Kammerspiele nah am Wasser: In der Inszenierung "Point of No Return" beweist Schauspielerin Wiebke Puls, dass sie aus dem Stand weinen kann. Ein Kollege filmt mit dem Handy. (Foto: David Baltzer)
Theater

Schauspieler, die ums Überleben kämpfen

Bekannte Darsteller kündigen, die zentrale Inszenierung der Saison scheitert. Mit experimentellem Theater spielt der umstrittene Intendant Matthias Lilienthal die Münchner Kammerspiele leer. Eilig beruft er eine Podiumsdiskussion ein: "Welches Theater braucht München?" Dabei prallen die unterschiedlichen Ansprüche von Publikum und Ensemble aufeinander.

Die Münchner Kammerspiele treiben in den Untergang, und die Zuschauer spielen sogar mit. Die Dame in Reihe 8, rote Lockenmähne unter einem kunsthandwerklich gestalteten Kopftuch, gibt einen hysterischen Anfall. „Wo ist mein Theater?“, schreit sie mit überschlagender Stimme. „Ich habe eine enttäuschte Liebe. Gebt mir mein Theater zurück!“ Und erstickt in einem Kreischkrampf. Pikiertes Schweigen im Publikum, ein paar klatschen aufmunternd in Richtung der Zerrütteten.

Brigitte Hobmeier will nicht mehr mitspielen

Die dramatische Szene spielt sich am Sonntag bei der Podiumsdiskussion „Welches Theater braucht München?“ im früheren Werkraum des Hauses ab, heute „Kammer 2“ genannt. Der höchst umstrittene Intendant Matthias Lilienthal hatte die Veranstaltung einberufen, weil sich die Probleme um ihn türmen – und obendrein der öffentliche Streit eskaliert, seit die Süddeutsche Zeitung ganzseitig über eine Krise seines Theaters berichtet hat. Drei herausragende Schauspielerinnen, darunter Publikumsliebling Brigitte Hobmeier, haben gekündigt. Gegen das experimentelle Programm Lilienthals habe sie eigentlich nichts, erklärt die Münchnerin Hobmeier: „Ich hätte nur gerne mitgemacht.“ Zuletzt habe sie sich „wie auf dem Abstellgleis“ gefühlt.

Premiere gescheitert

Eine gefeierte Charakterdarstellerin, die auf der Bühne keinen Platz mehr findet, die fast drei Jahrzehnte lang Dieter Dorn geprägt hat, Exponent eines gediegenen, magisch realistischen Schauspielertheaters? Am wichtigsten städtischen Theater, das die Landeshauptstadt jährlich mit mehr als 32 Millionen Euro bezuschusst. Obendrein ist noch die wichtigste Premiere der Saison kläglich gescheitert, die dramatische Adaption von Michel Houellebecqs Thesenroman „Unterwerfung“. Der offenbar überforderte junge Regisseur Julien Gosselin war einfach während der Proben abgereist. Die geplante Premiere am Wochenende wurde durch die Performance „Point of No Return“ ersetzt. Passenderweise, denn auf der teils hysterisch geführten Podiumsdiskussion tags darauf ist viel vom „Bruch“ die Rede: vom Verdrängungskampf der experimentell-performativen Eventtheaterformen, wie Lilienthal sie pflegt, gegen das klassische Schauspiel.

Die Kammerspiele sind auf einem harten, struppigen, aber auf einem guten Weg.

Matthias Lilienthal, Kammerspiel-Intendant

Der Unterschied zwischen diesen Gegensätzen besteht darin, dass sich Schauspieler in den Text und ihre Figuren psychologisch einfühlen, um Intensität durch möglichst glaubhafte Darstellung zu erreichen. Während die Performer eher als Selbst-Darsteller auf der Bühne stehen, die das Spielen nur spielen und auf der Suche nach größerer Authentizität persönliche Befindlichkeiten kundtun, ihre Tätigkeit als Rollen-Darsteller reflektieren, kommentieren, persiflieren. Selbstverständlich trudeln die Kammerspiele nicht in den Untergang. Aber um sie tobt ein ästhetischer Clash der Kulturen, der Befürworter und Gegner von Lilienthals neuer Ausrichtung unerwartet stark mobilisiert.

Auslastung: nur 60 Prozent

Über so viel Andrang wie bei der Podiumsdiskussion könnte sich der Intendant an regulären Spieltagen mehr als freuen. Die „Kammer 2“ war rappelvoll, per Videoleinwand muss ins Theaterrestaurant „Blaues Haus“ für Interessierte übertragen werden, die keine Karte mehr bekommen haben. Lilienthal kann eine Veranstaltung mit 150-prozentiger Auslastung verbuchen, was ihm die Bilanz für die bisherige Spielzeit 2016/17 erheblich auffrischt. Denn durchschnittlich spielt sein Ensemble vor nur mit 60 Prozent ausgelasteten Zuschauerreihen, also praktisch regelmäßig vor fast halb leerem Haus.

Der Verlauf der von Lilienthal einberufenen Diskussionsveranstaltung nutzt vor allem einem: Lilienthal selbst. Für die Streitkultur auf öffentlichem Forum jedoch gibt der Abend ein Elendszeugnis ab. Die SZ-Autorin Christine Dössel, deren Zeitungsbericht die ganze Aufregung entfesselt hatte, verheddert sich gleich zu Beginn in einer Verteidigungsrede, sie betreibe keine Kampagne gegen die Kammerspiele. Dabei hat das zu diesem Zeitpunkt noch gar niemand im Saal behauptet. Höhnisches Gelächter auf den Rängen, wo sich Teile der Kammerspiel-Mannschaft versammelt haben. Stellvertretend schimpft Ensemblemitglied Annette Paulmann auf dem Podium über eine „Medienkampagne“ gegen ihr Haus. Die Journalistin wirkt schlecht fokussiert. Ihre Kritik an Lilienthals Ausrichtung bringt sie kaum auf den Punkt. Sie wirft ihm „fehlende Sorgfalt bei der Betreuung der freien Ensembles“ vor, er kaufe „schnell was ein, aber dann hapert es an der inhaltlichen Auseinandersetzung“. Lilienthal vernachlässige das Schauspielertheater, achte nicht auf Qualität, die dem „goldenen Rahmen der Kammerspiele“ angemessen sei.

Der goldene Jugendstilrahmen der Kammerspiele fordert etwas ein. Dem halten viele Produktionen nicht stand.

Christine Dössel, Theaterkritikerin

Lieber Migranten auf der Bühne?

Derjenige, über den eigentlich ein Tribunal denkbar gewesen wäre, thront derweil am Rande des Geschehens. Theaterdirektor Lilienthal hört ruhig zu, versucht die Sinnhaftigkeit seiner Bühnenexperimente zu erklären, verteidigt sich gut – und kann sich als ausgewogener Sachwalter seines Theaters profilieren. Die Kündigung von Hobmeier & Co. bedauert er als „schmerzlich“. Dass aber ein professioneller Bühnenmann nicht in der Lage oder nicht willens sein soll, beides zu programmieren – experimentelles und traditionelles Theater – von solchen Fragen bleibt er im Getümmel verschont. Warum er einmal im Monat im „Welcome Cafe“ mit Flüchtlingen auf der Bühne kocht und regelmäßig Migranten in die Inszenierungen holt? Das sei ihm „extrem wichtig“, bekennt Lilienthal. „Es geht nicht darum, dass ich sage: Ich habe auch nichts gegen Flüchtlinge. Sondern darum, die teuersten Quadratmeter der Stadt regelmäßig 200 Migranten zur Verfügung zu stellen.“

Es geht darum, die teuersten Quadratmeter der Stadt regelmäßig 200 Migranten zur Verfügung zu stellen.

Matthias Lilienthal

Änderung seines Programms stellt der Intendant nicht in Aussicht, auch wenn er einräumt, es seien „auch viele Sachen misslungen“. In Summe erklärt er: „Es gibt hier keinen Bruch, sondern die Fortsetzung der Arbeit von Frank Baumbauer und Johan Simons.“ Auf seine beiden Vorgänger kann er sich zurecht berufen. Beide haben sich modernen Bühnenformen zugewandt. Dafür ernteten auch sie bei Teilen des Stammpublikums heftige Ablehnung. Aber sie fanden ein neues, jüngeres. Und sie hielten noch die Balance mit dem traditionellen Schauspielertheater. Dem fühlt sich Nachfolger Lilienthal nicht mehr verpflichtet. Wenn seine Truppe Klassiker wie Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ spielt, dann übernehmen sechs Darsteller die zwanzig Rollen. Mal spricht einer mehrere Figuren, mal wechseln sich mehrere mit einer ab. Psychologische Einfühlung, wie sie viele im Publikum zurückersehnen, fällt aus.

Der Verantwortliche bleibt ungeschoren

All das darf Lilienthal selbstverständlich, schlicht weil er es qua Amt aufs Programm setzen kann. Die Münchner Stadtspitze hat ihn als früheren Vertreter der Berliner Volksbühne und der Berliner Experimentalbude „Hebbel am Ufer“ (HAU) angeheuert. Wer nun Verantwortliche sucht für die unliebsame Entwicklung in den Kammern 1 bis 3, müsste den Kulturreferenten Hans-Georg Küppers (aufgestellt von der SPD) heranziehen. Doch der ist bei der Podiumsdebatte nicht in Sicht.

Es wird sich in diesem Haus um Kopf und Kragen performt.

Eine Zuschauerin

Das Kammerspiel-Publikum kommt an diesem Abend schändlich wenig zu Wort. Dabei wären die Zuschauer bei der Fragestellung, welches Theater München braucht, die eigentlich zu Befragenden. Nur für ein paar Wortmeldungen lässt Moderator Michael Krüger das Mikrofon durch die Reihen gehen. Langjährige Abonnenten äußern Kritik, die rothaarige Enttäuschte lässt ihren hysterischen Aufschrei erschallen. Eine Modedesignerin bemängelt: „Es wird sich in diesem Haus um Kopf und Kragen performt. Ich fühle mich da überfordert.“ Eine Theatertherapeutin ergänzt: „Ich liebe die Sprache, die großen Bühnenbilder. Die fehlen mir. Vielleicht geht es nicht um ein Entweder-oder, sondern um das Sowohl-als-auch.“ Lilienthal nickt mitfühlend. Dann übernimmt das Personal auf dem Podium wieder das Mikrofon und klärt die Frage nach dem richtigen Theater für dieses Publikum unter sich.

Zugticket statt Theaterkarte kaufen

Eine bittere Erkenntnis für manchen: Wer sich das Theater des Kammerspiel-Altmeisters Dieter Dorn herbeisehnt, der sollte nicht mehr die Kammerspiele besuchen. Er muss München verlassen und für einen Abend nach Wien reisen. Vier Stunden im Schnellzug reichen. Im Burgtheater läuft derzeit Dorns erste Theaterinszenierung seit langem: Beckets „Endspiel“. In den Hauptrollen: die Burg-Stars Nicolas Ofczarek und Michael Maertens. Der Besetzungszettel liest sich wie zu Dorns gerühmten Münchner Zeiten. Bühnenbild: Jürgen Rose. Dramaturgie: Hans-Joachim Ruckhäberle. Alte Gefährten des Regisseurs. Aufführungstermine: 5., 9. und 31. Dezember.

Im Schauspielhaus an der Maximilianstraße verpasst der Reisende an diesen Abenden nicht viel. In „Kammer 1“ läuft Elfriede Jelineks Terror-Textfläche „Wut“ oder die Performance „Point of No Return“. In letzterem Stück führt eine Fünfergruppe um die Schauspiel-Riesin Wiebke Puls persönliche Gedanken zum Amoklauf im Olympiaeinkaufzentrum vor, imaginiert den Lynchmord an einem vermeintlichen Attentäter, der sich – natürlich – als zu Unrecht verdächtigter eritreischer Flüchtling entpuppt. Es werden Protokolle aus Folterkellern in Asmara verlesen und allerlei zusammengegoogelte „Fakten“ über Tollwut- und Verkehrstote.

Ich habe keinen Bock, Dokumente und Papiere zu verteilen. Ich bin hier am Theater.

Wiebke Puls, Schauspielerin (in „Point of No Return“)

Nebenbei streiten die Bühnenpersonen um die Unterschiede zwischen „Performing“ und „Acting“, also zwischen Darstellen und Schauspielen. Die Puls, 2005 als Schauspielerin des Jahres ausgezeichnet, schimpft während der Aufführung offen über die Textvorlage. Soviel Authentizität ist drin: „Ich habe keinen Bock, Dokumente und Papiere zu verteilen. Ich bin hier am Theater.“ Sie will spielen. Um das zu belegen, führt sie mit einer tragischen Zirkusnummer vor, dass sie aus dem Stand echt weinen kann. Sie spannt die Muskeln an, konzentriert sich – und tatsächlich rinnen binnen Minuten die Tränen. Am Samstag beginnen einige im Publikum zu lachen, wie über einen krassen Stunt. Der wahre Punkt ohne Wiederkehr. In diesem Moment fühlt es sich an, als kämpfte eine echte, große Schauspielerin an den Münchner Kammerspielen ums blanke Überleben.