Waterloo ist wohl die einzige Schlacht der Weltgeschichte, an die sich die ganze Welt erinnert. Das meint mit einigem Recht der französische Historiker und Essayist Dimitri Casali. 180.000 Besucher aus aller Welt pilgern jedes Jahr zur Gedenkstätte 15 Kilometer südlich von Brüssel, nicht nur französische Napoleon-Romantiker oder andere Europäer, sondern ebenso Chinesen, Japaner, Amerikaner, Australier. Zum 200. Gedenktag der Schlacht wurde sie völlig erneuert und soll nun jedes Jahr 500.000 Besucher anziehen.
Das ist amüsant: Eine Umfrage vor Ort in Waterloo brachte zu Tage, dass 80 Prozent der Besucher tatsächlich glauben, Napoleon habe die Schlacht gewonnen. Von einem britischen Universitätsprofessor weiß Casali, dass sogar die Mehrheit der britischen Schüler Waterloo für den Ort einer britischen Niederlage hält. Auch nach 200 Jahren scheint Napoleons Mythos unbesiegbar.
Waterloo – ein franzosisches Tabu
Waterloo, der 18. Juni 1815, war ein wirklicher Entscheidungstag gemeinsamer europäischer Geschichte. Aber auch nach zwei Jahrhunderten tun sich manche Franzosen – oder jedenfalls das offizielle Frankreich – noch immer schwer damit. Das zeigt die drollige Episode mit der belgischen 2-Euro-Gedenkmünze. Brüssel hatte schon 180.000 Stück von den Münzen mit dem Waterloo-Denkmal geprägt. Das französische Wirtschafts- und Finanzministerium am Pariser Boulevard de Bercy war nicht amüsiert: „Münzen in Umlauf zu bringen mit Symbolen, die ein Teil der europäischen Bevölkerung negativ bewertet, erscheint uns schädlich.“ Frankreichs sozialistischer Präsident Franςois Hollande ließ die Münze blockieren. Die Belgier gaben nach, schmolzen ihre Münzen wieder ein und kamen nun mit Zweieinhalb- und 10-Euro-Gedenkmünzen heraus, für die sie die Zustimmung der Europäischen Zentralbank nicht brauchen.
140.000 Besucher werden zur 200-Jahr-Feier in Waterloo erwartet. Aber Frankreich nimmt kaum teil, jedenfalls nicht offiziell. Beim nachgestellten Schlachtenspektakel mit 5000 Personen 300 Pferden, 100 Kanonen und 2,5 Tonnen Schwarzpulver werden Napoleons Soldaten wohl meist von belgischen oder deutschen Statisten gespielt. Die Organisatoren der Erinnerungsschau hatten auf den Besuch des französischen Präsidenten oder des Premierministers gehofft. Sie werden wohl mit dem französischen Botschafter in Belgien zufrieden sein müssen. Noch bis Mitte Mai bestand keine Klarheit über Frankreichs offizielle Beteiligung. Auf eine Anfrage der Pariser Tageszeitung Le Figaro kam vom Außenministerium die Gegenfrage: „Die 200-Jahrfeier, an welchem Tag soll die denn stattfinden?“ Das sei ein „heikles Dossier“, eine „sensible Angelegenheit“, steckten diplomatische Quellen dem Blatt. „Da ist gar nichts heikel“, widersprach das Außenministerium schließlich: „Geschichte ist Geschichte, man kann sie nicht ändern. Es ist einfach nur so, dass das kein Thema ist … Gedenkfeiern, ehrlich gesagt, gibt es immerzu.“
Der Tag, an dem Frankreichs Traum von der Hegemonie in Europa endet
Von der „französischen Desertation von Waterloo“, spricht jetzt Le Figaro und beschreibt die französische Gemütslage 200 Jahre nach dem entscheidenden Tag: „Ein schlecht verbundenes Ekzem, eine wiederbelebte Verbitterung über diese Einladung an die Welt, jenes Detail einer Agonie zu beschauen: den Sturz des Kaisers, aber noch mehr – das Ende des französischen Eroberungsdrangs.“
Da ist etwas dran. Tatsächlich datiert der 18. Juni 1815 das Ende einer Welt, den Moment, an dem der französische Traum von der europäischen Hegemonie endet, erläutert wieder Historiker und Napoleon-Experte Casali: „Seit König Ludwig XIV. besetzte Frankreich den ersten Rang unter den Mächten der Welt. Und im Schlamm von Waterloo, mitten in einer letzten großen Schlacht, gibt die ‚Grande Nation‘ die Macht ab. Das ist eine bedeutende historische Wende.“ Es steckt darin ein Element der Tragik und der Stoff, aus dem Mythen und Legenden wachsen.
Napoleon und das Erbe der Revolution
Von der „französischen Schizophrenie mit Napoleon zwischen Mythos und Tabu“, schreibt denn auch Le Figaro. Aber der Napoleon-Mythos reicht längst über die Franzosen, die ihm vor 200 Jahren so lange gefolgt sind, hinaus. Auch die einstigen Gegner sind ihm teilweise erlegen. Man kann es vielleicht erklären: Napoleon war der Erbe der Revolution. Als caesarischer Herrscher, getragen vom Volksjubel, hat er die entartete und schwankende 1. Republik erledigt – aber den Kampf gegen Europas ancien régime umso entschlossener fortgesetzt und die neuen, humanitären Werte der Revolution nach ganz Europa getragen. Mit ihm kamen nicht nur Krieg und Unterdrückung, sondern auch eine moderne Form der Regierung. Die Fürsten des alten Europa haben ihn genau dafür gehasst und gefürchtet. Am Schluss haben sie ihn doch besiegt und sind in unpopulärer Restauration zurückgekehrt – recht froh geworden sind die meisten Europäer damit nicht.
Jedes Volk, in Europa, betrachtet Napoleon zugleich als seinen Tyrann und seinen Befreier
Dimitri Casali, Historiker
Nicht nur die Franzosen sind hin und her gerissen, wenn sie heute auf Bonaparte schauen, meint darum Historiker Casali: „Jedes Volk, in Europa, betrachtet Napoleon zugleich als seinen Tyrann und seinen Befreier.“
Waterloo war Triumph und Tragödie zu gleich. Niemand konnte und kann sich ihr entziehen. Selbst der Sieger von Waterloo nicht, der Herzog von Wellington. In seinen späten Jahren soll er regelmäßig ganze Stunden vor einer Büste des Kaisers verbracht haben. Waterloo habe Napoleons Mythos nicht zerstört, sondern geradezu verheiligt, meint wider Casali.
Alexander, Solon und Moses zugleich
Wer war Napoleon? Was bedeutet er heute für Frankreich? Eine Antwort versucht der ehemalige Außen-, Innen- und schließlich Premierminister Dominique de Villepin in seinem Buch über die Rückkehr Napoleons von Elba und die letzte Phase seiner Herrschaft – eben bis Waterloo: „Die Hundert Tage oder der Opfergeist“. Für die Nachwelt, so Villepin, erleuchtet Napoleon den Mythos des Retters: „Er ist Alexander, der mitreißende Eroberer, der Sieg an Sieg reiht und mit dem Schwert in der Hand ein Schicksal schreibt, dass er nur sich selbst und dem Elan der Massen in seinem Bann verdankt. Er ist Solon, der inspirierte Gesetzgeber, der Frankreich weise Gesetze gibt, die zum Geist neuer Zeiten passen und deren Architektur im wesentlichen bis in unsere Tage überdauert hat. Er ist auch Cincinnatus, weil er dem Ruf seines Volkes folgt und aus dem Exil zurückkehrt. Er ist schließlich Moses, Prophet neuer Zeiten, der die Wege in die Zukunft öffnet und das Chaos lichtet.“
Als Verschmelzung eines Mannes mit einer Nation bleibt Napoleon unauflöslich verbunden mit unserem kollektiven Schicksal
Dominique de Villepin, Ex-Premierminister
Napoleon bleibe die große Figur „unserer Geschichte“, fährt Villepin fort, „einer der ganz raren Namen – mit Hannibal, Alexander und Caesar – die Eintritt fanden in das Pantheon der Universal-Geschichte“. Als die „Verschmelzung eines Mannes mit einer Nation“, so der französische Ex-Premier, blieben Napoleon und sein Mythos „unauflöslich verbunden mit unserem kollektiven Schicksal“.
Man liest Villepin und begreift ein wenig von Frankreichs schwierigem Umgang mit Napoleon „zwischen Tabu und Mythos“. Und man muss kein so glühender Napoleon-Verehrer sein wie der Ex-Premier, um zu verstehen: Bonaparte war eben doch mehr als nur Gewalt und Eroberung.
Dimitri Casali: Qui à gagné Waterloo? – Napoléon 2015, Flammarion, Paris 2015, 300 Seiten, 21,00 Euro
Dominique de Villepin: Les Cent-Jours ou l’esprit de sacrifice, Perrin, Paris 2001, 634 Seiten, 25,50 Euro