Ausdruck unserer Werte oder nur schmückendes Beiwerk? Gipfelkreuz auf der Zugspitze. Bild: imago/Jürgen Ritter
Gesellschaft

Ein Zeitalter von Veränderungen

Aus dem BAYERNKURIER-Magazin: Die Gesellschaft verändert sich dramatisch: Durch Globalisierung, Digitalisierung, Flüchtlingsansturm, Wertewandel und vieles mehr. Schulterzucken reicht nicht, es muss gehandelt werden. Warum wir den Wandel nicht aufhalten, aber gestalten können. Ein Debattenbeitrag von Markus Blume, MdL, Vorsitzender der CSU-Kommission für Grundsatzfragen und Programm.

Nach dem Ende des kalten Krieges, der deutschen Wiedervereinigung und der Blüte der sozialen Marktwirtschaft in ganz Europa wähnten sich viele in den 90er und 00er Jahre in einer nun dauerhaften Phase von Stabilität. Und spätestens, seitdem sich Deutschland vom „kranken Mann Europas“ zur Wachstumslokomotive gemausert hat, herrscht auch hierzulande die Überzeugung vor, dass Veränderung und Neues wichtig seien – aber bitteschön nur für die anderen.

Tatsächlich leben wir aktuell in einer Phase geradezu dramatischen Wandels. Einige Beispiele: Der Deutschen liebste Dinge – wie etwa das Auto – werden oftmals nicht mehr gekauft, sondern geteilt („Car-Sharing“). Ganztagsangebote werden nicht mehr im Ausnahme- sondern im Regelfall nachgefragt. Und der Fakt, dass mehr als die Hälfte der Grundschüler in Bayerns Großstädten Migrationshintergrund haben, löst kein Befremden mehr aus, sondern dient allenfalls als Beleg, wie gut Integration in Bayern gelingt.

Als Volkspartei müssen wir diesen Wandel gestalten und unsere Wertvorstellungen in die Zukunft übersetzen; Schulterzucken allein reicht nicht aus.

All das wäre vor 15 Jahren noch undenkbar gewesen. Heute sind es Mosaiksteine, die zusammen ein Bild von den Veränderungen zeichnen, die unsere Gesellschaft herausfordern. Als Volkspartei müssen wir diesen Wandel gestalten und unsere Wertvorstellungen in die Zukunft übersetzen; Schulterzucken allein reicht nicht aus. Dieser Aufgabe stellt sich die Kommission für Grundsatzfragen und Programm seit Ende letzten Jahres im Dialog mit Partei und Bürgerschaft.

Neue Antworten auf neue Fragen für ein Mehr an Veränderungsbereitschaft

Je schneller sich die Welt dreht, desto größer ist die Sehnsucht der Menschen nach Beständigkeit und einfachen Antworten. Klar ist aber auch: Zukunftsangst ist ein schlechter Ratgeber. Wir brauchen stattdessen neue Antworten auf neue Fragen. Und wir müssen es schaffen, die großen Zusammenhänge darzustellen, eine Geschichte zu erzählen, eine Vision zu vermitteln.

Wie wollen wir morgen leben? Wo wollen wir mit unserem Land wirtschaftlich hin? Und was macht die europäische Idee künftig aus? Das sind die wirklich großen Themen, die nach neuen Erzählungen verlangen – und dann auch Veränderungsbereitschaft wecken werden, ganz im Sinne von Antoine de Saint-Exupery: „Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“

Neuer Gesellschaftsvertrag gegen die Fliehkräfte in der Gesellschaft

Individualisierung, Partikularisierung, Fragmentierung – schon die Liste der Schlagwörter, mit denen gesellschaftlicher Wandel bei uns beschrieben wird, hat Konjunktur. Dass das Familienbild vielgestaltiger und die Bindekraft von Religion und Tradition brüchiger werden, ist nicht neu. Die wirklichen Konfliktlinien traten aber bei den jüngsten Tarifauseinandersetzungen zutage. Dass die Piloten bei der Lufthansa und die Lokführer bei der Deutschen Bahn für ihre Sparteninteressen kämpfen, steht symptomatisch für die Gesellschaft: Es gibt immer weniger homogene Gruppen, die für gemeinsame Überzeugungen eintreten.

Zusätzlich herausgefordert wird der gesellschaftliche Grundkonsens durch den gewaltigen Zuzug von Menschen, die zu ihrem Migrations- häufig auch einen anderen Wertehintergrund haben.

An die Stelle der Landwirte sind längst die Biobauern, Milchbauern, Energiebauern usw. getreten; dasselbe lässt sich bei Lehrern und Ärzten beobachten. Zusätzlich herausgefordert wird der gesellschaftliche Grundkonsens durch den gewaltigen Zuzug von Menschen, die zu ihrem Migrations- häufig auch einen anderen Wertehintergrund haben. Und am Ende tragen die neuen Medien noch dazu bei, dass die individuellen Einstellungen nebeneinander stehen bleiben: Jeder hat quasi seinen eigenen Online-Kanal, in dem er vorrangig das präsentiert bekommt, was vorgefiltert den persönlichen Meinungspräferenzen entspricht.

Jede zukunftsfähige Gesellschaft muss von der Familie als Keimzelle her gedacht werden.

Ich bin davon überzeugt, wir brauchen dringend eine Debatte über die Frage: Was hält die Gesellschaft künftig zusammen? Gerade eine offene Gesellschaft braucht gemeinsame Werte. Gerade eine plurale Gesellschaft setzt ein (modernes) Verständnis von gemeinsamer Identität voraus. Und jede zukunftsfähige Gesellschaft muss von der Familie als Keimzelle her gedacht werden. Ein erneuerter Gesellschaftsvertrag könnte für all das ein tragfähiger Rahmen sein, der auf dem Boden der liberalitas bavariae und im Sinne einer „verwurzelten Offenheit“ bestehende Gegensätze überwindet und unsere Bürgergesellschaft neu ausbuchstabiert.

Neue Spielregeln für das digitale Monopoly

Gesellschaftliche Umwälzungen waren häufig auch eine Folge technologischen Fortschritts, selten nur verlief dieser so radikal wie heute. Jahrzehntelang wurden in den Hörsälen die Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital gelehrt, heute lautet die Formel: Internet, Algorithmen und Daten. Im Ergebnis war die Markteintrittsbarriere für neue Geschäftsmodelle nie so gering wie heute: Wir sehen, dass eine Idee ausreicht, um ganze Branchen in Aufruhr zu versetzen (Uber und das Taxigewerbe). Wir erleben, wie neue Technologien Milliardenkonzerne ruinieren (digitale Fotografie und Kodak). Und man kann nur staunen, wenn eine 50 Mann-Bude wie WhatsApp, die genau eine App entwickelt hat, Telekommunikationskonzerne um Milliardenumsätze bringt – und für 19 Milliarden Dollar den Besitzer wechselt.

Leitschnur für uns kann nur sein, den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft auch in der digitalen Zukunft zur Geltung zu verhelfen.

Diese neue Netzwerkökonomie fördert offensichtlich eine Monopolisierung aller Märkte: Das beste Angebot kann morgen derjenige machen, der schon jetzt der größte ist. Die unfassbare Anhäufung von Daten, Nutzern und Kapital bei den digitalen Ökosystemen Google, Apple, Facebook und Amazon spricht dafür Bände. Und so wird nicht nur der Wettbewerbsgedanke durch das „digitale Monopoly“ herausgefordert, sondern es stellt sich auch die Frage nach der Zukunft der Arbeit, ja nach der Zukunft der Marktwirtschaft insgesamt. Leitschnur für uns kann nur sein, den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft auch in der digitalen Zukunft zur Geltung zu verhelfen. Dazu braucht es eine neue Ordnungspolitik, die sich nicht im regulatorischen Klein-Klein verliert, sondern faire und vergleichbare Wettbewerbsbedingungen im Großen schafft, gleichzeitig Fortschritt ermöglicht, ohne den Menschen aus dem Blick zu verlieren.

Neues Denken für den Staat und das Gemeinwesen

Verlängern wir unsere gedanklichen Leitplanken in die Zukunft, müssen wir uns auch über das Verhältnis von Bürger und Staat Gedanken machen. Denn die informierte Gesellschaft rüttelt nicht nur an der repräsentativen Architektur unserer Demokratie, sondern gibt auch die Chance, den Staat neu zu denken, und zwar von den Bürgern und ihren Lebenslagen her. Den Staat zu den Bürgern bringen und nicht die Bürokratie online, das muss die Maßgabe bei der Staatsmodernisierung sein.

In einem Zeitalter, das von hoher Dynamik und großen Brüchen geprägt ist, kann für die Politik ohnehin kein einfaches „Weiter so“ gelten, ganz im Gegenteil. Wir müssen Takt halten mit der beschleunigten Entwicklung und dürfen nicht zulassen, dass Regulierungsfiktion und Regulierungsrealität immer weiter auseinander klaffen.

Konservativ sein heißt für uns, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren.

Am Ende ist klar: Wir werden Veränderungen nicht stoppen, aber noch können wir sie lenken. Deutschland und Bayern haben in der Vergangenheit von vielen Strukturumwälzungen profitiert, wir haben allen Grund, uns mit Mut und Zuversicht neuen Herausforderungen zu stellen. Konservativ sein heißt für uns, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren. Gestern, heute und auch morgen.

Die Kommission für Grundsatzfragen und Programm:

Das aktuelle Grundsatzprogramm der CSU stammt aus dem Jahr 2007. Seither haben sich zahlreiche neue Fragestellungen und Herausforderungen ergeben. Daher beauftragte der Parteivorstand 2014 die CSU-Kommission für Grundsatzfragen und Programm mit der Ausarbeitung eines neuen Grundsatzprogramms. Aktuell läuft die Ideenphase, in der auf verschiedenen Veranstaltungen bayernweit Anregungen von CSU-Mitgliedern und Bürgern eingesammelt werden. In vier großen Themenfeldern (Gesellschaft, Außen- und Sicherheitspolitik, Marktwirtschaft, Demokratie) wird auf Zukunftskongressen diskutiert. Erste Linien des neuen Grundsatzprogramms werden auf dem kommenden CSU-Parteitag Mitte November vorgestellt und erörtert. Anschließend beginnt für die Kommission die Formulierungsphase. Fertiggestellt werden soll das Programm zum Parteitag am 20. und 21. November 2016. In der Kommission arbeiten Mitglieder und Mandatsträger aller Ebenen sowie Beauftragte aller Arbeitskreise, Arbeitsgemeinschaften und Kommissionen der CSU.

www.csu-grundsatzkommission.de

Hinweis:

Der nächste Zukunftskongress Demokratie unter dem Motto „Die Renaissance des Staates: Wie wir das Gemeinwesen neu denken können“ findet am 14. November im Maritim Hotel in Nürnberg statt. Als Gastreferenten werden Prof. Dr. Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Franz-Josef Radermacher von der Universität Ulm (Institut für Datenbanken und Künstliche Intelligenz sowie Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung), Jan Fleischhauer, Journalist und Autor, sowie Dr. Wolfram Schaecke, Leiter des Kompetenzzentrums Ernährung, erwartet.