Swetlana Alexijewitsch am 8. Oktober in Minsk kurz nach der Bekanntgabe des Urteils der Nobelpreis-Jury. (Foto: imago / ITAR-TASS)
Literaturnobelpreis

Eine politisch-literarische Entscheidung

Swetlana Alexijewitsch heißt die diesjährige Trägerin des Literaturnobelpreises. Die 67-jährige weißrussische Autorin hat sich einen Ruf als namhafte Chronistin des Alltags und Leids der zerfallenden Sowjetunion gemacht. Bereits im Vorfeld der Preisvergabe zählte die gelernte Journalistin zu den Favoriten für die weltweit bedeutendste literarische Auszeichnung.

Swetlana Alexijewitsch bekomme den Literaturnobelpreis „für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“. So begründete die Schwedische Akademie am Donnerstag in Stockholm ihr Jury-Urteil für die Literaturnobelpreis-Vergabe an die 67-jährige Schriftstellerin aus Weißrussland. Es ist das 14. Mal, dass der Preis an eine Frau geht, und zum ersten Mal, dass er einer früheren Journalistin verliehen wird. Die Schriftstellerin gehörte schon vorab zu den heißen Kandidaten für den diesjährigen Literaturnobelpreis, gehörte aber auch schon in den Jahren davor zum engeren Favoritenkreis. Vor fast genau zwei Jahren erhielt sie bereits den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

„Romane in Stimmen“ als Stilform

Alexijewitsch hat sich im Laufe der Zeit einen ganz eigenen literarischen Stil erarbeitet, der mit einer Mischung aus Belletristik und Dokumentation das Leid und die Katastrophen der Menschen in ihrer Heimat schildert. Collagenartig lässt sie dabei die Menschen zu Wort kommen, deren Stimmen sie zuvor akribisch sammelt. Dabei geht sie gleichermaßen einfühlsam wie kritisch mit den menschlichen Schicksalen um. Danach verdichtet sie die Stimmen zu durchkomponierten Monologen, die Monologe dann zu großen Collagen. „Romane in Stimmen“ nennt die Autorin selbst ihren literarischen Stil und ihre Methode.

Erstmals wandte die studierte Journalistin diese Mischform 1983 in ihrem Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ an. Darin dokumentierte sie mit Hilfe von Interviews das Schicksal der vergessenen sowjetischen Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg. Seither legte Alexijewitsch immer wieder den Finger in die Wunde historischer schwarzer Stunden. So auch beim sowjetischen Afghanistan-Feldzug, den sie in „Zinkjungen“ kritisch und unter Zuhilfenahme von Befragungen von 500 Veteranen und Müttern gefallener Soldaten aufarbeitete. Genauso porträtierte sie 1997 die Überlebenden der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Als ihr wohl wichtigstes Werk gilt aber „Secondhand-Zeit“ aus dem Jahr 2013. Es ist eine Sammlung von Stimmen über schlimme Erfahrungen im kommunistischen Experiment in der Sowjetunion.

„Stimme der Vernunft im Chor der Irren“

Der Literaturkritiker Denis Scheck nannte Alexijewitsch vor diesem Hintergrund „eine brillante Dokumentaristin der Blutspur des Totalitarismus und des Krieges“ sowie „eine Stimme der Vernunft im Chor der Irren“. Der Kritiker Volker Weidermann, bekannt durch das „Literarische Quartett“, bezeichnete die Entscheidung der Nobel-Jury daher sogar als „ideale Wahl“: „Alexijewitsch schreibt über die russische Geschichte, aber mit ihrem Blick auf die Vergangenheit erklärt sie uns Russland und die Kriege von heute“, so Weidermann. Ihr deutscher Verleger vom Verlag Hanser in Berlin, Karsten Kredel, teilte anlässlich der Nobelpreis-Bekanntgabe mit: „Ihre Bücher sind eine Chronik des homo sovieticus, für die sie ein eigenes, zwischen Belletristik und Dokumentation liegendes Genre geprägt hat.“

Fakt ist, dass die Autorin mit ihren Werken zum moralischen Gedächtnis der zerfallenden Sowjetunion geworden ist. In dieser Hinsicht ist die Preisvergabe sicherlich auch als politische Stellungnahme zu werten, auch wenn die Jury immer Wert darauf legt, zu betonen, in ihren Entscheidungen nicht von politischen Überlegungen geleitet zu sein. Für die Opposition des autoritär regierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko ist die Preisvergabe jedenfalls eine Ermutigung, wie sie selbst verlauten ließ: Der weißrussische Oppositionspolitiker und  ehemalige Präsidentschaftskandidat Andrej Sannikow begrüßte die Bekanntgabe als „fantastische Nachricht“, wie er auf Twitter schrieb. Und Boris Petrowitsch vom nichtstaatlichen Bündnis weißrussischer Schriftsteller sagte, dass Alexijewitsch den Preis „mit ihrem ganzen Leben“ verdient habe; sie habe sich immer für eine Annäherung zwischen Weißrussland und dem Westen eingesetzt.

In ihrer Heimat weitgehend unbekannt

Alexijewitsch wurde am 31. Mai 1948 im westukrainischen Stanislaw, heute Iwano-Frankowsk, geboren. Nach einem Journalistik-Studium arbeitete sie zunächst bei einer Lokalzeitung sowie als Lehrerin. Da sie im autoritären Regime in Weißrussland kein Gehör fand, lebte sie lange Zeit im Ausland, unter anderem in Deutschland. 2011 zog sie trotz ihrer oppositionellen Haltung zurück nach Minsk. In ihrer Heimat gilt sie trotz ihrer schriftstellerischen Erfolge aber nach wie vor als Dissidentin. Dort werden auch ihre Bücher nicht gedruckt und verlegt. Auch ihre öffentlichen Auftritte sind dort ganz selten. Das könnte sich freilich jetzt vielleicht ein wenig ändern.

„Das ist ganz groß, diesen Preis zu bekommen. Fantastisch“, sagte Alexijewitsch daher hocherfreut gegenüber dem schwedischen Fernsehsender SVT am Telefon kurz nach der Verkündigung ihres Namens als neue Nobelpreisträgerin. Und, so die bescheiden in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Minsk lebende Mutter und Großmutter weiter: Es sei eine Ehre, in einer Reihe mit großen Schriftstellern wie Boris Pasternak zu stehen. Nobel-Jurorin Sara Danius, die ihr die freudige Nachricht per Telefon überbracht hatte, bezeichnete die diesjährige Preisträgerin als „eine außergewöhnliche Schriftstellerin“: „In den vergangenen 30 oder 40 Jahren hat sie sich damit beschäftigt, das Individuum der Post-Sowjet-Zeit zu kartografieren. Aber sie beschreibt keine Geschichte der Ereignisse. Es ist eine Geschichte der Gefühle. Was sie uns bietet, ist eine Welt der Gefühle“, erklärte Danius ihre Entscheidung sowie die ihrer Jury-Kollegen.

(dpa/dia)