Streicher-Dissonanzen, rhythmisches Fuß-Stampfen und Rufe der Chorsänger – und am Ende des modernen Orchesterwerks erklingt die Stimme des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vom Band: Er bestreitet den Völkermord an den Armeniern. Wer dies behaupte sei ein „Denunziant“, das türkische Volk besitze eine „weiße Weste“. Der Berliner Komponist Helmut Oehring hat diese Äußerungen aus einer Rede des Staatschefs in seinem Musikstück „Massaker, hört ihr Massaker“ als Original-Ton-Datei aufgegriffen.
Ein Völkermord, der keiner sein darf
Bei der ausverkauften Uraufführung im Rahmen des Projekts „Aghet“ durch die Dresdner Sinfoniker im vergangenen November hatte Oehring im Programmheft obendrein Erdogans Rücktritt gefordert – was er bis heute auf seiner Homepage wiederholt. All das hat ihm und dem Projekt-Initiator Marc Sinan die verspätete Aufmerksamkeit der türkischen Regierung eingebracht. Denn die staatstragenden Kultur-Rezensenten aus Ankara haben bei der EU-Kommission in Brüssel massiv interveniert gegen das Kulturevent „Aghet“ (Armenisch für: die Katastrophe). Der Begriff bezeichnet den Völkermord an 1,5 Millionen Armeniern durch Soldaten des Osmanischen Reichs im Jahr 1915, den die türkische Regierung bis heute bestreitet.
Erdogans Administration fordert über ihren Brüsseler Botschafter von der EU-Kommission, ihre finanzielle Unterstützung für das Projekt in Höhe von 200.000 Euro zu stoppen. Die für europäische Werte immer einstehenden Brüsseler Beamten nahmen daraufhin folgsam den Begleittext zu „Aghet“ von ihrer Website. Es gebe Bedenken wegen der Wortwahl „Genozid“. Eine neue Projektbeschreibung soll in den nächsten Tagen auf die Internetseite gestellt werden. An der Unterstützung durch die EU ändere das aber nichts, so das überaus tapfere Statement.
Erdogan tritt nicht nur in der Türkei Presse- und Meinungsfreiheit mit Füßen, sondern will auch Europa seine Vorstellungen aufzwingen.
Andreas Scheuer, CSU-Generalsekretär
Die Empörung in Deutschland ist groß nach dieser neuen Attacke aus der Türkei. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer erklärt: „Erdogans Vorgehen gegen Presse- und Meinungsfreiheit gehört inzwischen leider schon zur Tagesordnung, nun greift er auch in die Kunstfreiheit in Europa ein.“ Erschreckend sei, „wie Erdogan immer dreister und häufiger gegen unsere Grundrechte und europäischen Werte vorgeht“. Deutlich spricht sich der CSU-General gegen einen EU-Beitritt der Türkei aus: „Inzwischen muss doch wirklich jedem Europäer klar geworden sein, dass die Erdogan-Türkei nicht zum aufgeklärten Europa passt.“
Bei Böhmermann ging es um Satire, aber bei uns um historisch verbriefte Fakten, die man benennen muss.
Helmut Oehring, Komponist von „Aghet“
Den „Angriff auf die Meinungsfreiheit“ verurteilt auch Markus Rindt, Intendant der Dresdner Sinfoniker. Komponist Oehring erklärte im Gespräch mit dem Bayernkurier: „Der Pegel ist jetzt hoch gedreht nach dem Fall Böhmermann.“ Er sieht jedoch einen Unterschied: „Bei ihm ging es um Satire, aber bei uns um historisch verbriefte Fakten, die man benennen muss.“ Dass die EU-Kommission den Text von ihrer Seite gelöscht hat, sei „eine Unmöglichkeit, eine Unglaublichkeit“ – „solche Zugeständnisse fangen klein an und werden dann größer“. Erdogans Eingriffsversuch wirke aber kontraproduktiv, glaubt Oehring: „Wenn man etwas vermeiden will, dann erzeugt man nicht so eine Welle. Nun erreicht er das komplette Gegenteil.“ Der Musiker freut sich, dass die Debatte über den Völkermord an den Armeniern nun „Breitenwirkung erhält“.
Auch ein Auftritt in Istanbul ist geplant
Aufmerksamkeit ist dem Orchester mit den insgesamt drei Kompositionen von „Aghet“ nach der Intervention aus Ankara gewiss. Am kommenden Samstag gastiert das Ensemble damit im Festspielhaus Hellerau nördlich von Dresden. Ein weiteres Konzert folgt am 1. Mai in Brandenburg/Havel, sowie mehrere in Belgrad, in der armenischen Hauptstadt Jerewan und im Frühjahr 2017 auch in Istanbul. Der privatwirtschaftliche Veranstalter des Auftritts in der türkischen Metropole, Anadolu Kültür, bestätigt auf Bayernkurier-Nachfrage zwar die Planung für den Termin, hüllt sich aber ansonsten in Schweigen dazu. Einige türkisch-stämmige Musiker des ebenfalls an dem Projekt beteiligten No-Borders-Orchestra befürchten Repressionen seitens des Staates und erwägen, nicht an dem Auftritt in Istanbul teilzunehmen. Komponist Oehring, 54, hingegen sagt: „Mich erinnert das an die DDR der 60er- und 70er-Jahre. Ich bin alte Ost-Schule, habe meine Erfahrung mit einem autoritären Regime, das gegen Kunst und Bürgerrechte vorgeht. Das erschüttert mich nicht.“