Bundesentwicklungsminister Gerd Müller verlangt von den Entwicklungsländern mehr eigene Anstrengungen. (Foto: Imago/Phototek)
Handel

Globalisierung gerecht gestalten

Gastbeitrag Reformen in den Entwicklungsländern, mehr Eigenleistungen, mehr private Investitionen und fairer Handel: Das sind die richtigen Schritte, um den Menschen in Afrika eine Perspektive zu geben, schreibt Entwicklungsminister Gerd Müller.

Flucht und Migration sind bestimmende Themen unserer Zeit. Die Auswirkungen der weltweiten Flüchtlingskrise erleben wir jeden Tag – auch in Deutschland. Aber unser Horizont darf nicht an den EU-Außengrenzen enden. Denn die Welt wird von Megatrends verändert, denen wir uns stellen müssen.

Die Weltbevölkerung wächst jedes Jahr um die Größe Deutschlands. Jeden Tag kommen 250.000 Menschen hinzu. Das künftige Wachstum findet vor allem in Afrika statt. Nigeria mit seinen 180 Millionen Einwohnern wird in 30 Jahren das drittgrößte Land der Erde sein.

Der Energiebedarf steigt

Wegen des Bevölkerungswachstums muss Afrika seine Nahrungsmittelproduktion bis 2050 verdoppeln. Der Energiebedarf wird gewaltig ansteigen. Damit in jedem afrikanischen Haushalt ein Licht brennt, wären Hunderte neue Kraftwerke notwendig. Wir werden unser Klima niemals retten können, wenn der gigantische Energiehunger auf der Basis von Öl und Kohle gestillt wird. Deswegen entscheidet sich der Klimaschutz in Afrika, Indien und China.

Durch die Digitalisierung jeder Mensch auf der Welt mit einem Klick im Internet sehen, wie wir leben.

Gerd Müller

Dazu brauchen wir eine neue Offensive für Erneuerbare Energie. Und vor allem ein neues Wachstumsmodell. Schon heute verbrauchen 20 Prozent der Menschen 80 Prozent der Ressourcen. Wenn alle Menschen so leben und konsumieren würden wie wir, bräuchten wir drei Erden.

Zugleich kann durch die Digitalisierung jeder Mensch auf der Welt mit einem Klick im Internet sehen, wie wir leben. Jedes Jahr drängen allein in Afrika 20 Millionen junge Menschen auf den Arbeitsmarkt, die unseren Lebensstandard erreichen wollen.

Die Verantwortung des Einzelnen

Wir können uns in Deutschland und Europa vor diesen Entwicklungen nicht abschotten. Wir müssen entschlossen auf diese globalen Herausforderungen antworten. Denn sonst kommen die Probleme irgendwann zu uns. Globalisierung kann und muss gerecht gestaltet werden. Jede und jeder Einzelne von uns – in Politik, Wirtschaft, Kirche und Gesellschaft – kann und muss Verantwortung übernehmen. Wir gehen in der Entwicklungspolitik voran und richten unsere Zusammenarbeit neu aus. Diese „Entwicklungspolitik 2030“ hat vier Säulen:

Erstens können und müssen unsere Partnerländer selbst mehr leisten. Eigeninitiative ist der Schlüssel für Entwicklung. Dazu gehört unter anderem der Aufbau von Steuerbehörden. Jedes Jahr fließen geschätzt 50 Milliarden US-Dollar illegal aus Afrika ab, in etwa die Summe der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit. Spezialisierte Abteilungen der großen internationalen Konzerne drücken zudem ihre Steuern auf ein Minimum. Diese fehlenden Steuereinnahmen werden aber dringend für Investitionen und Arbeitsplätze gebraucht. Um dies zu ändern, hat die G20 – auch auf deutsche Initiative – den automatischen Austausch von Steuerdaten vorangebracht. Jetzt müssen die afrikanischen Regierungen ihre Anstrengungen für die Erhöhung der eigenen Steuereinnahmen deutlich steigern.

Kampf gegen Korruption

Zweitens richten wir die staatliche Entwicklungszusammenarbeit viel stärker auf gute Regierungsführung, Demokratie, Rechtssicherheit und Kampf gegen die Korruption aus. Wer reformiert, dem bieten wir eine vertiefte Partnerschaft an. Wenn bei Regierungen aber keinerlei Reformwille vorhanden ist, werden wir die Entwicklungszusammenarbeit künftig herunterfahren. Menschen in den ärmsten Ländern, die von Hunger und Not bedroht sind, werden wir aber weiterhin unterstützen. Wichtig ist: Kein Euro geht in korrupte Regierungskanäle. Das ist auch Kern meines Marshallplans mit Afrika. Wir setzen auf Reformpartnerschaften, statt mit der Gießkanne Tropfen über Afrika zu verteilen.

Wichtig ist: Kein Euro geht in korrupte Regierungskanäle.

Gerd Müller

Nehmen Sie Tunesien. Die Regierung hat sich verpflichtet, die Anti-Korruptionsbehörde mit neuem Personal auszubauen und die Rahmenbedingungen für Investoren zu verbessern. Im Gegenzug stellen wir zusätzliche Mittel zur Verfügung, um mittelständische Unternehmen zu fördern. Vor wenigen Wochen war ich in Tunis und habe sieben Vereinbarungen mit deutschen Unternehmen unterzeichnet, die vor Ort in Ausbildung und Beschäftigung investieren. Allein die Automobilzulieferer Dräxlmaier, Leoni und Marquardt schaffen so 7.500 neue Jobs – zusätzlich zu den bereits 60.000 geschaffenen Arbeitsplätzen deutscher Unternehmen.

Die Wirtschaft  schafft Jobs

Die dritte Säule sind daher private Investitionen, denn neun von zehn Jobs schafft die Wirtschaft. Aber gerade einmal 1.000 von 250.000 exportorientierten deutschen Unternehmen sind in Afrika aktiv. Die deutsche Wirtschaft muss Afrika als Wachstums- und Zukunftsmarkt begreifen. Mit Unterstützung der Bundeskanzlerin habe ich daher gemeinsam mit dem Wirtschafts- und Finanzminister ein umfassendes „Entwicklungsinvestitionspaket“ vorgelegt. Kern ist ein Entwicklungsinvestitionsfonds, der mit bis zu einer Milliarde Euro ausgestattet wird. Damit erhalten Mittelständler Finanzierungsmöglichkeiten für Projekte in Afrika, die bisher keine kommerziellen Angebote bekommen. Aber auch afrikanische Mittelständler und Start-ups kommen so an günstige Finanzierungen.

Und wir bauen unsere Ansprechstrukturen vor Ort aus, etwa an den Auslandshandelskammern. Über den Fonds hinaus erleichtern wir es Unternehmen, sich gegen Verluste im Exportgeschäft mit sogenannten Hermes-Bürgschaften abzusichern. Bei Zahlungsausfall müssen Firmen statt 10 nur noch 5 Prozent der Auftragssumme selbst bezahlen. Das werden wir jetzt auf weitere Reformländer ausweiten. Und wir werden neue Finanzierungsprodukte in lokaler Währung anbieten, denn massive Währungsschwankungen behindern viele Investitionen. Komplettiert wird das Entwicklungspaket durch eine Sonderinitiative, mit der wir neue Ausbildungs- und Jobpartnerschaften gemeinsam mit deutschen und afrikanischen Unternehmen schaffen.

Offene Märkte für Afrika

Viertens brauchen wir fairen Handel. Denn damit lösen wir größere Entwicklungssprünge aus, als wir mit Entwicklungsgeldern je erreichen können. Europa muss seine Märkte vollständig für Produkte aus Afrika öffnen. In Tunesien gibt es herrliches Olivenöl. Aber nur ein Teil der Ernte kann nach Europa. Die Exportquote war bereits im Januar ausgeschöpft. Auf jeden weiteren Liter sind hohe Zölle fällig. Bei Zitrusfrüchten und Tomaten ist es ähnlich. Wir brauchen eine vollständige Marktöffnung für landwirtschaftliche Produkte aus nordafrikanischen Staaten. Es ist doch ein Widersinn, dass wir wirtschaftliche Strukturen mit staatlichen Geldern aufbauen sollen, aber immer noch Waren vom europäischen Markt ausschließen.

Noch immer exportiert Afrika vor allem Rohstoffe – die Weiterverarbeitung erfolgt dann bei uns.

Gerd Müller

Und da, wo die EU zollfreie Einfuhren zulässt, scheitern viele Waren an hohen Qualitätsstandards und kommen deswegen nicht nach Europa. Zum Beispiel Fisch aus Mauretanien. Das Land hat theoretisch freien Zugang zum europäischen Markt. Aber der Transportweg von der Hauptstadt Nouakchott zum Großmarkt in München ist lang. Zahlreiche lebensmittelrechtliche Bestimmungen und Hygienestandards sind zu beachten. Das schaffen die Mauretanier derzeit noch nicht. Deshalb investieren wir, dass die Fischindustrie die nötigen Zertifizierungen nachweisen kann. Und dass der Fisch vor Ort weiterverarbeitet wird.

Denn Weiterverarbeitung ist ein zusätzlicher Baustein für fairen Handel. Noch immer exportiert Afrika vor allem Rohstoffe – die Weiterverarbeitung erfolgt dann bei uns. Damit bleibt auch die Gewinnspanne größtenteils hier. Afrikas Anteil am weltweiten Handel beträgt nur zwei Prozent. Wir müssen in die Weiterverarbeitung investieren, damit afrikanische Länder höherwertige Produkte herstellen, diese exportieren und so auch neue Investoren gewinnen können. In Kenia haben wir beispielsweise mit einem deutschen Entwicklungskredit eine Fabrik finanziert, die Mangosaft herstellt. Gebaut hat sie eine Firma aus Regensburg. Diese Fabrik sichert heute Zehntausenden Familien vor Ort ein festes Einkommen. Wir könnten noch Hunderte solcher Saftfabriken bauen. Der Investitionsbedarf ist riesig: In Entwicklungsländern verrottet etwa die Hälfte der Ernte, weil es nicht genug Lager und Anlagen für Weiterverarbeitung und Verpackung gibt – Anlagen, die deutsche Unternehmen liefern könnten.

Die Macht der Verbraucher

Wir müssen aber auch unser eigenes Konsumverhalten hinterfragen. Zum Beispiel die Tasse Kaffee am Morgen. Von den 8 bis 12 Euro für ein Kilo Kaffee entfallen etwa 50 Cent auf die Bohnen. Davon können die Familien auf den Kaffeeplantagen in Lateinamerika oder Afrika nicht vernünftig leben. Nötig wären zwei Euro. Ein viel größerer Anteil des Geldes muss vor Ort bleiben.

Aber wir zahlen oft keine fairen Preise. Gerade mal 15 Prozent des bei uns gehandelten Kaffees sind fair zertifiziert. Unser Ziel müssen 100 Prozent sein. Der Kaffee muss deswegen nicht automatisch teurer werden. Wir sind eines von ganz wenigen Ländern in Europa, die noch eine Kaffeesteuer erheben. Immerhin 2,19 Euro pro Kilo! Und nur rund 50 Cent sind für die Menschen vor Ort – das ist nicht gerecht!

Deswegen habe ich Finanzminister Olaf Scholz an seinen eigenen Vorschlag von vor zwei Jahren erinnert. Als Erster Bürgermeister von Hamburg hat er vorgeschlagen, die Kaffeesteuer für fairen Kaffee auszusetzen. Für die Verbraucher würde er dadurch so günstig wie herkömmlicher Kaffee. Und die Kaffeebauern bekämen endlich anständige Einkommen für ihre harte Arbeit.

Nähen für 15 Cents pro Stunde

Oder nehmen Sie eine Jeans: Eine Näherin in Äthiopien schuftet dafür 16 Stunden täglich an sechs Tagen in der Woche und verdient dabei nur 15 Cent pro Stunde. Damit schafft sie es kaum, ihre Familie zu ernähren. Das darf uns doch nicht egal sein. Deswegen habe ich vor vier Jahren ein Textilbündnis gegründet, gemeinsam mit Unternehmen, Verbänden, Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft. Unser Ziel ist es, die Arbeits- und Umweltbedingungen entlang der gesamten Lieferkette zu verbessern. Ein Lohn von 25 Cent pro Stunde würde schon ausreichen. Die Jeans würde sich in der Produktion lediglich um einen Euro verteuern, von fünf Euro auf sechs. Es liegt jetzt bei den Unternehmen, faire Standards umzusetzen – und an uns Verbrauchern, faire Produkte zu kaufen. Bei der Kleidung entwickeln wir gerade ein Verbrauchersiegel für faire Kleidung.

Afrikas Jugend will und wird in der Heimat bleiben, wenn sie dort Arbeit und Zukunftsperspektiven hat.

Gerd Müller

Die Neuausrichtung der deutschen Entwicklungspolitik steht für mich daher auch im Einklang mit der Enzyklika „Laudato si“. Papst Franziskus unterstreicht darin, dass ökologische und soziale Probleme, der Einsatz für die Umwelt und für die Armen, untrennbar zusammengehören.

Auf dem Rückweg von meiner letzten Afrikareise hatte ich die Gelegenheit, Papst Franziskus in Rom ein Exemplar meines Marshallplans zu überreichen. Die afrikanischen Staaten liegen uns gegenüber auf der anderen Seite des Mittelmeers. Abschottung bringt uns nicht weiter. Afrikas Jugend will und wird in der Heimat bleiben, wenn sie dort Arbeit und Zukunftsperspektiven hat.

Wir müssen und können Globalisierung gerecht gestalten, unseren Konsum und unsere Wirtschaft nachhaltig verändern und damit die Schöpfung für kommende Generationen bewahren.

Gerd Müller ist Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.