Schäuble will aus Fehlern von 2015 lernen
Das klingt schon fast wie der heimliche Wunsch nach einer Asyl-Obergrenze: 2015 seien einfach zu viele Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, sagt Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Wohl über 40 Milliarden Euro hat die Migrantenkrise im vergangenen Jahr Bund und Länder gekostet. Fatalismus in Berlin: „Es werden immer mehr Menschen nach Europa drängen, ob uns das gefällt oder nicht.“
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Schäuble will aus Fehlern von 2015 lernen

Das klingt schon fast wie der heimliche Wunsch nach einer Asyl-Obergrenze: 2015 seien einfach zu viele Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, sagt Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Wohl über 40 Milliarden Euro hat die Migrantenkrise im vergangenen Jahr Bund und Länder gekostet. Fatalismus in Berlin: „Es werden immer mehr Menschen nach Europa drängen, ob uns das gefällt oder nicht.“

Da hat ein Wähler und Zeitungsleser Finanzminister Wolfgang Schäuble eine sehr gute Frage gestellt: „Wenn ich lese, dass ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling den Staat 60.000 Euro pro Jahr kostet, dann frage ich mich schon, ob die Verhältnismäßigkeit stimmt. 60.000 Euro – soviel Geld hat manche Familie trotz Arbeit nicht zur Verfügung.“ In der Tat, 60.000 Euro im Jahr verdienen bei weitem nicht alle Wähler von Wolfgang Schäuble, nicht brutto und schon gleich gar nicht netto. Die Sache wird noch unerfreulicher, wenn man sich dann erinnert, dass schon von über 60.000 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Deutschland zu lesen war. 60.000 mal 60.000 Euro sind 3,6 Milliarden Euro. Nur für ein Jahr.

Insgesamt dürfte die Migrantenkrise Bund und Länder 2016 mehr als 40 Milliarden Euro gekostet haben – was deutlich mehr ist als der Verteidigungshaushalt, der 2016 etwa 34,3 Milliarden Euro betrug.

Dabei sind die Milliarden für die unbegleiteten Minderjährigen nur ein kleiner Teil der Kosten, die auf Grund der anhaltenden Migrantenkrise für Bund und Länder angefallen sind. 21,7 Milliarden Euro hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr für die Bewältigung der Flüchtlingskrise ausgegeben, hieß es jetzt aus Schäubles Finanzministerium. Dieses Jahr sind dafür wieder 21,3 Milliarden Euro eingeplant. Nicht mitgerechnet sind dabei die Milliarden, die Länder und Kommunen ausgeben mussten – und weiter ausgeben müssen. Allein Bayern hat die Migrantenkrise 2016 noch einmal über zwei Milliarden Euro gekostet. Anderen Bundesländern erging es ähnlich. Insgesamt dürfte die Migrantenkrise Bund und Länder 2016 so mehr als 40 Milliarden Euro gekostet haben – deutlich mehr als der Verteidigungshaushalt mit etwa 34,3 Milliarden Euro für das Jahr 2016.

60.000 Euro für einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling

Beim Interview in der Wochenzeitung Welt am Sonntag hatte der Finanzminister denn auch Verständnis für die Wähler-Frage, ob 60.000 Euro Kosten für einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nicht etwas viel sei: „Das habe ich mich auch manchmal gefragt.“ Es gehe aber darum, sich um Jugendliche und Kinder so zu kümmern, „dass sie in die Gesellschaft integriert werden“, so der Minister. Und wenn das die Verwaltung mache, dann entstünden halt hohe Kosten.

Die CSU drängt nun darauf, den Familiennachzug zu stoppen, um Migranten den Anreiz zu nehmen, ihre Kinder sozusagen als Anker-Kinder allein auf die gefährliche Reise vorauszuschicken, damit der Rest der Familie dann ein Nachzugs- und Einreiserecht erwirken kann. Problem: die Grünen blockieren das Vorhaben der unionsgeführten Regierung im Bundesrat.

Wer eine staatliche Hilfsleistung beansprucht, muss belegen, dass sein Anspruch berechtigt ist, dass er überhaupt einen Anspruch hat.

Nicht immer sind die Antwortend des Ministers ganz leicht nachvollziehbar. Auch ein anderer Wähler denkt in der WamS über jugendliche Migranten und Flüchtlinge nach: „Aber was ist mit denen, die mit falschen Identitäten kommen, die über ihr Herkunftsland oder ihr Alter nicht die Wahrheit sagen, junge Männer, die sich zum Beispiel als minderjährig ausgeben um hier bleiben zu können?“ Schäubles Antwort: „In einem Rechtsstaat müssen wir jedem, von dem wir vermuten, er missbrauche unsere staatliche Hilfe, genau das beweisen.“ Da könnte sich Schäubles Gesprächspartner gewundert haben. Denn jeder Bürger weiß aus eigener Erfahrung, dass es sich genau umgekehrt verhält: Wer eine staatliche Hilfsleistung beansprucht, muss belegen, dass sein Anspruch berechtigt ist, dass er überhaupt einen Anspruch hat, dass er tatsächlich ist, wer er behauptet zu sein. Er muss etwa nachweisen, dass er tatsächlich minderjährig ist. Wenn er das nicht kann oder nicht will, dann ist es die Pflicht der zuständigen Behörde, diese Anspruchsberechtigung zu prüfen – durch eine ärztliche Altersbestimmung etwa. Dass dies aber nirgends geschieht, geht zurück auf eine politische Entscheidung.

Schäubles versteckter Wunsch nach einer Obergrenze

Eine gewisse Ratlosigkeit kommt in Schäubles weiteren Ausführungen zum Ausdruck: Weil in Deutschland die Sozialleistungen so viel höher sind als in anderen europäischen Ländern, wollen so viele Migranten nach Deutschland. Was also tun? Man könnte den Standard der Sozialleistungen absenken, aber nur alle, wie das Bundesverfassungsgericht fordert, also auch für die Deutschen. Dabei gilt laut Gericht das Existenzminimum als Grenze. Oder wir müssten schauen, „ob wir mit den anderen EU-Ländern auf einen gemeinsamen einheitlichen Sozialstandard kommen. Bisher ist das in Deutschland ein Tabu.“

Was keine zutreffende Formulierung ist. Denn es ist kein Tabu, sondern eine politische Unmöglichkeit. Aus einfachem Grund: Deutsche, Österreicher oder Franzosen wollen ihre Sozialstandards nicht auf bulgarisches, rumänisches, griechisches oder polnisches Niveau absenken. Aber Bulgaren, Rumänen oder Griechen können sich natürlich derzeit – und vermutlich auch noch auf lange Zeit – keine deutschen oder österreichischen Sozialstandards leisten. Das Problem, dass die meisten Flüchtlinge nach Deutschland wollen, wird also bleiben, wenn Berlin das erlaubt und weiter auf die Obergrenze verzichtet. Europa kann da nicht helfen. Und Schäuble hat keine Antwort.

Im Jahr 2015 sind dann immer mehr Menschen nach Deutschland gekommen, und irgendwann waren es zu viele.

Wolfgang Schäuble

Dabei gibt er jetzt ziemlich offen der CSU-Linie von 2015 und 2016 recht. Etwa wenn er beschreibt, was im Herbst 2015 passiert ist. Eigentlich habe das Dublin-Abkommen festgelegt, dass Flüchtlinge, die die EU erreichen, in dem Land bleiben müssen, in das sie zuerst eingereist sind. Schäuble: „Doch dieses System hat nicht funktioniert, zumal an den innereuropäischen Grenzen keine Kontrollen vorgesehen sind. Im Jahr 2015 sind dann immer mehr Menschen nach Deutschland gekommen, und irgendwann waren es zu viele.“ Zu viele? Das klingt fast wie die Einsicht, dass es ohne Obergrenze eben doch nicht geht. An anderer Stelle folgt Schäubles Eingeständnis, dass Berlin beim Management der Migrantenkrise 2015 massive Fehler gemacht hat: „Wir haben versucht, vieles von dem, was uns 2015 aus dem Ruder gelaufen ist, besser zu machen. Wir Politiker sind Menschen, auch wir machen Fehler. Aber man kann wenigstens aus Fehlern lernen.“

Angst als Frau abends allein auf der Straße

2015 ist, wie Schäuble es formuliert, einiges „aus dem Ruder gelaufen“. Was Folgen für Land und Menschen hat, wie ihm in der WamS eine Wählerin erzählt: „Ich habe den Eindruck, dass sich hier unter den Bürgern eine diffuse Angst breit macht, zum Beispiel als Frau abends allein auf der Straße.“ Aufschlussreich: Schäuble hat das von anderen Frauen auch schon gehört, sagt er. „Nach solch schrecklichen Ereignissen wie dem Terror in Berlin oder der Silvesternacht von Köln“ ist die Angst da, „vor Gewalttaten, vor Übergriffen“, weiß der Minister.

Es werden immer mehr Menschen nach Europa drängen. Ob uns das gefällt oder nicht, wir werden damit umgehen müssen.

Wolfgang Schäuble

Was tun, fragt Schäuble wieder. Mehr Polizisten auf die Straße  bringen. Doch das dauert, weil die zusätzlichen Polizisten erst ausgebildet werden müssen. Dann fällt ein Ministerwort, das man fast als das Eingeständnis lesen kann, dass sich die Deutschen an ein sinkendes Sicherheitsniveau werden gewöhnen müssen: „Wir sind ein hohes Maß an Sicherheit gewohnt. Das ist schön. Doch ich glaube, es werden immer mehr Menschen nach Europa drängen. Ob uns das gefällt oder nicht, wir werden damit umgehen müssen.“

Das klingt nach Fatalismus. Allein Afrikas Bevölkerung wird sich in den kommenden 25 Jahren von heute 1,2 Milliarden auf 2,5 Milliarden verdoppeln. Nicht nur Millionen, sondern Hunderte von Millionen werden in den kommenden Jahrzehnten nach Europa schauen und sich wegen fehlender Jobperspektiven, kriegerischen Konflikten oder schlicht wegen fehlendem Wasser womöglich über das Mittelmeer auf den Weg machen wollen.