Karl Holmeier beim CSU-Seniorenstammtisch im Gasthaus am Öden Turm in Chammünster in der Oberpfalz. (Foto: BK/T. Einberger)
Brauchtum

Ein Prosit auf den Stammtisch

Totgesagte tafeln länger: Social Media und Wirtshaussterben zum Trotz ist die Institution Stammtisch lebendiger denn je. Weil hier menschliche Grundbedürfnisse erfüllt werden: nach Essen, Trinken und Gesprächen unter Gleichgesinnten.

Wenn der Holmeier Karl redet, klingt das, als würde bei jedem Schlusspunkt ein Bierkrug auf den Tisch knallen. Fest und satt tönend ist seine Stimme. Und wenn der CSU-Bundestagsabgeordneter aus dem Wahlkreis Cham sagt: „Der bayerische Stammtisch, der stirbt niemals“, möchte man dieses Postulat nicht in Frage stellen.

Oder doch? An diesem Mittwochnachmittag im Gasthof Am Ödenturm im oberpfälzischen Cham sieht der Stammtisch etwas in die Jahre gekommen aus. Die Tische sind eng besetzt mit Vertretern der Senioren-Union – dem „Tafelsilber der CSU“, wie der Kreisverbands-Vorsitzende Günther Loibl scherzt, womit er aber nicht allein die Haarfarbe der Anwesenden meint. Jeden zweiten Mittwoch treffen sich die Senioren hier in der Gaststätte, um über Politik, Gott und die Welt zu reden. Und manchmal auch, um Lokalpolitiker zur Rede zu stellen.

Die Stammtische sind so wichtig, weil sie uns erden.

Gerhard Hopp, CSU-Landtagsabgeordneter

Der Stammtisch, er ist die Nagelprobe für Politiker. Von der „Lufthoheit“ der CSU über eben dieses Möbel hat Edmund Stoiber einst gesprochen, und bis heute will jeder Kommunalpolitiker diesem Anspruch gerecht werden. „Die Stammtische sind so wichtig, weil sie uns erden“, findet Gerhard Hopp, CSU-Landtagsabgeordneter, der heute ebenfalls Gast beim Stammtisch der Senioren-Union ist. Hier gibt’s zum Bier den freien Zugang zum Bürger, zu dessen Wünschen, Sorgen und Erwartungen. Sitzt man an einem Tisch, ist die gefühlte Grenze zwischen „denen da oben“ und „uns da unten“ aufgehoben: Basisdemokratie eben. So war es schon immer, und so soll es, findet Holmeier, bittschön bleiben.

Facebook statt Wirtshaus?

Die Schankwirtschaft als natürliches Feuchtgebiet ist das Biotop, in dem das bayerische Urgewächs Stammtisch am besten gedeiht. Doch braucht’s den überhaupt noch? In Zeiten, in denen niemand noch Zeit hat, dafür aber 572 Freunde auf Facebook? Alles Wichtige wird über Twitter und WhatsApp mitgeteilt, und das Bier schmeckt daheim auch gut. Zudem hat der Stammtisch ein Image-Problem als Hort der Generation Spießbürgerlichkeit und Entstehungsort der sogenannten Stammtischparolen.

Einspruch, sagt CSU-Mann Gerhard Hopp: „Der Stammtisch ist viel besser als sein Ruf.“ Während gerade im Internet Randgruppenmeinungen schnell hochkochen und irgendwann wie Volkes Stimme wirken, bringen sich beim Stammtisch die Mitglieder meist wieder gegenseitig auf den Boden der Tatsache. „Jetzt hörst aber auf!“, heißt es dann direkt. Die Meinungsvielfalt rund um den Tisch ist der natürliche Gegner des Extremen.

Der 36jährige Hopp ist Mitglied diverser Stammtische. Gerade weil Social Media eine scheinbar unendliche Vernetzbarkeit suggerieren, hält er reale Kontakte für umso wichtiger. Sich an einen Tisch zu hocken, miteinander zu essen, zu trinken und zu reden: So etwas kommt nicht aus der Mode. So wie Hopp gehören 43 Prozent der Bayern zu mindestens einer Stammtischrunde, hat die Hanns Seidel-Stiftung 2010 eruiert. Während das bei den 16- bis 34-Jährigen auf nur gut jeden Dritten zutrifft, sitzt bei den Älteren bereits fast jeder zweite an mindestens einem Stammtisch. In Oberbayern hat die Tradition mehr Fans als in Franken, und bei CSU- und SPD-Anhängern ist der Stammtisch beliebter als bei den Anhängern anderer Parteien oder denen ohne Parteipräferenz.

Traditionstreffs im Hofbräuhaus

Wer sich dennoch sorgt um die Zukunft des Stammtisches, muss ins Münchner Hofbräuhaus gehen. Ausgerechnet dort, wo die Fremdenführer Gruppe um Gruppe übers Holperpflaster schleusen und japanische Touristen mit ihrer Schweinshaxe kämpfen, gedeiht die bayerische Stammtisch-Tradition unverdrossen. „Königlich-baierischer Stammtisch“, „De Zwiedan“ und die „Wuide Rundn“ nennen sie sich, es tagen dort der „Verein gegen betrügerisches Einschenken“ ebenso wie „Die Lügenbarone“. Die Handwerker und die Postler, die Stadelheimer Wärter und Lufthansa-Piloten, die Vermesser, Wetterkundigen und selbst die U-Bootführer, Sektion München, haben im Hofbräuhaus ihre festen Treffen.

Gut 150 feste Stammtische gibt es aktuell im Hofbräuhaus, erzählt Herbert Ebner, und es könnten noch mehr sein, wenn nicht er, Ebner, als „Stammtischbetreuer“ jeglichen Wildwuchs verhindern würde. Bei Ebner melden sich alle, die vom Stammgast zum Stammtisch promoviert werden wollen, und das ist keine Kleinigkeit: „Man muss schon nachweisen, dass man es ernst meint.“

Stammgast seit 59 Jahren

Der Spangler Hans sitzt schon seit 59 Jahren am Mittwochmittag am Tisch kurz vor den Musikanten. Als 18-Jähriger wurde er von der Urbesetzung der damals noch jungen Aloisius-Runde an den Tisch gebeten, eine Ehre. Er ist geblieben, so wie auch Stammtisch-Namensvetter Alois Hingerl: Ludwig Thomas Dienstmann Nummer 172, der lieber im Hofbräuhaus versackte als der bayerischen Regierung die göttlichen Ratschläge zu überbringen. Am Aloisius-Stammtisch ist vielleicht auch deshalb Politik kein Thema. Lieber redet man über alles andere und frotzelt einander ununterbrochen, „an Spaß musst hier scho verstehen“, sagt der Schorsch und gibt eine Runde Schnupftabak aus.

Der Senior am Aloisius ist der Ismaninger Hans mit 86 Jahren. Junior ist der Alois mit ergrautem Pferdeschwanz, 62 Jahre jung. Doch auch wenn hier die Alterspyramide am Aloisius unten schon arg spitz zuläuft, heißt das noch lange nicht, dass jetzt jeder Platz nehmen darf. Bairisch muss er sprechen, sagt der Schorsch. Und Benimm muss er haben, auch wenn nicht so recht klar ist, was das beinhaltet: „Dass er halt dazu passt“. Die Gruppenzusammensetzung ist das Geheimnis der langlebigen Stammtische. Will ein Tourist heranrücken, wird ihm das Prinzip Stammtisch vom Schorsch so erklärt: „My Tisch“.

Per Zug zur „Mittwochsrundn“

Fragt man bei Franz Frank ein paar Tische weiter nach, was am Stammtisch so gefällt, antwortet er mit einem Wort: „Ois.“ Aus der Holledau reist er mit dem Zug an, um bei der „Gmiatlich’n Mittwochsrundn“ im Hofbräuhaus dabei zu sein.

„Durst ist schlimmer als Heimweh“ steht geschrieben auf dem Bogen, unter dem die Musikanten in der „Schwemme“ vom Hofbräuhaus aufspielen. Wohl dem, der am Stammtisch beide Bedürfnisse stillen kann.