Ankaras Preis
Streit beim EU-Gipfel: Osteuropäische Länder lehnen einen dauerhaften Schlüssel zur EU-weiten Verteilung der Migranten strikt ab. Dafür sind sich EU und Türkei grundsätzlich einig über einen Aktionsplan zur Eindämmung des Migrantenstroms über die Ägäis. Ankaras Preis: drei Milliarden Euro und Visa-Erleichterungen.
EU-Gipfel

Ankaras Preis

Streit beim EU-Gipfel: Osteuropäische Länder lehnen einen dauerhaften Schlüssel zur EU-weiten Verteilung der Migranten strikt ab. Dafür sind sich EU und Türkei grundsätzlich einig über einen Aktionsplan zur Eindämmung des Migrantenstroms über die Ägäis. Ankaras Preis: drei Milliarden Euro und Visa-Erleichterungen.

Als „Schleusenwärter“, der Hunderttausenden Flüchtlingen „alle Tore öffnet“ und sie auf die Völkerwanderung nach Europa schickt, hat Mitte September die Frankfurter Allgemeine Zeitung einmal den türkischen Präsidenten Recep Erdogan bezeichnet. Das Drehen am Schleusenöffnungsrad hat sich für Erdogan gelohnt. Das zeigte sich jetzt auf dem jüngsten Brüsseler EU-Gipfel zum Migranten-Thema: Wenn Ankara die Schleusen wieder schließt, kann es auf viel Geld und Visa-Erleichterungen rechnen. Sogar die Verhandlungen über einen türkischen EU-Beitritt könnten wieder in Bewegung kommen.

Ankara fordert drei Milliarden Euro

Die Europäer sind auf den „Schleusenwärter“ Erdogan angewiesen. Der Brüsseler Gipfel begrüßte darum einen mit Ankara schon im Grundsatz ausgehandelten Aktionsplan, der zum Ziel hat, den Migranten-Strom über die Ägäis einzudämmen. Dem Plan zufolge sollen  „die Flüchtlinge, die sich in der Türkei befinden“, auch in der Türkei bleiben, so EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Die Migranten sollen daran gehindert werden, unkontrolliert über türkisches Gebiet nach Europa einzuwandern. Im Gegenzug will die EU Ankara bei der Versorgung von derzeit etwa zwei Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei unterstützen. Ankara fordert dafür bis zu drei Milliarden Euro – Brüssel hat bislang eine Million angeboten.

Es geht nicht darum Geld zu geben, sondern darum, was diese Gelder bewirken.

Franςois Hollande

Entschieden ist über die Summe nicht. Bei Gesprächen von Bundeskanzlerin Angela Merkel diesen Sonntag in Istanbul wird es sicher auch darum gehen. Merkel zitierte in Brüssel türkische Angaben, dass die Versorgung der syrischen Flüchtlinge auf türkischem Boden Ankara in den vergangenen Jahren schon sieben Milliarden Euro gekostete hätten – ein Hinweis darauf, dass Berlin eine Einigung wohl nicht an der türkischen Forderung scheitern lassen will. Die Summe sei noch nicht festgelegt, erklärte nach dem Gipfel Frankreichs Präsident Franςois Hollande: „Es geht auch nicht darum Geld zu geben, sondern darum, was diese Gelder bewirken.“ Hollande fügte hinzu: Es sei billiger, Geld für Flüchtlinge nahe ihrer Heimat auszugeben als bei der Aufnahme in EU-Ländern.

Visa-Erleichterungen und EU-Beitrittverhandlungen

Heikler als das Geld ist die Frage der Visa-Erleichterungen. In einen Fernsehinterview forderte der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger schon ab 2016. Andernfalls, so der Premier, werde Ankara von der EU zurückgewiesene Asylbewerber nicht aufnehmen. Es geht also auch um die Rücknahme von abgewiesenen Migranten. Die Lockerung der Visa-Pflicht für türkische Bürger hänge davon ab, wie wirksam die Flüchtlingsströme gebremst würden, betonte EU-Kommissionspräsident Juncker. „Wenn es Visa-Erleichterungen gibt, dann nur auf einer extrem präzisen und kontrollierten Basis“, warnte Präsident Hollande.

Ein Abkommen mit der Türkei hat nur dann einen Sinn, wenn es in der Praxis den Flüchtlingsstrom wirksam in Grenzen hält.

Donald Tusk

Seit etwa zehn Jahren verhandeln Brüssel und Ankara über einen türkischen EU-Beitritt, der allerdings in immer größere Entfernung rückt. Im Grunde haben beide Seiten längst Abstand vom Beitritt oder jedenfalls von einer türkischen Vollmitgliedschaft genommen. Bislang wurden überhaupt nur 13 von 35 Verhandlungskapiteln geöffnet. Laut Gipfel-Beschluss soll aber jetzt der Beitrittsprozess „wiederbelebt werden mit dem Ziel, bei den Verhandlungen Fortschritte zu erzielen“. Nach großer Begeisterung klingt das nicht, jedenfalls nicht auf der Brüsseler Seite.

Wenn es ohne die Türkei nicht geht, warum nehmt ihr die Türkei dann nicht in die EU auf?

Recep Erdogan

Beschlossen und fertig verhandelt ist der Aktionsplan noch nicht, betonte nach dem Gipfel auch EU-Ratspräsident Donald Tusks: „Ein Abkommen mit der Türkei hat nur dann einen Sinn, wenn es in der Praxis den Flüchtlingsstrom wirksam in Grenzen hält.“ Gut möglich, dass Ankara versucht, den Preis für das Schließen der Schleuse weiter in die Höhe zu treiben. Eine provokativ-triumphierende Äußerung von Präsident Erdogan am Morgen nach der Gipfel-Nacht klang danach: „Wenn es ohne die Türkei nicht geht, warum nehmt ihr die Türkei dann nicht in die EU auf?”

Kein dauerhafter Verteilungsschlüssel

Auf erbitterten Widerstand stießen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Schwedens Regierungschef  Stefan Löfven mit ihrer Forderung, den Schlüssel der jüngst beschlossenen EU-weiten Verteilung von 160.000 Migranten zum Teil eines permanenten, gerechteren Umverteilungsmechanismus zu machen. Die Frage soll beim Gipfel-Dinner heiß diskutiert worden sein.

Aufschlussreich: Von großer Unterstützung anderer Länder für einen permanenten Verteilungsschlüssel ist nirgendwo zu lesen.

Ein dauerhaftes Verteilungssystem müsse Teil jeden langfristigen Plans für die Bewältigung der Migrantenkrise sein, forderte Merkel. Vergeblich. Vor allem die osteuropäischen Länder der sogenannten Visegrad-Gruppe – Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn – lehnen das Ansinnen entschieden ab. Es habe „sehr ehrliche Diskussionen“ gegeben, so Merkel später. Man sei „derzeit unterschiedlicher Meinung“. Aufschlussreich: Von großer Unterstützung anderer Länder für das Anliegen Berlins und Stockholms ist nirgendwo die Rede.

Aufnahmezentren in Griechenland und Italien

Die Staats- und Regierungschefs einigten sich außerdem darauf, für die geplanten Aufnahmezentren – sogenannte Hotspots – in  Italien und Griechenland hunderte Mitarbeiter zur Verfügung zu stellen. Ganz geklärt ist das Hotspot-Vorhaben noch nicht. Es gibt griechische Vorbehalte und offene Fragen: Was soll etwa mit afghanischen Migranten geschehen, die kein Asyl erhalten? Offenbar gibt es kein Rücknahme-Abkommen mit der afghanischen Regierung.

Es ist unsere erste Verpflichtung, Europas Gemeinschaft zu schützen und die öffentliche Ordnung zu garantieren.

Donald Tusk, EU-Ratspräsident

Die osteuropäischen Visegrad-Länder demonstrierten auch beim Hotspots-Thema ihre eigene Position. Noch vor dem Brüsseler Gipfel beschlossen Polen, Tschechien und die Slowakei, 150 Polizisten zur Grenzsicherung nach Ungarn zu entsenden. Die vier Länder wollen damit vorführen, dass sie entschlossen sind, für den Schutz der Schengen-Außengrenzen auch zu handeln. Und darum vor allem gehe es jetzt, betonte nach dem Gipfel auch EU-Ratspräsident Donald Tusk: „Fortschritt bei wirklicher Grenzsicherheit ist heute nacht ein sehr reales Ergebnis. Es ist unsere erste Verpflichtung, Europas Gemeinschaft zu schützen und die öffentliche Ordnung zu garantieren.“