Für Norbert Göttler, den Bezirksheimatpfleger von Oberbayern, bedeutet Heimat Integration. Bild: Norbert Göttler/ fkn
Heimat und Brauchtum

Heimat in einer globalisierten Welt

Was bedeutet der Begriff Heimat heute? Ist er Rückzug aus der globalisierten Welt? Schützen uns Tracht und Volkslied vor einer drohenden Überfremdung? Bayernkurier-Redakteur Peter Orzechowski traf sich mit einem, der auf diese Fragen Antworten weiß: Norbert Göttler, seit 2011 Bezirksheimatpfleger für Oberbayern.

„Heimat ist heute nicht mehr abgrenzbar“, sagt Göttler. „Zuwanderer beanspruchen ebenso Heimat wie wir, und schon haben wir eine Gleichzeitigkeit verschiedener Kulturen.“ In Göttlers eigener Heimat, dem Dachauer Land, in dem seine Vorfahren seit über 500 Jahren zuhause sind, sei das exemplarisch zu beobachten. Von den 50000 Menschen, die heute dort leben, sind höchstens 8000 Alteingesessene. Viele der Zugewanderten haben sich aber genau dort eine neue Heimat geschaffen. „Heimat ist nicht unbedingt der Ort, an dem ich geboren wurde, sondern vielleicht der Ort, an dem ich mich zuhause fühle“, vermutet der promovierte Historiker.

Trachten, Musik, Bräuche und Denkmäler

Überall in der Welt gebe es „Heimaten“, in der Ferne und in der Nähe. „Überall gibt es Menschen, die sich Heimaten verbunden fühlen, überall gibt es aber auch Diktaturen, Vertreibungen, Zwangsumsiedelungen, Gleichschaltung, Verelendung, Folter, Todesstrafe. Wir können nicht so tun, als ob das alles die konkrete Heimatpflege in Bayern nichts anginge.“ Es sei schwer nachzuvollziehen, mit welch liebevoller Detailgenauigkeit sich die Heimatpflege um Trachten und Musikkultur, um Bräuche und Denkmäler kümmere – „übrigens sehr häufig geleitet von ehemaligen Heimatvertriebenen, die sich inzwischen als ganze Bayern fühlen und die Motoren der Brauchtumsvereine sind“ – , während gleichzeitig wirklich lebens- und kulturverändernde Umwälzungen mit zunehmender Wucht auf Dörfer und Städte heranrollen.

„Heimat kann heute kein eng umgrenzter Begriff mehr sein. In der globalisierten Welt wird unsere Heimat mehr und mehr auch die Heimat des Anderen, die es gemeinsam zu gestalten gilt. Heimatpflege darf sich nicht mehr im Bewahren der Vergangenheit erschöpfen, erst recht nicht sich auf Einzelaktionen und Liebhabereien beschränken. Sie muss vielmehr vergangene wie auch gegenwärtige und zukünftige Lebensprozesse reflektieren, Zukunftsvorsorge treffen und gemäß ihrem Auftrag „vorhandenen Werten neue hinzufügen“: das Fremde integrieren und als Bereicherung verstehen.

Damit ist Norbert Göttler bei seinem Anliegen, bei dem, was ihm auf dem Herzen brennt: die größer gewordene Heimat unter humanitären Gesichtspunkten zu bewahren.

Im Geiste der Volkstumspflege

Er selbst, von Beruf Schriftsteller und Fernsehregisseur, kommt aus einer Heimat, die von den schweren Verwerfungen und Brüchen der Vergangenheit geprägt ist: Er ist 1959 in der kleinen Gemeinde Prittlbach in unmittelbarer Nähe zum ehemaligen KZ Dachau geboren und dort aufgewachsen. Auch über dem Begriff „Heimatpflege“ selbst lag nach den Schrecken der NS-Herrschaft ein dunkler Schatten.

Der Ursprung der Heimatpflege liegt in der im 19. Jahrhundert entstandenen Volkstumspflege: Die Lebensumstände der Landbevölkerung wurden damals romantisch verklärt und idealisiert – sozusagen als Gegenbewegung zu fortschreitender Industrialisierung und damit einhergehender Entfremdung. Durch die Völkische Bewegung und die Nationalsozialistische Ideologie wurden diese Ideen missbraucht und zur Legitimation von Rassismus benützt.

Die Vertreter der Heimatpflege haben sich in den letzten hundert Jahren große Verdienste um den Erhalt von Kulturgütern erworben. Unsere Welt wäre deutlich ärmer ohne ihr Bemühen um Denkmäler, Ortsbilder und Landschaften, um Bräuche, Musikkultur, Trachten, Mundarten und Regionalliteraturen.

„Heute müssen wir aber weitergehen“, mahnt Göttler. „Heimatpflege hat jetzt den Auftrag, integrierend zu sein, also den Neuankömmlingen Heimat zu vermitteln.“ Am besten gelinge diese Aufgabe durch Bildungsarbeit, Geschichtswerkstätten, Ausstellungen und die Vernetzung mit Kulturschaffenden. „Man nimmt nur wahr, was mein weiß.“ Übertriebene Integration hält er allerdings für ebenso verkehrt wie keine. „Wir müssen beide Heimaten zusammenführen – diejenige, aus der die Menschen geflohen oder ausgewandert sind, und ihre neue bayerische Heimat. Wir müssen erreichen, dass sie sich für diese ihre zweite Heimat verantwortlich fühlen.“

Heimatpflege hat jetzt den Auftrag, integrierend zu sein, also den Neuankömmlingen Heimat zu vermitteln.

Norbert Göttler

Auch die wirklich lebens- und kulturverändernden Umwälzungen müssten dabei angesprochen werden: Was bedeutet es etwa, wenn in den Ballungsräumen der Metropolregionen Zersiedelung, Landverbrauch und Grundstücksspekulationen nie gekannte Ausmaße erreichen, während anderswo Landflucht und Strukturschwäche ganze Dörfer veröden lassen? Wie ist es möglich, dass auch in Deutschland Rassismus und Antisemitismus wieder Hass und Zerstörung in die Dörfer und Städte tragen? Göttler: „Sollen das etwa keine Fragen der Heimatpflege sein? Heimatpflege ist Zukunftsvorsorge und damit gemeinsame Aufgabe aller Bürger.“

In seinem neuen Buch „Dachauer Elegien – Heimat in einer globalisierten Welt“ (erschienen im Volk Verlag) hat Göttler, Mitglied des PEN-Clubs und der Münchner Turmschreiber, diese Fragen literarisch aufgearbeitet.