Soldaten des 1. Infanterieregiments „König“ trinken vor dem Weg zum Bahnhof eine letzte Maß Bier. Das 1. Infanterieregiment hatte seine Friedensgarnison in München. Bild: Bay. Armeemuseum
Erster Weltkrieg

Das Echo der Kanonen von 1914 reicht weit

Gastbeitrag Der Große Krieg von 1914 begann in Gestalt eines europäischen Bürgerkriegs. Aber dabei blieb es nicht. Aus dem Krieg des alten Europa wurde ein Weltbürgerkrieg zwischen Demokratie und Kommunismus wurde. An seinem Ende kündigte sich die neue Zweiteilung der Welt schon an, die dann 1944/49 Gestalt annehmen sollte in den Formen und Fronten des Kalten Krieges.

Die Deutschen gelten als Europameister der Erinnerung, und nach 1945 gehörte es zur Staatsräson der Bundesrepublik, sich amtlich, moralisch und politisch der Vergangenheit zu stellen, um Vertrauen in der Welt, speziell deren Westhälfte, zu werben und alles zu tun, den Gespenstern der Vergangenheit den Zutritt zu verweigern. Vergangenheitsbewältigung, als ob es derlei, wie in Geschäftsbilanzen, jemals gäbe, wurde Pflichtfach.

Merkwürdig bleibt, wie wenig bei alledem das Jahr 1914, vom Mord am österreichischen Thronfolger bis zur allgemeinen Mobilmachung Europas gegen Europa, die Geister bewegte, während doch die Auflösung der Weimarer Republik – „Republik ohne Republikaner“ – und noch mehr Verführung und Gewalt der NS-Diktatur alle Aufmerksamkeit auf sich zogen. Vergangenheit und Gegenwart wurden durch das Prisma der „deutschen Katastrophe“ gesehen, auf die alles hinauslief. So hat der altliberale Historiker Friedrich Meinecke nach 1945 den deutschen Weg zur Hölle in einem Buch schmerzhafter Erinnerung benannt.

Aus dem europäischen Bürgerkrieg wurde noch 1917 der Welt-Bürgerkrieg

Das ist nicht falsch, aber es ist auch nicht die ganze Wahrheit. Denn es ist nicht zu übersehen, dass die Epoche von 1914 bis 1945 trotz aller Brüche, Krisen und Katastrophen Einheit und Folgerichtigkeit einer Tragödie enthält: „Der Dreißigjährige Krieg unseres Jahrhunderts“, so nannte General de Gaulle, damals Führer des Freien Frankreich, anno 1944 im Londoner Exil zusammenfassend die Epoche der Weltkriege, die bald schon fast übergangslos in die Fronten des Kalten Krieges überleiten sollte.

Der Große Krieg von 1914 begann in Gestalt eines europäischen Bürgerkriegs. Aber dabei blieb es nicht. Das Zarenreich stürzte aus der militärischen Niederlage in die Revolution, zuerst im Februar 1917 noch bürgerlich-gemäßigt und dann, nach dem Oktoberputsch der Bolschewiken unter Lenin, grausam bis zur Selbstzerstörung. Seitdem ging es, nicht ohne Mithilfe der deutschen Militärs im Großen Hauptquartier, auf’s Ganze: Die radikale Revolution sollte liefern, was der Kampf der Armeen nicht geliefert hatte, den Sieg im Osten – was in der Tat auch geschah. Aber um einen Preis, der das gesamte 20. Jahrhundert erschüttern sollte. Denn aus dem europäischen Bürgerkrieg wurde noch 1917 der Welt-Bürgerkrieg.

„Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ – so forderte Lenin und verhieß Weltfrieden durch Weltrevolution: Dem Versprechen von Land und Frieden aber konnten die zermürbten Armeen des Zaren nicht standhalten, und jeder Versuch der Regierung im Winterpalais, dem inneren Feind und dem äußeren noch militärische Macht entgegenzusetzen, war zum Scheitern verurteilt.

Deutschland war der Punkt, wo das Schicksal des neuen Weltentwurfs sich entscheiden würde

Russland versank in Massenmord und Klassenmord. Doch die Führer des Roten Oktober in Moskau und Petrograd waren gewiss, dass die Weltrevolution, beginnend in Russland und triumphierend in Berlin und überall, ihnen am Ende wiederbringen würde, was auf den Schlachtfeldern verloren war. Was zählten schon erzwungene Verzichte auf die Länder zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, die im Diktatfrieden von Brest-Litowsk verloren gingen, wenn doch abzusehen war, dass die feindlichen Armeen früher oder später ebenso zerfallen würden wie die russische Macht. Lenin setzte, wie die Jakobiner der Französischen Revolution und Marx und Engels während der europäischen Revolutionen von 1848/49, auf die Zerstörungskraft des Krieges, das Ende der bürgerlichen Geschichte und den Neubeginn aus Revolution, Gewalt, Chaos und der Verheißung des Friedens.

„To make the world safe for democracy“ – die Welt sicher zu machen durch die Demokratie – so verkündete US-Präsident Wilson in den „Fourteen Points“ das Gegenprogramm in Form einer feierlichen ­Botschaft an beide Häuser des Kongresses: Weltfrieden durch Demokratie. Vordergründig waren die „Vierzehn Punkte“ dazu bestimmt, dem amerikanischen Landeunternehmen in Europa Ziel und Rechtfertigung zu geben gegen die Mittelmächte. Dahinter aber stand messianische Botschaft gegen messianische Botschaft, mit Deutschland als Mittel- und Drehpunkt.

Der bolschwistische Führer und der amerikanische Präsident – beide spielten ein sehr viel größeres Spiel als die Besiegung der deutschen Armeen. Beide predigten eine neue Weltordnung, allerdings wechselseitig einander ausschließend, und für beide war Deutschland der Punkt, wo das Schicksal des neuen Weltentwurfs sich entscheiden würde. Es ging nicht mehr um den Krieg des alten Europa. Es ging um Weltbürgerkrieg zwischen Demokratie und Kommunismus. Der Sieger würde die Erde erben.

Versailles: Eine europäische Ordnung, die es nicht mehr gab

Zwischen den russischen Zusammenbrüchen des Jahres 1917 und der amerikanischen Intervention auf den Stränden Frankreichs kündigte sich, wie in einer gewaltigen Ouvertüre, die neue Zweiteilung der Welt schon an, die dann 1944/49 Gestalt annehmen sollte in den Formen und Fronten des Kalten Krieges. Die Entente-Mächte, als sie nach der deutschen Kapitulation die europäische Landkarte korrigierten, ignorierten, was im Osten Europas lauerte: Sie warteten auf die Vertreter des Zaren, der doch längst umgebracht war, und hielten den Sessel frei für ein Russland, das es längst nicht mehr gab. Das geschah in der Hoffnung, verlorene Gelder der Kriegsfinanzierung zurückzubekommen wie in der Illusion, das Deutsche Reich in der Umklammerung des Zweifrontenkriegs festzuhalten. London und Paris wollten eine europäische Ordnung rekonstruieren, die verloren war.

Aber auch die neue deutsche Reichsregierung , statt das Gespenst des Kommunismus auf die europäische Bühne zu schicken und dem Westen ein Notwehrbündnis anzubieten, bezog sich noch auf eine europäische Ordnung, die es nicht mehr gab. So kam es, dass der klügste Ökonom seiner Generation, John Maynard Keynes, Berater der britischen Delegation auf der Pariser Friedenskonferenz, über die ökonomischen Folgen des Versailler Vertrags so ernst wie vergeblich sagen konnte, dieser Frieden enthalte schon den Keim des nächsten Krieges.

Die Militärs und Politiker, die 1919 in Paris zusammentraten im Namen der alten Imperien und der neuen Nationalstaatsordnung Europas, begriffen nicht, dass 1917 eine neue Epoche der Weltgeschichte begonnen hatte. US-Präsident Wilson glaubte, Amerika könne Europa vor den alten Dämonen bewahren durch Rekonstruktion der Nationalstaaten. Er setzte auf Völkerbund und Schwächung Deutschlands. Aber eine Antwort auf Russlands Weltrevolution hatte er nicht. Der US-Senat, der für die Ratifizierung der Versailler Dokumente gebraucht wurde – man kann sie schwerlich Frieden nennen – verweigerte die Zustimmung und gab der Versuchung nach, Europa und die Welt sich selbst zu überlassen.

Die Kanonen von 1914 donnern schon lange nicht mehr. Aber ihr Echo reicht so weit, wie es umstritten bleibt.