Labours Verantwortung für den Brexit
Eine Woche vor dem EU-Referendum kippt in Großbritannien die Stimmung gegen die EU-Mitgliedschaft. Weil die Tories mehrheitlich für den EU-Ausstieg stimmen, werden am Abstimmungstag die Labour-Wähler den Ausschlag geben. Aber die Labour-Führung weigert sich, an der Seite von Premierminister David Cameron für die EU-Mitgliedschaft zu kämpfen. Hat Labour-Chef Jeremy Corbyn ganz andere Pläne?
Vor dem EU-Referendum

Labours Verantwortung für den Brexit

Eine Woche vor dem EU-Referendum kippt in Großbritannien die Stimmung gegen die EU-Mitgliedschaft. Weil die Tories mehrheitlich für den EU-Ausstieg stimmen, werden am Abstimmungstag die Labour-Wähler den Ausschlag geben. Aber die Labour-Führung weigert sich, an der Seite von Premierminister David Cameron für die EU-Mitgliedschaft zu kämpfen. Hat Labour-Chef Jeremy Corbyn ganz andere Pläne?

Kippt die Stimmung in Großbritannien? Hin zum Brexit? „EU-Referendum: Umfrage zeigt massiven 10-Prozent-Umschwung zum Brexit“, titelte am vergangenen Freitag die Londoner Tageszeitung The Independent – seit März diesen Jahres nur noch im Internet. Eine Umfrage des Londoner Meinungsforschungsinstituts ORB International unter 2000 Wahlberechtigten hatte 55 Prozent für und 45 Prozent gegen den EU-Ausstieg ergeben − einen Monat zuvor hatten sich noch 49 Prozent für den Verbleib in der EU ausgesprochen.

Auch in den Wettbüros sinken die Chancen für die EU-Befürworter

Die ORB-Umfrage für The Independent zeigt den dramatischsten Umschwung. Aber seit Wochenanfang kommen immer mehr ähnliche Umfrageergebnisse: Eine YouGov-Umfrage für die Tageszeitung The Times zählt 46 Prozent für den Brexit, 39 Prozent dagegen und 11 Prozent Unentschiedene. Eine Woche zuvor hatte das Pro-EU-Lager noch mit einem Prozent Vorsprung geführt. 49 gegen 48 Prozent für den Brexit sah eine weitere ORB-Umfrage für die EU-kritische Tageszeitung The Daily Telegraph. Das Linksblatt The Guardian, verzweifelter Kämpfer für das pro-EU-Lager „Remain“, brachte eine ICM-Umfrage, die das Brexit-Lager mit 52 gegen 48 Prozent vorne liegen sieht. In der täglich erneuerten Zusammenrechnung aller Umfragen in der Financial Times führte am 15. Juni das Brexit-Lager mit 47 gegen 44 Prozent. Der Trend in Richtung EU-Ausstieg erreichte auch die Wettbüros, berichtete die Wochenzeitung The Economist: Die Chancen für das pro-EU-Lager sanken von 80 auf 60 Prozent. Nach dem Attentat auf die Abgeordnete Jo Cox drehte sich der Wind jedoch erneut.

Presse und Tory-Prominenz für den Brexit

Kein Wunder, möchte man sagen. Denn die „Leave”-Kampagne für den Ausstieg aus der EU gewann bis zum Attentat auf die EU-Befürworterin Jo Cox weiter an Schwung. Mit dem zugegebenermaßen originellen Wortspiel „BeLeave in Britain” in großen Lettern auf der ersten Seite − natürlich in den Farben des Union Jack − beschwor das Massenblatt The Sun am vergangenen Montag seine 2,9 Millionen Leser: „Wir empfehlen unsere Leser dringend, an Großbritannien zu glauben und am 23. Juni den EU-Ausstieg zu wählen.“ Das Blatt weiter: „Wir sind dabei, die größte politische Entscheidung unseres Lebens zu fällen. Wir müssen uns von einem diktatorischen Brüssel befreien. Es ist unsere letzte Chance.“

Die EU existiert nur, um ein Superstaat zu werden. Großbritannien hat dort keinen Platz.

Ehemaliger Tory-Finanzminister Nigel Lawson

Ebenfalls am vergangenen Montag warb im Daily Telegraph Norman Lamont, der ehemalige konservative Finanzminister von Ex-Premier John Major, für den EU-Ausstieg: „Großbritannien kann nicht nur die EU verlassen und weiterhin Zugang zum gemeinsamen Markt haben, sondern wir würden sogar einen besseren Deal bekommen.“

Andere große Nicht-EU-Handelspartner, argumentiert etwas gewagt Lamont, würden mit der EU viel bessere Geschäfte machen als das EU-Mitglied Großbritannien und das sogar fast zum Nulltarif. Einen Monat zuvor hatte ebenfalls im Daily Telegraph auch Margaret Thatchers Finanzminister Nigel Lawson nachdrücklich für den Brexit geworben: „Die EU existiert nur, um ein Superstaat zu werden. Großbritannien hat dort keinen Platz.“ Und der Ex-Finanzminister legte nach: „Teil eines politischen Projekts zu sein, dessen Ziel wir emphatisch ablehnen, das kann nicht vernünftig sein.”

Das Thema Einwanderung entscheidet die Abstimmung

Premierminister David Cameron hat es immer schwerer mit seiner „Remain“-Kampagne für den Verbleib in der EU: Seine Partei ist gespalten, wichtige ehemalige Partei-Prominenz bezieht offen gegen ihn Stellung. Blickt man nur auf die Tory-Wähler, hat Cameron schon lange verloren: 62 gegen 38 Prozent für den Brexit, also gegen die EU. Was zu einem paradoxen Ergebnis führt: Wenn Großbritannien in der EU bleiben soll, dann ist der konservative Premier am nächsten Donnerstag auf die Labour-Wähler angewiesen: Nach einer aktuellen ORB-Umfrage unterstützen 56 Prozent jener Wähler, die bei der letzten Parlamentswahl für Labour stimmten, das „Remain“-Lager und den Verbleib in der EU.

Labour Abgeordnete erzählen aus ihren Wahlkreisen schockierende Geschichten über die Anti-Europa-Stimmung, die ihnen dort entgegenschlägt.

Wenn sich nicht auch hier eine Wende in letzter Minute anbahnt. Denn regelrechte Wut auf die EU und gegen so empfundene unkontrollierte Einwanderung habe längst auch die klassische Labour-Wählerschaft erfasst, berichtet völlig entgeistert und entsetzt die linke Londoner Tageszeitung The Guardian. Im Londoner Stadtbezirk Barking and Dagenham etwa, eine alte Labour-Hochburg, stimmten in einer Umfrage 67 Prozent der Befragten für den Brexit. Labour Abgeordnete erzählen auch aus anderen Wahlkreisen schockierende Geschichten über die Anti-Europa-Stimmung, die ihnen dort entgegenschlägt. Labour habe „zwei unversöhnliche Gesichter“, analysiert wieder The Guardian: Auf der einen Seite junge Londoner Uni-Abgänger, die für die EU werben, auf der anderen die alten Labour-Stammwähler, die überall nur noch ein Wut-Thema kennen: Einwanderung. „Werden die je zu Labour zurückkehren?“ fragt sich das Blatt und warnt: „Labours langfristiger Zugriff auf die eigene Wählerbasis könnte in Gefahr geraten.“ Das Blatt sieht das Land schon in nationalistischen Linkspopulismus abdriften und bringt gar den Begriff vom „nationalen Sozialismus“ zu Papier. Soweit ist es noch nicht. Aber für die Abstimmung am 23. Juni droht Gefahr: Nur 52 Prozent der Labour-Anhänger sagen, dass sie überhaupt zur Wahl gehen wollen – gegenüber 69 Prozent der gegen die EU gestimmten Tories.

Von der Labour-Führung ist nicht viel zu sehen

Vor genau 41 Jahren gab es schon einmal eine britische Europa-Abstimmung: Am 5. Juni 1975 ließ Labour-Premier Harold Wilson die erst 1973 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) beigetretenen Briten über den Verbleib in der Gemeinschaft abstimmen. Aus antikapitalistischer Stimmung heraus waren damals die meisten Anhänger der noch tief-sozialistischen Labour-Partei gegen die damalige EWG. Wilson, der das Land unbedingt in der Gemeinschaft halten wollte, brauchte die Unterstützung der Konservativen gegen die eigene Partei – und erhielt sie: Oppositionsführerin Margaret Thatcher machte entschlossen Kampagne für die EWG. Mit Erfolg: Die Wähler folgten Wilson und Thatcher und stimmten mit 67 Prozent für die Mitgliedschaft in der EWG.

Ex-Premierminister Gordon Brown wirbt für eine „Positive britische Reform-Agenda für Europa“ − EU-Begeisterung klingt anders.

41 Jahre später ist alles exakt spiegelverkehrt: Heute braucht David Cameron die Unterstützung von Labour – gegen seine eigene Partei. Sonst verliert er sein Referendum, und Großbritannien verlässt die EU. Aber von Labour ist nicht viel zu sehen. Zwar hat sich der neue Londoner Bürgermeister Sadiq Khan wie auch die Partei selbst klar für „Remain“ ausgesprochen. Eine YouGov-Umfrage hat aber ermittelt, dass nur 55 Prozent der Labour-Wähler diesen Standpunkt kennen. Viel zu spät hat sich eben erst auch Labour-Ex-Premier Gordon Brown mit einer fünf Punkte langen „Positiven britischen Reform-Agenda“ für Großbritanniens EU-Ratspräsidentschaft im nächsten Jahr zu Wort gemeldet. Europa-Begeisterung klingt anders. Browns einstiger enger Berater und Ex-Erziehungsminister Ed Balls fordert effektivere Grenzkontrollen und Maßnahmen gegen Wirtschaftsmigranten aus der EU – was kaum anders klingt als die scharfen Töne aus dem Brexit-Lager.

Jeremy Corbyn − ein Saboteur?

Fast völlig abwesend im Ringen zwischen EU-Befürwortern und Gegnern ist Labour-Chef Jeremy Corbyn. 1975 hat der Alt-Sozialist natürlich gegen Großbritanniens EWG-Mitgliedschaft Kampagne und Stimmung gemacht. Er betrachte die EU als „kapitalistische Verschwörung“ und würde auch heute gegen Brüssel stimmen, „wenn die pro-europäischen Labour-Abgeordneten und Partei-Anhänger es ihm erlauben würden“, glaubt The Economist. Als „sehr alten EU-Gegner“ beschreibt ihn The Guardian. Erst Mitte April, zwei Monate nachdem Cameron das Referendum ausgerufen hatte, meldete sich Corbyn überhaupt zum Thema zu Wort. Im Mai machte er lieber Urlaub, als sich für die EU einzusetzen. Mit dem politischen Gegner zusammen Wahlkampf führen für Großbritanniens Verbleib in der EU will er auch jetzt nicht. Das würde Labour „diskreditieren“, sagte sein Schatten-Kanzler John McDonald. Wenn Corbyn sich jetzt überhaupt äußert, dann sehr verhalten: Seine Pro-EU-Reden seien eher „Litaneien von Klagen über die EU“, so The Economist. Den Wählern rät er, gegen den Brexit zu stimmen – weil die Konservativen keinen guten Ausstieg aushandeln würden. Was fast klingt wie: Wir sind gar nicht gegen den Brexit, aber würden es halt besser machen.

Wenn Großbritannien die EU verließe, könnte es die Konservativen zerreißen. Käme es dann zu vorgezogenen Neuwahlen, könnte Corbyn vielleicht eine Chance haben, eine Labour-Regierung zu bilden.

The Economist

In der Brexit-Kampagne ist Labour sozusagen führungslos. Die Labour-Wähler wenden sich ab. Tory-Chef Cameron kann sie kaum erreichen. Das müsste Corbyn tun, aber der tut es eben nicht. Was dazu führen kann, dass am 23. Juni der Brexit eine Mehrheit erhält. Vielleicht wolle der Labour-Chef genau das und die „Remain”-Kampagne „ganz bewusst sabotieren” , überlegt The Economist in einem klugen Leitartikel unter dem Titel: „Jeremy Corbyn, der Saboteur.“ Gut möglich, dass der Labour-Chef Premierminister Cameron mit seinem Referendum scheitern sehen will und hat schon eigene Pläne hat für das, was nach dem Brexit kommen soll, ahnt das Blatt: „Wenn Großbritannien die EU verließe, könnte es die Konservativen zerreißen. Käme es dann zu vorgezogenen Neuwahlen, könnte Corbyn vielleicht eine Chance haben, eine Labour-Regierung zu bilden.”