Den Westen destabilisieren: Russlands Diktator Wladimir Putin hat ein klares Ziel. (Bild: Imago)
Russland

Der lange Arm des Kreml

Gastbeitrag Aus dem BAYERNKURIER-Magazin: Mit Cyberattacken, Desinformation und Propaganda versucht Moskau, Wahlen zu beeinflussen, radikale Kräfte zu stärken und den Westen zu destabilisieren. Dagegen müssen sich Bürger und Regierungen gemeinsam wehren.

Blickt man auf die vergangenen fünf Jahre im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen zurück, kann man feststellen: Die pessimistischsten Prognosen haben sich nicht bewahrheitet. Es ist Putin nicht gelungen, den Westen zu spalten, und es hat keine direkte militärische Eskalation gegeben. In allen anderen Punkten aber hat sich die Lage gegenüber 2014 verschlimmert: Russland unter Putin unterdrückt gewaltsam jede interne Opposition, führt weiter Krieg gegen die Ukraine und bedroht andere Nachbarn, hat Nervengift in einem Nato-Land eingesetzt, spielt eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung von Diktatoren und Nationalisten in aller Welt und greift tief in die Demokratien des Westens ein. Es wird Zeit, unsere Antwort darauf weiter zu verbessern.

Moskau will verhindern, dass sich in den ehemals sowjetischen Nachbarländern Russlands funktionierende Demokratien entwickeln.

Dazu sind drei Schritte nötig: Wir müssen den Charakter des Konflikts zwischen dem Kreml und dem Westen erkennen. Wir müssen analysieren, wie Putin versucht, uns zu beeinflussen. Erst dann können wir entscheiden, wie wir am besten reagieren.

Putin will so lange wie möglich an der Macht bleiben und sein korruptes und autoritäres Machtsystem ständig verfeinern. Dazu muss er eine Demokratiebewegung in Russland verhindern. Um das zu erreichen, genügt es nicht, Widerstand gewaltsam zu unterdrücken und den Westen als Bedrohung zu zeichnen, sondern es dürfen sich auch in den ehemals sowjetischen Nachbarländern Russlands keine funktionierenden Demokratien entwickeln – denn sie könnten für die Russen das entscheidende gute (und daher in den Augen des Kreml schlechte) Beispiel werden, durch das Putins Macht schnell implodieren könnte. Und um funktionierende Demokratien in den Nachbarländern Russlands zu verhindern, muss der Kreml die Institutionen und Kräfte bekämpfen und schwächen, die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Osteuropa stützen: die Nato, die EU und ihre Mitgliedsstaaten.

Das ist ein Grundsatzkonflikt, den man nicht mit ein paar Nettigkeiten gegenüber Putin beseitigen kann. Man kann ihn auch nicht ignorieren und stur auf Kooperation setzen. Das ist aber sehr wohl ein Konflikt, den man einhegen und begrenzen kann: indem man Putin und seinen Getreuen im Kreml unmissverständlich klarmacht, dass der Westen sich wehrt und auch in der Lage ist, gezielt auf Aggression und Provokation zu reagieren, gerade wo es dem Kreml wehtut. Denn lebensmüde ist Putin nicht, und eine all­umfassende Konfrontation mit dem Westen wäre für sein auf Energieexporte angewiesenes Regime möglicherweise das Ende.

Trolle und Fake News

Neben den „klassischen“ Mitteln der Diplomatie und militärischen Drohungen bis hin zu Krieg und Besetzung von Nachbarländern nutzt der Kreml, verstärkt seit 2013, neue Methoden der feindlichen Einflussnahme: Cyberattacken, Desinformation und Propaganda durch Trolle etc. in sozialen Medien, direkte Unterstützung kremlfreundlicher politischer Organisationen und Stiftungen, strategische Korruption und Ausnutzung russischer Minderheiten.

Ziel dieser Informationskriegsführung ist es, Spannungen zu schüren, Menschen zu verunsichern und das Vertrauen in Regierungen zu untergraben.

Ein frühes Beispiel für eine Cyberattacke war die Lahmlegung von Teilen der Wirtschaft und des Staates in Estland 2007, als russische Regierungshacker die Verlegung des „Bronzesoldaten“, einer Statue aus der Sowjetzeit, zum Anlass für einen massiven Angriff auf das kleine Land nahmen. Ein Beispiel russischer Informationskriegsführung in Deutschland war der Datenhack im Bundestag im August 2015. Auch bei der französischen Präsidentenwahl 2017 versuchten russische Hacker die Wahl durch kurz vor dem Wahltag veröffentlichte Beutedaten zu beeinflussen – ohne Erfolg, da die Kampagne Emmanuel Macrons gut vorbereitet war und schnell reagiert werden konnte.

Cyberkriegsführung tritt oft zusammen mit Desinformation („fake news“) auf, also falschen Nachrichten wie der erfundenen Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens durch Migranten im Januar 2016, die als „Fall Lisa“ bekannt wurde. Das Aufgreifen der Lügen durch den russischen Außenminister Lawrow führte dann zu einem der sehr seltenen Wutausbrüche seines damaligen deutschen Kollegen Frank-Walter Steinmeier. Hier wiederum war eine geschickte Kombination mit der Instrumentalisierung ethnischer Russen und russischsprachiger Menschen im Westen im Spiel: in diesem Fall der Russlanddeutschen, von denen auch Tausende in Berlin gegen die angebliche Vertuschung durch die Bundesregierung auf die Straße gingen.

Die Instrumente des Kreml reichen in all diesen Fällen von Hackern über Internet-Trolle, die in mehreren staatlichen Zentren in Russland rund um die Uhr beschäftigt sind, bis zu russischen Medien wie RT und Sputniknews, die sehr aktive Programme in deutscher, englischer und anderen westlichen Sprachen betreiben. Ziel dieser Informationskriegsführung ist es nicht in erster Linie, Wahlen zu beeinflussen, sondern Spannungen zu schüren, Menschen zu verunsichern und das Vertrauen in Regierungen, öffentliche Medien und überhaupt „Eliten“ zu untergraben.

Finanzhilfe für Radikale

Reichhaltig dokumentiert ist inzwischen die politische und finanzielle Hilfe für radikale und nationalistische Parteien in ganz Europa, von Griechenlands „Goldener Morgenröte“ über Frankreichs „Nationale Sammlung“ (früher Nationale Front) zur britischen UKIP. Sehr wichtig ist natürlich auch die Unterstützung von Bewegungen wie den katalanischen Separatisten oder Frankreichs „Gelbwesten“: Der Kreml hat sie nicht geschaffen, seine Trolle und Propagandisten helfen aber nach Kräften, ihr Destabilisierungspotenzial zu vergrößern.

Eine wichtige und bisher noch nicht ausreichend untersuchte Rolle spielt strategische Korruption im Rahmen von Handel und Investitionen, besonders in den ehemaligen kommunistischen Ländern Mitteleuropas, aber auch in Deutschland durch Großprojekte wie Nord Stream 2: Der Kreml schafft hier Abhängigkeiten und zwingt westliche Investoren in Russland, ebenso wie Exporteure, zur Anpassung an das Dickicht zwischen Regierung, Geheimdiensten, russischer Wirtschaft und organisiertem Verbrechen – all das mit dem Lockmittel des angeblich immer noch riesigen Wirtschaftspotenzials Russlands. Dabei ist es pure Illusion, Firmen wie Gazprom als Privatunternehmen zu sehen – sie stehen, wie die meisten russischen Großunternehmen, direkt unter der Kontrolle des Kreml. Das Anfang Januar veröffentlichte Strategiepapier des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft, inklusive seiner politischen Forderungen nach einer Wiederannäherung Deutschlands und der EU an Russland, ist ein gutes Beispiel für die Folgen der Illusionen, denen Teile der europäischen Geschäftswelt immer noch unterliegen.

Wenn diese Techniken Russlands auch nur teilweise Erfolg haben, dann werden unsere Demokratien destabilisiert, das nordatlantische Bündnis und die europäische Integration untergraben und damit auch Sicherheit und Frieden gefährdet.

Was wir dagegen tun sollten

Die Sanktionen der EU waren in dieser Hinsicht ein Erfolg: Zwar haben sie zu keiner unmittelbaren Umkehr bei Putin geführt. Sie haben aber zum Beispiel mit großer Wahrscheinlichkeit Pläne des Kreml gestoppt, die gesamte Ostukraine („Neurussland“) zu besetzen. Vieles spricht dafür, dass Russland ohne Sanktionen noch aggressiver und noch weniger kooperativ wäre. Auch auf dem Gebiet der Cyberabwehr und der Informationskriegsführung haben wir Fortschritte gemacht: Die baltischen Staaten sind inzwischen vorbildlich und haben sogar „Freiwilligenverbände“ (Cyber Defense Leagues) zur Abwehr russischer digitaler Angriffe aufgestellt.

Unsere Fähigkeit, verantwortungsvoll mit Informationen aus sozialen Medien umzugehen, muss geschärft werden.

Die Ukraine hat zivilgesellschaftliche Strukturen geschaffen, die schnell und effektiv auf russische Desinformation reagieren (StopFake). Das freie internationale Journalistennetzwerk Bellingcat hat bei der Aufklärung des MH-17-Abschusses 2014 und Russlands chemischer Kriegsführung im Fall Skripal 2018 entscheidend zur Widerlegung der Kreml-Lügen beigetragen. Sogar der Auswärtige Dienst der EU hat inzwischen ein Team in Brüssel, das sich mit der Dokumentation russischer Desinformation befasst.

So weit, so gut. Aber es gibt noch viel mehr zu tun. Die Europawahlen im Mai eröffnen neue Potenziale für feindliche Beeinflussung und daher neuen Bedarf für Abwehrmaßnahmen in der EU. Die Gesetzgebung für das Internet muss ständig angepasst werden, um Meinungsfreiheit mit Sicherheit vor Desinformation zu kombinieren. Unsere Fähigkeit, verantwortungsvoll mit Informationen aus sozialen Medien umzugehen, muss geschärft werden. Die Transparenz russischer Finanzierung für politische Organisationen im Westen muss weiter verbessert werden, wie ja auch der Westen kein Problem damit hat, seine globale Unterstützung von Demokraten transparent zu gestalten. Diese Unterstützung muss weitergehen und intensiviert werden.

Die Stärke der Demokratie

Europas Demokraten müssen aber auch erkennen, dass nicht jeder „Putinversteher“ auf der Gehaltsliste des Kreml steht oder dessen Lügen zum Opfer gefallen ist. Mancher argumentiert für Nachgiebigkeit und voraus­eilenden Gehorsam gegenüber Putin, weil er Angst vor Krieg hat oder überzeugt ist, auf diese Weise die Interessen unserer Bürger besser durchzusetzen. Darauf muss man beharrlich und mit politischen Argumenten eingehen und die Lektionen der Geschichte aufzählen, von der Gefahr des Appeasement bis zum gewaltlosen Sieg des Westens im Wettstreit mit dem Kommunismus.

Am Allerwichtigsten ist eine Rückbesinnung auf die Stärke unserer Demokratie. So sehr der Kreml die feindliche Einflussnahme im Westen „von oben nach unten“ hierarchisch gestaltet, so sehr muss unsere Reaktion Bürger und Regierungsinstitutionen gleichermaßen einbeziehen. Das ist chaotischer und verursacht mehr Reibungsverluste als die autoritäre Methode des Kreml. Es ist aber die einzig richtige Antwort freier Gesellschaften auf die neue autoritäre Bedrohung aus Russland.

Der Autor

Roland Freudenstein ist Policy Director des „Wilfried Martens Centre for European Studies“, der Denkfabrik der Europäischen Volkspartei (EVP) in Brüssel.