Immer mehr Migranten am Ärmelkanal
Nicht nur Calais ist betroffen: Immer mehr illegale Migranten suchen in den kleineren Hafenstädtchen entlang der französischen Kanalküste nach einer schwarzen Passage nach England. Mit den Migranten kommen Schlepper-Mafia und Unsicherheit. Unterdessen wachsen auf der Mittelmeerroute schon wieder die Migrantenzahlen. Paris bereitet massive Kontrollen an der Grenze zu Italien vor.
Frankreich

Immer mehr Migranten am Ärmelkanal

Nicht nur Calais ist betroffen: Immer mehr illegale Migranten suchen in den kleineren Hafenstädtchen entlang der französischen Kanalküste nach einer schwarzen Passage nach England. Mit den Migranten kommen Schlepper-Mafia und Unsicherheit. Unterdessen wachsen auf der Mittelmeerroute schon wieder die Migrantenzahlen. Paris bereitet massive Kontrollen an der Grenze zu Italien vor.

Frankreich hält sich den Migrantenansturm vom Leibe, so gut es nur kann. Von Brüssel zuteilen lassen will es sich 30.000 Migranten und keinen mehr – über zwei Jahre hinweg. So hat es Premierminister Manuel Valls mehrfach klar gestellt. Trotzdem wächst auch in Frankreich der Migranten-Druck. Nur wenige Monate vor der großen Sommerpause steigen die Migrantenzahlen ausgerechnet in einem der beliebtesten französischen Urlaubsgebiete – entlang der Kanalküste in der alten Region Pas de Calais und der Normandie. „Von Calais bis Saint Malo, die Küsten unter dem Druck der Migranten“, titelte kürzlich die Pariser Tageszeitung „Le Figaro“.

Tausende Migranten entlang der gesamten Kanalküste

Anfang März hat Paris das „Dschungel“ genannte wilde Lager nahe der Hafenstadt Calais zur Hälfte räumen lassen. Was nichts daran ändert, dass sich noch immer mehrere Tausend illegale Migranten im restlichen Lager und an verschiedenen Orten in und um Calais aufhalten. Die Pariser Tageszeitung „Le Monde“ schreibt von etwa 5000 Migranten in Calais, eine Zahl, die Innenminister Bernard Cazeneuve bestreitet. Eine Folge der Teilräumung des „Dschungels“ von Calais ist jedoch, dass immer mehr Migranten auf andere kleinere Hafenstädtchen entlang der gesamten Kanalküste ausweichen, berichtet jetzt Le Figaro: „Von Dünkirchen bis Roscoff [am idyllischen westlichen Zipfel der Nordbretagne, A.d.V.] streifen Tausende Afghanen, Erithreer, Sudanesen und andere über die Straßen und durch die Häfen, um hier zu kampieren oder dort, mit der Hoffnung, auf ein Schiff zu kommen. Ziel: England.“ Das Blatt schreibt von zwei Iranern, die kürzlich nicht weit von Dover aus einem Boot „gerettet“ wurden.

An der Kanalküste wächst unter Einwohnern und Gewerbetreibenden die Unruhe.

Le Figaro

Vom „Spritz-Effekt“, den die Teilräumung des Migrantenlagers von Calais ausgelöst habe, sprechen Experten. Schon im vergangenen August hatte Sébastien Jumel, der kommunistische Bürgermeister der weiter südlich im Norden der Normandie gelegenen Hafenstadt Dieppe, genau davor gewarnt, dass die „Schließung von Calais nur zur Ausbreitung der Problematik über den ganzen Küstenstrich“ führen würden. Jumel hat recht behalten, weiß Le Figaro und zählt auf: Seit Jahresanfang wurden in Dieppe 600 Fremde polizeilich überprüft, die sich dort irregulär aufhalten. 150 bis 200 Migranten hielten sich in den zurückliegenden Wochen in der Kleinstadt  (34.000 Einwohner) auf. Am 1. April wurden die meisten von ihnen zwar zwangsweise verlegt, kehren aber seither nach und nach zurück. In Cherbourg (Normandie) an der Nordküste der Halbinsel Cotentin, wo schon im vergangenen Jahr 774 illegale Migranten festgenommen worden waren, haben jetzt etwa 100 Migranten eine leerstehende Kirche besetzt. Im Hafenstädtchen Ouistreham (9300 Einwohner) im Normandie-Département Calvados wurden innerhalb von drei Monaten 200 Personen ohne Ausweispapiere aufgegriffen, fast so viele wie im ganzen Jahr zuvor. Sogar im Hafen von St. Malo, wo man sich eigentlich sicher geglaubt hatte, wurden Mitte April Migranten in einem Kühllaster gefunden.

Albanische Schleuser-Mafia setzt sich in Dieppe fest

Auffällig: Die Migranten verteilen sich nach Herkunftsregionen auf verschiedene Hafenstädtchen an der Kanalküste – Iraker in Cherbourg, Iraner in Ouistreham. Aus Dieppe wird von Syrern, Erithreern und Sudanesen berichtet. Das Städtchen wird aber vor allem von einer ganz speziellen Plage heimgesucht, keine Migranten, sondern eine knappe Hundertschaft albanischer Schleuser. Als ob sie sich Dieppe als Etappen-Quartier für ihre kriminellen Aktivitäten ausgesucht hätten, so wieder Le Figaro. „Die sind hier schon in einer starken Position, da setzt sich ein mafiöses Netzwerk fest“, zitiert das Blatt eine Stimme aus dem Rathaus. Unter den Bürgern macht sich Unmut breit und Angst vor den ungebetenen Gästen. „Die Alten haben Angst und gehen nicht mehr auf der Straße spazieren,“ sagte ein Ladenbesitzer dem Figaro-Korrespondenten: „Meine Frau fürchtet sich, wenn sie abends nach der Arbeit nur 50 Meter zum Auto gehen muss.“ Dazu kommt die Sorge, dass mit dem Schleusergeschäft auch Drogenhandel und Prostitution nach Dieppe gelangen. „Dieppe wird kein kleines Calais werden“, so Bürgermeister Jumel entschlossen: „Auf keinen Fall lassen wir hier die Mafia gedeihen.“

Meine Frau fürchtet sich, wenn sie abends nach der Arbeit nur 50 Meter zum Auto gehen muss.

Ladenbesitzer in Dieppe

Aber die Gemeinden sind im Grunde hilflos. Paris lässt sie mit ihren Migrantenproblemen weitgehend alleine. Polizei- und Sicherheitskräfte sind in einer landesweiten Anti-Terror-Operation gebunden. Betroffene Stadtväter rücken darum zusammen. Im Verein mit den Bürgermeistern anderer Hafenstädtchen, die Boots- oder Fährverkehr nach England haben, hat sich Jumel direkt an Innenminister Cazeneuve gewandt – und ist immerhin schon bis zu dessen Kabinettschef vorgedrungen.

Taxi-Service der EU von Libyen nach Sizilien

Doch die Bürgermeister der Hafenstädtchen an der französischen Kanalküste werden sich wohl darauf einstellen müssen, dass in ihren Gemeinden der Migrantendruck weiter steigt. Zwar ist die Balkanroute effektiv geschlossen. Dafür fällt mit der genau jetzt beginnenden und schon so bezeichneten „Migranten-Saison“ im Mittelmeer die sogenannte Zentralroute von der nordafrikanischen Küste nach Italien immer stärker ins Gewicht. Vor zwei Jahren erreichten 170.000 Migranten über Lampedusa und Sizilien erst Italien und dann das nördlichere Europa. 2015 waren es 150.000. In den Wintermonaten ist die Überfahrt zu gefährlich. Aber jetzt kommen die Migranten wieder: Vergangene Woche wurden zwischen Libyen und Sizilien an nur drei Tagen 6000 Migranten aus dem Mittelmeer aufgenommen. Im Rahmen der Marine-Operation Sophia „retten“ EU-Schiffe schon 30 Seemeilen vor der libyschen Küste Migranten aus ihren Booten – und bringen sie dann nach Sizilien. Das berichtete jüngst die Londoner Tageszeitung Daily Mail direkt von einem beteiligten norwegischen Schiff. „Taxi-Service“ nannte ein norwegischer Schiffsoffizier das Verfahren. Beobachter kritisieren denn auch, dass die starke EU-Präsenz vor der nordafrikanischen Küste Schleuser und Migranten eben nicht abschreckt, sondern im Gegenteil regelrecht ermutigt und anlockt: Die Migranten können sich praktisch sicher sein, schnell „gerettet“ zu werden. Was das Geschäft der Schlepper belebt.

Frankreich verstärkt die Kontrollen an der Grenze zu Italien im Raum Nizza

Wie auch immer, Frankreich richtet sich auf wachsenden Migrantenzustrom über Italien ein. Paris hat schon angekündigt, im Südosten des Landes, zwischen Seealpen und Adria, die Kontrollen an der Grenze zu Italien massiv zu verstärken. Denn genau dort, in der Region Nizza, versuchen viele Migranten auf dem Weg nach Calais und zur Kanalküste die französische Grenze zu überschreiten. In den vergangenen fünf Monate haben die Franzosen hier etwa 10.000 Personen zurückgewiesen. So viel ist sicher: Die Zahlen werden wachsen, an der Kanalküste und bei Nizza.