Immer wieder werden Schleuser gefasst, die viel zu viele Migranten in ihre Fahrzeuge laden. Foto: Bundespolizei
EU-Flüchtlingsgipfel

In größeren Dimensionen denken – Fluchtursachen bekämpfen

Gastbeitrag Vor dem EU-Gipfel: Neben diplomatischen Initiativen für Syrien, die auch die USA, Russland und Iran mit einbinden müssen und militärische Optionen nicht ausschließen, müsste auch die Flüchtlingshilfe für Jordanien, Libanon und Türkei erhöht werden, Schleppernetzwerke stärker bekämpft sowie Schritte gegen Klimawandel und Armut eingeleitet werden. Ein Plädoyer für mehr Einsatz der EU.

Die Flüchtlingskrise ist zum Lackmustest der Europäischen Union geworden. Wenn am heutigen Mittwoch Europas Staats- und Regierungschefs in Brüssel zum Flüchtlingsgipfel zusammenkommen, wird das Treffen entscheidend für das Schicksal Europas sein, so der dramatische Appel von Frankreichs Präsident Hollande. Noch dramatischer ist jedoch, dass Europa wie in der Griechenlandrettung in seinem Krisenmanagement wieder um sich selbst kreist.

Syrien, Irak, Afghanistan, Eritrea, Libyen, die Liste der in Krieg oder Chaos versinkenden Staaten ist lang. Dort zu leben bedeutet entweder zu sterben oder zu fliehen.

Erneut werden Lösungsansätze debattiert, die über eine Symptombekämpfung nicht hinausgehen. In der Flüchtlingsfrage wird man nicht mehr zum Instrument der Insolvenzverschleppung greifen können. Europa muss vorausschauender und in größeren Dimensionen denken. Syrien, Irak, Afghanistan, Eritrea, Libyen, die Liste der in Krieg oder Chaos versinkenden Staaten ist lang. Dort zu leben bedeutet entweder zu sterben oder zu fliehen. Angesichts wachsender Flüchtlingszahlen insbesondere aus Syrien werden neue Verteilungsschlüssel, sichere Drittstaaten und Reformen in der Asylpolitik nur Makulatur bleiben, wenn nicht die Fluchtursachen weit vor den EU-Außengrenzen bekämpft werden.

Folgende fünf Elemente müssen Teil einer Strategie zur Ursachenbekämpfung von Flucht und Vertreibung sein:

Erstens: Die Kriege vor unserer Haustür müssen beendet werden.

Während es durch das Verhandlungsgeschick des UN-Sondergesandten Bernadino Leon erste Hoffnungsschimmer zur Beendigung des Bürgerkrieges in Libyen gibt, braucht es jetzt ebenso eine diplomatische Großoffensive, um das wahllose Morden in Syrien zu beenden. Durch die Einigung im iranischen Atomstreit haben sich neue Wege für Konfliktlösungen im Nahen Osten eröffnet. Sie können den Boden für eine große Nahost-Friedenskonferenz bereiten, an der alle Regionalmächte mit EU, Russland und USA an einem Tisch sitzen und miteinander an einer Lösung an jenem Konflikt arbeiten, der zu lange vom Westen ignoriert wurde.

Zweitens: Eine Syrienstrategie

Weder sollte in dieser neuen diplomatischen Initiative ein Militäreinsatz ausgeschlossen, noch die Entwicklung einer Syrienstrategie für danach vergessen werden. Hierfür müssen sich vor allem die regionalen Nachbarn Syriens militärisch engagieren, um den Krieg in Syrien zu beenden. Vielleicht kann sich die von der Arabischen Liga beschlossene Eingreiftruppe hier erstmals bewähren? Sie erweckt schließlich keinen Verdacht, einen westlichen Kreuzzug auf arabischen Boden durchzuführen. Jedoch kann sich der Westen zum Beispiel bei der Durchsetzung einer Flugverbotszone gegen Assads Luftwaffe beteiligen, die Ausbildung und Ausrüstung von Kräften, die gegen den IS kämpfen erhöhen und die Einrichtung von Schutzzonen unterstützen. Wir brauchen Schutzzonen, um die Menschen in Syrien vor Assads Truppen und den Schergen des IS zu schützen ‎und sie humanitär zu versorgen. Gibt es keinen Schutz, werden weitere Millionen Menschen zur Flucht gezwungen sein.

Drittens: Bekämpfung der Schleuser

Wir brauchen eine robuste Strategie zur Bekämpfung von Schleppernetzwerken, die deutlich über eine jetzt beschlossene Militäroperation hinausgehen muss. Die Aktivitäten der Schlepper sind mit an der Eskalation der Flüchtlingskrise schuld. Sie nutzen mit bewusster Desinformation und falschen Versprechen die Verzweiflung der flüchtenden Menschen skrupellos aus.

Parallel dazu bedarf es einer Stärkung von lokalen Strukturen, damit sich die lokale Bevölkerung und kommunale Einrichtungen mit geförderten Projekten aktiv gegen Schlepperbanden und deren Strukturen zur Wehr setzen.

Schlepperei und Menschenhandel gehören mit zur perversesten Form der transnationalen organisierten Kriminalität, die jeden Tag Millionen von Euro umsetzt. Diese kriminellen Strukturen müssen nach dem Vorbild bereits vorhandener Instrumente im Anti-Terrorkampf geächtet, deren Drahtzieher bekämpft und Finanzströme unterbrochen werden. Parallel dazu bedarf es einer Stärkung von lokalen Strukturen, damit sich die lokale Bevölkerung und kommunale Einrichtungen mit geförderten Projekten aktiv gegen Schlepperbanden und deren Strukturen zur Wehr setzen. Auch sollten die von Migration betroffenen Staaten durch eine europäische Polizeimission unterstützt werden, um die Schleppernetzwerke zu ermitteln und zu zerschlagen. Auf europäische Ebene muss zudem eine rechtliche Harmonisierung zur Bekämpfung von Schlepperei und Menschenhandel umgesetzt werden.

Viertens: Flüchtlingslager vor Ort unterstützen

Weltweit sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Es muss deutlich mehr getan werden, um das Los von Kriegsflüchtlingen und Vertriebenen in ihren Heimatregion erträglicher zu machen. In Jordanien, im Libanon und der Türkei befinden sich zusammengerechnet über vier Millionen syrische Flüchtlinge. Und es gibt weitere Krisen- und Konfliktherde, die man nicht aus dem Blick verlieren darf: Die weltweit größten Flüchtlingslager stehen in Ostafrika und beherbergen weit mehr Flüchtlinge als im Nahen Osten. Für alle gilt: Selbst an Orten, an denen nicht gekämpft wird, werden sich bald noch mehr Menschen auf den gefährlichen Weg nach Europa machen, wenn es dort dauerhaft keinen Strom, kein sauberes Wasser, kein Zugang zu Bildung und keine Einkommensquellen gibt. Die Unterstützung der vor Ort operierenden Programme wie vom UN-Flüchtlingswerk (UNHCR), der Internationalen Organisation für Migration (IOM), dem Welternährungsprogramm (WFP) und vieler Nichtregierungsorganisationen muss drastisch erhöht werden. Die Bankenrettung war gestern. Jetzt geht es um existenzielle Fragen der globalen Sicherheit und Stabilität, für die ein hoher Mitteleinsatz erforderlich ist. Und was spricht angesichts des bevorstehen Winters dagegen, auch hier über den Einsatz einer humanitären zivil-militärischen Militärmission nachzudenken, um an den Fluchtorten zu helfen, wo es am dringendsten nötig ist?

Fünftens: Entwicklungs- und Klimapolitik wird die neue Sicherheitspolitik sein.

Die Flüchtlingszahlen von heute werden die Vorboten einer Massenwanderung sein, die durch Klimawandel und einen anhaltenden zügellosen globalen Konsum drohen. Intensive Landwirtschaft und Verstädterung zerstören immer mehr ökologisch wertvolle Flächen. Ein jüngst veröffentlichter Bericht der UN-Welternährungsorganisation bezifferte den dadurch entstehenden jährlichen Verlust auf weltweit bis zu 10,6 Billionen Dollar. Das sind 17 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts. Weil der Boden die Menschen nicht mehr ernähren kann, wird dies der Studie zufolge in der nächsten Dekade zu bis zu 50 Millionen zusätzlichen Flüchtlinge führen.

Die Herstellung von Gleichheit zwischen Mann und Frau, Bildung, erneuerbare Energien, eine nachhaltige Landwirtschaft, die Sicherung der Lebensmittelversorgung und Zugang zu Trinkwasser sind die Elemente einer künftigen Sicherheitspolitik.

Die Folgen und Schäden durch den Klimawandel sind damit noch gar nicht eingepreist. Der Klimawandel wird künftig in vielen Regionen eine weitere Lebensperspektive unmöglich machen. Wo lebenswichtige Ressourcen fehlen, werden sich neue Fluchtwellen in Bewegung setzen. Der ehemalige UN-Diplomat Paddy Ashdown hat Recht, dass die Krise in Syrien nur eine Generalprobe für eine Katastrophe ist, die sich im nächsten Jahrzehnt zeigen wird. Bisher bleiben die meisten Flüchtlinge in den betroffenen Ländern und es treibt sie in die Großstädte. Das wird sich ändern, wenn Konflikte dazukommen und steigende Preise, Korruption und Unterdrückung die Situation eskalieren lässt. Die Herstellung von Gleichheit zwischen Mann und Frau, Bildung, erneuerbare Energien, eine nachhaltige Landwirtschaft, die Sicherung der Lebensmittelversorgung und Zugang zu Trinkwasser sind die Elemente einer künftigen Sicherheitspolitik. Dem im Dezember stattfindenden Klimagipfel in Paris und den weltweiten entwicklungspolitischen Bemühungen für bessere und nachhaltige Lebensbedingungen kommt eine bedeutende sicherheitspolitische Schlüsselrolle zu, der sich die verantwortlichen Entscheidungsträger bewusst werden müssen.

Fazit: Europa muss sich beweisen

Sicher ist: Europa kann keine Heimstatt für alle von Hunger und Verfolgung Bedrohten sein. Wir brauchen einen realistischen Umgang in der Flüchtlingsfrage, die weit vor den EU-Außengrenzen bei der Ursachenbekämpfung ansetzt. Krisen und Kriege, Hunger und Armut, der Klimawandel und die Ausbeutung der Meere: das sind die Feinde einer gemeinsamen europäischen Zukunft. Nun liegt es an Europa zu zeigen, ob es den Friedensnobelpreis wirklich verdient hat und in größeren Dimensionen denken kann oder sich weiter im Kleinklein nationaler Egoismen verliert.

Der Autor Oliver Rolofs ist Pressesprecher und Leiter Kommunikation der Stiftung Münchner Sicherheitskonferenz.

Zuvor war er als Parlamentarischer Assistent und Leiter des Büros der Abgeordneten Angelika Beer im Europäischen Parlament mit Arbeitsschwerpunkten in der Außen- und Sicherheitspolitik tätig und nahm als Presseoffizier an verschiedenen Einsätzen in den Friedensmissionen der NATO und EU auf dem Westbalkan teil. Herr Rolofs studierte Politikwissenschaften, Rechtswissenschaften, Soziologie und Osteuropäische Geschichte in Marburg und München. Als freier Journalist und Autor verfasst er regelmäßig Beiträge zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen.