr Mittelmeer, weil sie auch die Gegenküste fest in der Hand hatten. Das gab Sicherheit. Heute herrschen an den uns gegenüber liegenden Küsten Chaos, Unsicherheit und Terror. Müssen die Europäer am Ende diese Gegenküste – etwa in Libyen – selber in die Hand nehmen, kontrollieren und befrieden, um von dort Sicherheit zu gewinnen?

Ischinger: Wenn die Europäer nicht zum Spielball von Instabilitätsfaktoren und Terroristen werden wollen, müssen sie sich vor ihrer Haustür und Nachbarschaft engagieren. Die Lehre aus Syrien ist, dass Europa sich durch Nichthandeln selbst in eine der größten politischen und sicherheitspolitischen Herausforderungen manövriert hat. In Libyen ist der sogenannte Islamische Staat auf dem Vormarsch und steht damit unmittelbar an der Südgrenze Europas. Der jüngste Versuch, die Lage in Libyen durch die Bildung einer Zentralregierung zu stabilisieren, muss daher mit aller Kraft durch die Europäer unterstützt werden – und da schließe ich auch eine internationale Militärmission nicht aus, die diesen Prozess vielleicht flankieren könnte.

Bayernkurier: Über Algerien redet bislang noch kaum jemand. Aber das riesige Land steht vor einem Regimewechsel, es gibt großen demographischen Druck und eine starke islamistische Bewegung, und wegen des niedrigen Ölpreises sinken die Staatseinnahmen. Droht in Algerien die nächste Mittelost-Eruption? Mit Wirkungen bis in die Sahelzone und nach Afrika?

Ischinger: Insgesamt müssen wir uns im Sinne des Mare nostrum wieder verstärkt der Mittelmeerregion zuwenden – und damit auch dem Nachbarn Algerien. Präsident Sarkozy hat damals die Mittelmeer-Union ins Leben gerufen, die seitdem bedauerlicherweise ein Schattendasein fristet. Diese müssen wir neu beleben und nutzen, um nicht erst dann reagieren zu können, wenn die Katastrophe bei uns vor der Haustüre landet. Die Europäische Union hat bei dem Versuch versagt, um sich herum stabile und prosperierende Staaten aufzubauen. Der Umstand, dass Bildungschancen und Arbeit fehlen, führt zu Hoffnungslosigkeit und Radikalisierung. Wir brauchen ein viel umfangreicheres strategisches Engagement in der Region. Das wird viel kosten, aber das ist gute präventive Sicherheitspolitik!

Bayernkurier: Stichwort: Völkerwanderung nach Europa. 1,5 Millionen Migranten im vergangenen Jahr und vielleicht noch einmal so viele in diesem. Wie soll Europa – und da vor allem Deutschland – das verkraften?

Ischinger: Jedes Risiko bietet auch Chancen. Wir haben jetzt junge, aktive Menschen hier in Europa. Ein Teil wird bleiben und den müssen wir gut integrieren – sprachlich, kulturell und mit entsprechender Ausbildung. Ein Teil wird und sollte auch wieder zurückgehen, wenn die Situation wieder ein sichereres Umfeld bietet. Diesen Menschen können wir etwas mitgeben: Ausbildung und Knowhow, so dass sie sich nach ihrer Rückkehr etwas aufbauen können. Und nicht zuletzt: Wenn sich diese Menschen hier willkommen gefühlt haben und mit einem positiven Deutschlandbild wieder zurückkehren, dann hat das unschätzbaren Wert für Deutschland in den zukünftigen Beziehungen zu diesen Ländern.

Bayernkurier: Lassen Sie uns einen geographischen Sprung machen – nach Russland. Manche Leute im Lande sagen, man müsse Verständnis dafür haben, dass Moskau die Ukraine als seine Einflusssphäre betrachtet und darin behalten will. Was sagen Sie dazu?

Ischinger: Glücklicherweise haben wir die Zeit hinter uns gelassen, in der es akzeptabel für einen Staat war, einen anderen zu „behalten“. Die Ukraine ist ein souveräner Staat und hat das Recht, souveräne Entscheidungen zu treffen. Dazu gehört selbstverständlich auch die Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik. Dieses Recht der europäischen Staaten hat auch Russland anerkannt. Ich habe Verständnis dafür, dass Russland seine Interessen definiert. Aber nur weil Russland sagt, dieses und jenes gehört zu unserer Einflusssphäre, heißt nicht, dass das auch stimmt. Das müssen die betroffenen Länder selbst entscheiden dürfen!

Bayernkurier: Polen, Balten und andere osteuropäische EU- und Nato-Partner fühlen sich von Moskau bedroht. Haben sie dazu Grund?

Ischinger: Ich kann gut nachvollziehen, dass sie sich seit der Krim-Annexion und Ukraineintervention Sorgen machen. Es ist wichtig, dass unsere östlichen Verbündeten wissen, dass wir ihnen zur Seite stehen. Zugleich halte ich aber wenig davon, die Nato-Ostgrenze aufzurüsten. Eine besonnene Stärkung, wie auf dem Nato-Gipfel in Wales 2014 beschlossen, bleibt der richtige Weg. Im Übrigen sehe ich in Moskau wenig Appetit auf weitere außenpolitische Abenteuer. Wir dürfen Moskau nicht ausgrenzen und müssen stets die Tür offenhalten.

Bayernkurier: „Auf das 20. Jahrhundert und das Zeitalter der Totalitarismen, der ideologischen Fanatismen, des Gulags und der Shoa folgt mit dem 21. Jahrhundert ein Zeitalter des apokalyptischen Terrorismus und des religiösen Fanatismus, der imperialen Hybris und der ethnischen Säuberung.“ Das schreibt der französische politische Denker Pierre Hassner. Müssen wir uns tatsächlich darauf einstellen?

Ischinger: Die Weltordnung ist zwar ins Schwanken geraten, und die Herausforderungen sind groß. Wir werden weiter immer wieder mit Fanatikern und Völkermördern zu tun haben. Aber ich habe keine Angst davor, dass das 21. Jahrhundert so schlimm wird wie das 20., oder gar schlimmer. Insgesamt geht es der Menschheit heute viel besser als vor 70 oder 100 Jahren.

Bayernkurier: Wenn sie jetzt, vor der 52. Sicherheitskonferenz, zurückblicken auf das vergangene Jahr nach der 51. Konferenz, fällt Ihnen da eine positive Entwicklung ein, die uns sicherheitspolitische Hoffnung machen kann für das eben begonnene Jahr?

Ischinger: Man muss in der Außen- und Sicherheitspolitik Optimist Bleiben und strategische Geduldbewahren. Wer hätte denn 2015 erwartet, dass sich die Beziehungen zwischen Kuba und den USA sowie zwischen Iran und dem Westen normalisieren? Oder wer hätte den Klima-Erfolg in Paris vorhergesagt? Mit diesem Rückenwind sollten wir in das noch junge Jahr 2016 gehen.

Das Interview führte Heinrich Maetzke

 

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