Mit Schwert: Die Flagge von Saudi Arabien. (Bild: Imago/blickwinkel/McPhoto/Klaus Steinkamp)
Saudi-Arabien

Saudi-Arabiens Provokation

Mit der Hinrichtung des Religionsführers der saudi-arabischen Schiiten hat Riad den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten verschärft − zuhause und in der ganzen Region. Das gefährdet die eben begonnen Gespräche über eine Lösung für den Bürgerkrieg in Syrien. Womöglich soll es das sogar. Saudi-Arabien fühlt sich bedroht: durch beginnende Unruhe im eigenen Land und durch den Aufstieg des Iran.

Gefährliche Eskalation in der gefährlichsten Region der Welt: Bei der größten Massenhinrichtung seit 35 Jahren lässt Saudi-Arabien zusammen mit 43 sunnitischen Terroristen auch vier Schiiten exekutieren, darunter Scheich Nimr Al-Nimr, den geistlichen Führer der schiitischen Minderheit in Saudia-Arabien und den einzigen saudischen Ajatollah. Wut und Empörung in Teheran: „Die Hände der göttlichen Rache werden ganz gewiss die grausamen Personen, die sein Leben genommen haben, am Genick ergreifen“, tobt der iranischen Religionsführer Ayatollah Ali Khamenei. Da klang eine Drohung an.

Wir sind entschlossen, den Iran nicht mobilisieren oder Terrorzellen in unserem Land oder in den Ländern unserer Verbündeten einrichten zu lassen. Wir werden alle diese iranischen Versuche zurückdrängen.

Saudi-Arabiens Außenminister Abdel Al-Jubeir

Riad übergibt dem persischen Botschafter „Protest in scharfen Worten“ über die iranische Kritik an der Hinrichtung: „dreiste Einmischung in die Angelegenheiten des Königreichs.“ In Teheran stürmen iranische Radikale die saudische Botschaft und stecken sie in Brand. Riad zieht die Reißleine und bricht die diplomatischen Beziehungen zum Iran ab: Binnen 48 Stunden müssen Irans Botschafter und das Botschaftspersonal das Land zu verlassen − fast wie vor einer Kriegserklärung. „Wir sind entschlossen, dem Iran nicht zu erlauben unsere Sicherheit zu untergraben“, erklärt Außenminister Adel Al-Jubeir auf einer Pressekonferenz in Riad. „Wir sind entschlossen, den Iran nicht mobilisieren oder Terrorzellen in unserem Land oder in den Ländern unserer Verbündeten einrichten zu lassen. Wir werden alle diese iranischen Versuche zurückdrängen.“

Eskalation zur Unzeit

Saudi-Arabien und Iran erleben die die bittersten politischen Spannungen seit dem ersten Golfkrieg (1980-1988) zwischen Irak und Iran. Damals war es tatsächlich zu direkten Konfrontationen zwischen Saudis und Iranern gekommen. Am Schluss nötigte Riad den iranischen Religions- und Revolutionsführer Ayatollah Khomeini zum Friedenschluss mit Iraks Diktator Saddam Hussein. Auch 1988 zum Ende des Kriegs brach Riad die diplomatischen Beziehungen zu Teheran ab. Erst 1991 wurden sie wieder hergestellt.

Beide Länder werden alles tun, um ihre Stellvertreter und deren Aktivitäten zu stärken, was nur noch mehr Konflikt bringen wird.

New York Times

Der neue Höhepunkt in der der Dauerkrise zwischen den beiden um die Vormacht ringenden Regionalmächten kommt zu gefährlichem Zeitpunkt. Vom Kalten Krieg zwischen Riad und Teheran zu sprechen, wäre ein Verharmlosung. Beide liefern sich in Jemen, Irak und vor allem in Syrien brandheiße Stellvertreterkriege. Kippen nun diese Stellvertreterkriege in die direkte Konfrontation zwischen der sunnitischen und der schiitischen Vormacht?

Wir sind natürlich stark beunruhigt, dass dies den ganzen Prozess der Syrienverhandlungen in die Luft jagen kann.

US-Regierungsvertreter

Soweit ist es noch nicht. Aber beide Seiten werden nun in jenen Stellvertreterkriegen erst recht das Feuer anfachen. „Beide Länder werden alles tun, um ihre Stellvertreter und deren Aktivitäten zu stärken, was nur noch mehr Konflikt bringen wird“, zitiert die New York Times einen amerikanischen Regionalexperten. „Das ist eine beunruhigende Eskalation, bestätigt der Londoner Nahost-Spezialisten Michael Stephens: „Sie hat enorme Konsequenzen für die Menschen der Region, und die Spannungen zwischen den beiden Seiten bedeuten, dass sich die Instabilität in der ganzen Region fortsetzen wird.“ In Washington fürchtet man um den Fortgang der eben erst begonnen Genfer Verhandlungen, über eine Lösung im syrischen Bürgerkrieg: „Wir sind natürlich stark beunruhigt, dass dies den ganzen Prozess in die Luft jagen kann“, so ein hochrangiger US-Regierungsvertreter.

Die beunruhigende Eskalation hat enorme Konsequenzen für die Menschen der Region, und die Spannungen zwischen den beiden Seiten bedeuten, dass sich die Instabilität in der ganzen Region fortsetzen wird.

Mittelost-Experte Michael Stephens, Royal United Services Institute (RUSI)

Berechtigte Sorge: Am gleichen Tag, an dem Riad die Hinrichtungen bekannt gab, kündigte es auch die Waffenruhe in Jemen auf. Die Eskalation zwischen Riad und Teheran hat prompt die Wut zwischen Sunniten und Schiiten angeheizt: Angriffe auf sunnitische Moscheen in Irak, schrille Töne von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah im Libanon, Beifall für Saudi-Arabiens Bruch mit Iran von sunnitischen Jaish Al-Islam-Rebellen in Syrien. In Washington ist man froh, dass immerhin Teheran offenbar versucht, die Situation nicht weiter entgleiten zu lassen. „Die Iraner haben sich in diesem Fall verantwortlich verhalten“, so ein ehemaliger stellvertretender CIA-Chef nach der Verwüstung der saudischen Botschaft in Teheran: „Die Polizei war schnell da, und hat Verhaftungen vorgenommen.“

Riads aggressives Signal an die Schiiten − im Lande und in der Region

Ausgelöst hat die jüngste Eskalation Saudi-Arabien. Mit der Hinrichtung des Schiitenführers Al-Nimr – die Exekution von dessen 21-jährigem Neffen steht noch bevor – habe Riad „die religiösen Spannungen ausgerechnet zu einem Zeitpunkt verschärft, zu dem sie unbedingt reduziert werden müssten“, so das US-Außenministerium. Monatelang ha Washington versucht, den Saudis die Hinrichtung des schiitischen Geistlichen auszureden, berichtet die Washington Post – vergeblich.

Riad hat die religiösen Spannungen in der Region ausgerechnet zu einem Zeitpunkt verschärft, zu dem sie unbedingt reduziert werden müssten.

US-Außenministerium

Mit der größten Massenhinrichtung seit 1980 – damals waren 63 Terroristen exekutiert worden, die 1979 die große Moschee in Mekka gestürmt hatten – wollte Riad wohl gleich ein mehrfaches Zeichen setzen. Die meisten der Todeskandidaten waren Al-Kaida-Terroristen, die Riad vor einem Jahrzehnt festgesetzt und verurteilt hatte. Weil Riad saudische Anhänger des Islamischen Staates abschrecken will – und von denen gibt es viele –, mussten sie jetzt sterben. Weil unter den zum Tode Verurteilten Sunniten aber auch prominente Namen waren und weil Riad zugleich „einen großen Block von anti-schiitischen Saudis, die mit sunnitischem Extremismus sympathisieren, beschwichtigen muss“ (Wall Street Journal), musste mit ihnen auch Schiitenführer Al-Nimr sterben.

Al-Nimrs Exekution könnte auch darum durchgeführt worden sein, um einen großen Block von anti-schiitischen Saudis zu besänftigen, die mit sunnitischem Extremismus sympathisieren.

Toby Matthiesen, St. Antonys Collge, University of Oxford

Als 2012 der sogenannte Arabische Frühling von Bahrein in die weit überwiegend schiitisch bevölkerte saudische Ostprovinz überschwappte, hatte sich Al-Nimr an die Spitze der Bewegung gesetzt, Gleichberechtigung für Saudi-Arabiens Schiiten gefordert und das Regime in Riad scharf kritisiert. Früher einmal hat er dem radikal-islamischen Ajatollah Khomeini nahegestanden  – aber angeblich nie zur Gewalt aufgerufen. Dass Al-Nimr nun zusammen mit den Al-Kaida-Terroristen hingerichtet wurde, enthält auch eine Botschaft: Schiitisches Verlangen nach Gleichberechtigung gilt Riad als Terror, schiitische Dissidenten gelten als Agenten Teherans. Dialog und Verständigung sind ausgeschlossen. Riad toleriert keinen Dissens, egal ob sunnitisch oder schiitisch. Schiitischen Radikalen in Saudi-Arabien spielt das in die Hände. Gut möglich, dass Riad es demnächst im eigenen Land mit zwei Problemen zu tun bekommt: sunnitischen Dschihadisten und radikalen Schiiten.

Reaktion auf die Herausforderung durch den Islamischen Staat

Riads neue aggressive Linie fällt zusammen mit der gerade ein Jahr alten Regentschaft von König Salman und seines unerfahrenen Sohnes und stellvertretenden Kronprinzen, der die Rollen des Verteidigungs- und des Wirtschaftsministers ausfüllt: Im vergangenen Jahr wurden in Saudi-Arabien mindestens 157 Personen hingerichtet, meist mit dem Schwert und öffentlich, soviel wie noch nie seit 20 Jahren. Kein Zufall: Regime und wahabitisches Establishment in Riad reagieren auf die Herausforderung durch die Dschihadisten des Islamischen Staats. Tausende saudische Dschihadisten haben sich dem Islamischen Staat (IS) in Syrien und Irak angeschlossen. Alle höchste Scharia-Richter des IS kommen aus Saudi-Arabien.

Die vielen Hinrichtungen sind vielleicht ein Versuch, konservativen Saudis zu beweisen, dass das Königreich ein echterer ‚islamischer Staat’ ist als jeder andere.

The Economist

Die Ideologie des Islamischen Staats unterscheidet sich „in vieler Hinsicht nicht vom saudischen Wahabismus“, schreibt die Neue Zürcher Zeitung. Die vielen Hinrichtungen seien „vielleicht ein Versuch, konservativen Saudis zu beweisen, dass das Königreich ein echterer „islamischer Staat“ ist als jeder andere“, beobachtete die Londoner Wochenzeitung The Economist schon vor über einem Jahr. Mit der Hinrichtung al-Nimrs wollten die Saudis nun demonstrieren, dass sie den Kampf gegen die Schiiten mindestens so ernst nehmen wie der Islamische Staat und sogar in die Offensive gehen, gibt die Washington Post einen Mittelost-Experten wieder.

Angst vor dem Arabischen Frühling und vor dem Iran

Zugleich muss Riad die Anzeichen wachsender Unruhe im Lande ernst nehmen: Ausgerechnet in jener mehrheitlich schiitischen Ostprovinz lagern Saudi-Arabiens größte Ölvorkommen. Aber auch unter den Sunniten im Lande wächst Kritik: Weil Riad selbst den Ölpreis hat in den Keller fallen lassen, muss es nun Subventionen streichen, Benzin- und Energiepreise erhöhen, den großzügigen Sozialstaat umbauen und das Öl-Königtum aus der Abhängigkeit vom Öl lösen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt, über 4,5 Millionen junge Saudis drängen in den nächsten Jahren in den Arbeitsmarkt – für den ihnen im Grunde Ausbildung und Fähigkeiten fehlen, berichtet die Londoner Tageszeitung Financial Times. Sehr ähnlicher Problem-Cocktail hat anderswo in der Region zu den Aufständen des sogenannten Arabischen Frühlings geführt.

Gut möglich, dass in Riad manche glauben, sie müssten gegen den Iran mobilisieren, solange sie das noch können – und genau darum jetzt den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten verschärfen, zuhause und in der ganzen Region.

Damit nicht genug: Ausgerechnet in einer Zeit, zu der auch die verwöhnten Saudis die Gürtel enger schnallen müssen, ist das Land in Jemen und Syrien in teure Kriege verwickelt – und in wachsende Konfrontation mit dem großen regionalen wie konfessionellen Konkurrenten – dem aufstrebenden Iran. Wenn demnächst die internationalen Wirtschaftssanktionen gegen Teheran fallen, werden die Mullahs bald über etwa 100 Milliarden Dollar bis jetzt blockierter Gelder verfügen – und können dann rüsten für Konflikt in Syrien, Irak und Jemen. Zugleich will der Iran mit Macht auf den Ölmarkt zurückkehren und noch mehr Geld verdienen – was ein Grund dafür ist, dass Riad den Ölpreis schon jetzt so niedrig hält. Dazu kommt, dass Riad zwischen Washington und Teheran wachsende Entspannung beobachtet und fürchtet. Sichtbar ist jedenfalls, dass Riad sich um Washingtoner Reaktionen auf seine Politik in der Region kaum noch schert. Gut möglich, dass in Riad manche glauben, sie müssten gegen den Iran mobilisieren, solange sie das noch können – und genau dazu jetzt den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten verschärfen, zuhause und in der ganzen Region. Für die Bürgerkriege in Syrien und Irak verheißt das nichts Gutes.