Die Sprecher des Jüdischen Forums in der CSU, André Freud und Ludwig Spaenle. (Foto: BK/Wolf Heider-Sawall)
Initiative

„Juden prägen seit mehr als tausend Jahren dieses Land“

Interview Aus dem BAYERNKURIER-Magazin: Die beiden Sprecher des Jüdischen Forums in der CSU, André Freud und Ludwig Spaenle, erklären, wie sie Juden in Bayern eine Stimme geben und antisemitische Vorfälle im Freistaat besser erfassen und bekämpfen wollen.

Herr Freud, Sie haben das Jüdische Forum in der CSU initiiert. Wie kam es zu dieser Idee?

Freud: Weil ich in der CSU aktiv und Jude bin. Ich kenne unsere Gemeinden und weiß, dass viele Mitglieder konservativ ausgerichtet sind. Ich fand es schade, dass es bislang keine jüdische Stimme innerhalb der CSU gab, die ihre Anliegen formuliert.

Herr Spaenle, warum braucht die CSU ein eigenes Angebot für die Juden in Bayern?

Spaenle: Wenn man die Christlich Soziale Union mit ihren Wurzeln sieht, dann ist eine davon – neben dem Konservativen, Liberalen und Sozialen – das Christliche. Und dazu gehört letztendlich auch das, was wir als christlich-jüdische-abendländische Kultur verstehen. Zum einen hat es also etwas mit der Herkunft zu tun. Zum anderen geht es darum, ein Zeichen zu setzen, dass wir für die Juden in Bayern, die sich bürgerlich verstehen, Ansprechpartner haben. So wie wir das als Volkspartei für viele Gruppen und viele Themen bieten.

Was will das Forum in der CSU erreichen? Geht es darum, den jüdischen Mitbürgern mehr Gehör zu verschaffen?

Freud: Lassen Sie mich an das anknüpfen, was Sie gerade gesagt haben. „Jüdische Mitbürger“ ist eine Formulierung, die mir unpassend erscheint. Diesen Begriff verwendet man für Gruppen, die hinzukommen, nicht für Gruppen, die von Haus aus dabei sind. Das beschreibt einen Punkt, den das jüdische Forum in die CSU hineintragen möchte: Es geht um ein Gesprächs- und Aufklärungsangebot in Richtung „gelebte Normalität“. Bei jüdischen CSU-Mitgliedern – und deren Zahl wächst – gibt es das Bedürfnis, die Stimme zu erheben und auf Dinge hinzuweisen. Beides möge bitte gehört werden.

Auf welche Dinge etwa?

Freud: Vor Kurzem unterschrieb der amerikanische Präsident ein Gesetz zur Bekämpfung des europäischen Antisemitismus. Es wurde von Demokraten und Republikanern gemeinsam in den Kongress eingebracht und verabschiedet. Ich habe in keiner deutschsprachigen Publikation etwas darüber gelesen. Man kann das Gesetz gut oder schlecht finden – aber darüber gesprochen werden sollte schon. Wir wollen Themen in die öffentliche Diskussion bringen.

Wie kann die CSU von diesem Forum profitieren?

Spaenle: Eine wesentliche Aussage, die wir mit dem Forum treffen, ist, dass Juden seit mehr als 1.000 Jahren dieses Land prägen. Und dass sie auch prägend sind für die bürgerliche Bewegung der Mitte, die CSU. Das ist ein wichtiges Signal in einer Zeit, in der die gesellschaftliche und politische Wahrnehmung für Juden in unserem Land schwieriger wird. In einer Zeit, in der der Wahnsinn des Internets und das Verschieben von Toleranzgrenzen durch bestimmte politische Gruppierungen das Klima verändern. Die AfD ist eine politische Kraft, die zersetzend auf den gesellschaftlichen Konsens in diesem Land wirkt. Gerade der Umgang mit unserer Geschichte ist dabei das ätzende Gift. Deshalb ist die klare Abgrenzung gegenüber der AfD so wichtig. Das demokratische Spektrum muss sich hiervon klar unterscheiden und auf sein Wertefundament verweisen. Und die CSU setzt hier ein deutliches Signal. Und natürlich wird das Jüdische Forum Themen benennen, es wird Stellung beziehen, um die Sichtweise der Juden in der Partei deutlich zu machen.

Wie kann man sich die Arbeit des Forums vorstellen?

Freud: Das Forum ist für alle Menschen offen, die mitmachen wollen und die grundsätzlichen Ziele der CSU unterstützen. Man muss kein CSU-Mitglied sein, aber man muss den Wertekanon der Partei teilen. Es ist auch für Nicht-Juden geöffnet. Es soll dabei nicht um religiösen Dialog gehen, sondern es ist als Angebot für Menschen gedacht, die über bestimmte Themen sprechen und ihnen eine Stimme geben wollen. Dazu werden wir Veranstaltungen und Tagungen durchführen und wir werden unsere Positionen in die Partei einbringen.

Gibt es schon konkrete Projekte?

Spaenle: Wir denken zum Beispiel darüber nach, die Gesamtpartei zu bitten, sich eine internationale Antisemitismus-Definition zu eigen zu machen, die von 31 Staaten verabschiedet wurde und die der Bundestag bereits angenommen hat. Sie versteht auch eine pauschale Israelkritik als Judenhass. Das würde zum einen verdeutlichen, dass die CSU in ihrem Handeln diese Grundsatzhaltung vertritt. Noch wichtiger aus meiner Sicht wäre das Signal, dass die CSU zu anderen Parteien rechts von sich ganz klare Trennlinien zieht.

Jerusalem, Athen, Rom – diese drei antiken Städte, auf Hügeln erbaut, sind das politische, gesetzgeberische und religiöse Fundament des heutigen Europas.

André Freud

Freud: Ein weiteres Projekt ist es, Aufklärung über die Boykott-Bewegung BDS zu betreiben, die auch in Bayern versucht, Fuß zu fassen. Die BDS-Bewegung wird von der Hamas unterstützt und arbeitet mit einer Comic-Figur als Logo, die in der gesamten arabischen Welt klar antisemitisch besetzt ist.

Es geht Ihnen auch darum, jüdisches Leben in Bayern sichtbarer zu machen. Wie kann das gelingen?

Spaenle: Wir sehen, dass sich die Wahrnehmung jüdischen Lebens vor allem an den zwölf Jahren der Shoa festmacht. Ein Ziel muss es daher sein klarzumachen, dass jüdisches Leben sowohl vor der Shoa als auch danach dieses Land und diese Gesellschaft gestaltet hat und weiter gestaltet. Eine Gelegenheit darauf hinzuweisen, ist das Jahr 2021. Dann jährt sich die erste urkundliche Erwähnung jüdischen Lebens in Deutschland zum 1.700. Mal. Es geht darum zu zeigen, dass Juden seit Jahrtausenden in diesem Land leben und es prägen, dass das Judentum und die westliche Zivilisation untrennbar miteinander verbunden sind.

Freud: Jerusalem, Athen, Rom – diese drei antiken Städte, auf Hügeln erbaut, sind das politische, gesetzgeberische und religiöse Fundament des heutigen Europas. Sie stehen für die Religionen Europas, für die Demokratie und für das Recht. Dieses Erbe müssen wir pflegen und für es eintreten. Die CSU tut dies. Dies ist gerade jetzt wichtig, da Europas Grundwerte von verschiedenen Seiten angegriffen und erschüttert werden.

Wir wollen das Bild Israels so wiedergeben, wie es der Wirklichkeit entspricht.

Ludwig Spaenle

Spaenle: Es geht außerdem darum, jüdisches Leben in seiner Vielfalt politisch zu unterstützen. Da geht es um Sicherheitsfragen, um Bildungsfragen und um die Frage, wie gehen wir in unserer Gesellschaft damit um, dass Tabugrenzen verschoben werden. Wenn Juden in neuer Form angegangen werden, muss die prägende politische Kraft in diesem Land ganz klare Zeichen setzen.

Freud: Dem stimme ich zu. Die Shoa – dieses Wort verwenden wir öfter als ‚Holocaust‘ – ist für Juden nicht identitätsstiftend. Die Normalität jüdischen Lebens umfasst das Wissen um, aber nicht die Fixierung auf die Shoa.

Spaenle: Es gibt noch ein weiteres Thema: Wir wollen das Bild Israels so wiedergeben, wie es der Wirklichkeit entspricht. Wir wollen nichts beschönigen, aber wir müssen die Bedingungen der politischen Existenz Israels betrachten. Und wir wollen die besonderen Beziehungen der CSU zum Staat Israel, die seit Franz Josef Strauß bestehen, betonen.

Wenn man über jüdisches Leben spricht, dann gehört dazu auch die Tatsache, dass kaum eine jüdische Einrichtung ohne Polizeischutz auskommt. Wie gehen Sie damit um?

Freud: Wir haben diesen Schutz und wir brauchen ihn. Wir könnten mehr für unsere alten Leute und unsere Jugend tun, wenn wir das Geld nicht für Schutzmaßnahmen ausgeben müssten. Aber so ist es nun einmal. Auf der anderen Seite nehme ich wahr, dass die tatsächliche Zahl von Straftaten gegen Juden nicht sehr hoch ist. Klar ist, dass es ohne diese Schutzmaßnahmen mehr und schwere Straftaten gäbe.

Was folgt daraus?

Freud: Wir müssen dafür sorgen, dass alle antisemitischen Vorfälle erfasst und gemeldet werden, auch diejenigen, die noch keinen Straftatbestand erfüllen. Das ist wichtig. Denn erst, wenn wir all die Pöbeleien und Beleidigungen erfassen, wissen wir, wie es in den Köpfen mancher Menschen aussieht. Das Wissen um die Realität gibt der Politik die Grundlage, sich Gedanken über die gebotenen Maßnahmen zu machen.

Der Antisemitismus ist ein Vorurteil, das nicht vom schlechter machen einer Menschengruppe lebt, sondern vom gefährlicher machen.

André Freud

Wir sollten aber auch nicht in Alarmismus verfallen. Zur von mir angesprochenen Normalität gehört nicht nur Normalität im Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit Juden, sondern auch Normalität im Umgang der Juden mit der Mehrheitsgesellschaft. Jede gesellschaftliche Gruppe muss mit einem bestimmten Maß an Vorbehalten ihr gegenüber zurechtkommen. Das müssen die Katholiken, das müssen die Protestanten, das müssen auch die Juden aushalten. Die Schwelle zum Antisemitismus wird an anderer Stelle überschritten.

Wo würden Sie diese Grenze ziehen?

Freud: In der Dämonisierung der Juden, in ihrer Überhöhung. Der Antisemitismus ist ein Vorurteil, das nicht vom schlechter machen einer Menschengruppe lebt, sondern vom gefährlicher machen. Aber wenn jemand sagt, ich kann mit Jüdischsein nichts anfangen, dann habe ich damit keine Probleme. Das muss er ja auch nicht. Jeder soll nach seiner Art leben können.

Wie stellt sich die Situation mit Blick auf Antisemitismus derzeit dar?

Spaenle: Es gibt linken und einen rechtsradikalen Antisemitismus. Es gibt den „rassisch“ geprägten Antisemitismus. Es gibt einen politischen, der sich an Israel entzündet, und es gibt einen islamischen Antisemitismus. Durch das Internet verstärkt sich die Radikalität und es bestärkt die Verbreiter von Verschwörungstheorien.

Eine besondere Veränderung der Lage sehen wir durch den muslimisch geprägten Antisemitismus, der in Ausmaß und Aggressivität zugenommen hat. Das hat natürlich etwas mit den Veränderungen im gesellschaftlichen Gefüge seit dem Jahr 2015 zu tun. Es kann nicht sein, dass auf deutschen Straßen israelische Fahnen verbrannt werden und „Juda verrecke“ gebrüllt wird. Dem müssen wir entschlossen entgegentreten.

Was erwarten Sie von den Bürgern?

Freud: Wichtig ist, dass die gesellschaftliche Ächtung solcher Vorkommnisse erhalten bleibt, verstärkt wird. Die Mittel dazu sind einerseits Sanktionen straf-, ordnungsrechtlicher oder gesellschaftlicher Art. Das alleine aber reicht natürlich nicht. Es braucht Bildung, Aufklärung und Wissen. Es muss früh damit begonnen werden. Außerdem sind antisemitische Hirngespinste zu entlarven – nehmen Sie etwa die Mär von der jüdischen Weltverschwörung. Angeblich glauben viele daran. Aber wenn ich jemanden warne, er soll dieses oder jenes nicht tun, sonst käme die jüdische Weltverschwörung, hat das noch niemanden beeindruckt. Warum wohl? Weil sie ihre eigenen Lügen nicht glauben. Der Antisemit hat wohl oft gar kein Problem mit Juden, sondern damit, die Welt zu verstehen.

Im Rahmen der Flüchtlingsbewegungen sind Menschen zu uns gekommen, in deren Heimatländern Hetze gegen Israel zur Staatsdoktrin gehört.

Ludwig Spaenle

Spaenle: Es gibt von Dietrich Bonhoeffer einen Satz, den ich mir als Leitspruch meiner Arbeit gewählt habe: „Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen.“ Das heißt: Für ein Mitglied der gesellschaftlichen Mehrheit ist die Frage, wie man sich für eine Gruppe von Bürgern einsetzt, deren Zahl in diesem Fall nicht besonders groß ist, der Gradmesser dafür, wie glaubwürdig man das Wertegefüge dieser Mehrheit vertritt. Der Satz meint die Verantwortung der Mehrheitsgesellschaft für die unveräußerliche Würde des Einzelnen. Es geht um die Verteidigung der Menschenwürde im Alltag.

Mit Blick auf antisemitische Übergriffe gibt es schon länger die Diskussion darüber, dass nur ein Teil gemeldet wird und dann vorwiegend rechts-extremen Tätern zugeschrieben wird. Wie sehen Sie das?

Spaenle: Es gibt eine EU-weite Umfrage – die größte, die zu diesem Thema je gemacht wurde. Ihr zufolge werden 80 Prozent der antisemitischen Vorfälle nicht gemeldet. Deshalb richten wir in Bayern jetzt die Meldestelle für antisemitische Vorfälle ein.

Wie wird die Meldestelle für Antisemitismus arbeiten?

Spaenle: Die Aufgabe der Meldestelle ist es, die antisemitischen Vorfälle aufzunehmen und zu bewerten. Derzeit hat die Stelle drei Mitarbeiter. Voraussichtlich noch im März werden wir ans Netz gehen. Die Meldestelle soll auch beratend tätig werden – für die Menschen, die angegriffen wurden, für die jüdischen Gemeinden, bis hin zur politischen Beratung. Wenn man etwa feststellt, dass ein wachsender Teil der antisemitischen Übergriffe einen islamistischen Hintergrund hat, dann muss man darauf reagieren – etwa in der Lehrplanarbeit an den Schulen, in der Lehrerbildung, aber auch in der Erwachsenenbildung. Solche Dinge soll die Meldestelle leisten.

Freud: Die jüdischen Gemeinden werden über ihre Sozialarbeiter in die Arbeit der Meldestelle eingebunden. Die Sozialarbeiter sind vor Ort bekannt. Ihnen vertrauen sich die Menschen an.

Sie haben den wachsenden islamistisch geprägten Antisemitismus angesprochen. Wie kann man auf diese Entwicklung reagieren?

Spaenle: Das ist eine besondere Herausforderung. Im Rahmen der Flüchtlingsbewegungen sind Menschen zu uns gekommen, in deren Heimatländern Hetze gegen Israel zur Staatsdoktrin gehört. Dort werden die Menschen von Kindesalter an beeinflusst. Wenn Menschen aus diesen Ländern zu uns kommen und hier bleiben, dann müssen wir uns dem stellen. Und wir müssen beim Vermitteln unserer Werte neue Zugänge finden, um diese Menschen anzusprechen.

Freud: Kein Mensch, der aus einem dieser Länder kommt, legt seinen Antisemitismus beim Überschreiten der deutschen Grenze ab. Wichtig ist mir, dass wir verhindern, dass diese Menschen ihren lebenslang angelernten Antisemitismus weitergeben. Das heißt, die Kinder sind mindestens genauso wichtig wie die Eltern.

Welche Ideen gibt es, um den Antisemitismus bei jungen Menschen zu bekämpfen?

Spaenle: Eine Idee ist die Gründung eines bayerisch-israelischen Jugendwerks. Es gibt bereits einen Vorschlag des Bundestags, der eine entsprechende Initiative auf Bundesebene vorsieht. Von bayerischer Seite aus könnte man dieses Angebot des Bundes mit speziellen Programmen ergänzen. Denn es gilt: Wenn man sich kennengelernt hat, fällt es viel schwerer, sich übereinander negativ zu äußern. Dabei kann man dann auch vermitteln, dass es neben der historischen Verantwortung noch viele weitere Gründe gibt, sich mit Israel zu beschäftigen. Wir können viel von Israel lernen: Nehmen Sie nur das Feld der Digitalisierung. Oder den Umgang mit Natur. Oder die Frage, wie man Integration gestaltet. In Israel leben Menschen aus unterschiedlichsten Ländern zusammen. Das sind alles Punkte, die uns zeigen, welche Chancen in einer besonderen Beziehung zu Israel stecken.

Freud: Nichts wirkt so sehr gegen Antisemitismus wie eine
Reise nach Israel. Das heißt nicht, dass jemand, der in Israel war, nichts mehr zu kritisieren hat. Eine Reise nach Israel dient vor allem der Demaskierung des Antisemitismus. Dieser arbeitet stets mit Zerrbildern, die in der Wirklichkeit keine Entsprechung finden. Eine Reise nach Israel oder, günstiger und schneller zu realisieren, ein Besuch in einer jüdischen Gemeinde Bayerns, entlarvt Antisemitismus wirkungsvoll.

Das Interview führte Thomas Röll.