Gewalt und Wut in Kiew
Wilder Protest gegen geplante Zugeständnisse an die Separatisten und gegen das Minsker Waffenstillstandsabkommen haben die Gewalt nach Kiew zurück gebracht. Die Koalitionsregierung von Premier Jasenjuk steht auf der Kippe. Die Separatisten bereiten eigene Wahlen vor – was das Ende des Minsker Waffenstillstands wäre. Spekulationen über einen neuen Gipfel im „Normandie-Format“.
Ukraine

Gewalt und Wut in Kiew

Wilder Protest gegen geplante Zugeständnisse an die Separatisten und gegen das Minsker Waffenstillstandsabkommen haben die Gewalt nach Kiew zurück gebracht. Die Koalitionsregierung von Premier Jasenjuk steht auf der Kippe. Die Separatisten bereiten eigene Wahlen vor – was das Ende des Minsker Waffenstillstands wäre. Spekulationen über einen neuen Gipfel im „Normandie-Format“.

Kein Artilleriefeuer am ersten Schultag. An der Front in der Ostukraine schweigen die Waffen – vorläufig. Bei einem Telefongespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Franςois Hollande stimmte Russlands Präsident Wladimir Putin einem „vollen Waffenstillstand“ ab dem 1. September zu, berichtet der US-Pressedienst Bloomberg. Der Beginn des neuen Schuljahres in der Ukraine sollte auch in der ostukrainischen Donbass-Region gewaltfrei sein. Offenbar halten sich beide Seiten ziemlich vollständig an die vereinbarte Feuerpause. „Schon den fünften Tag wird an der Front nicht aus Artillerie und Mörsern geschossen, den fünften Tag sterben keine ukrainischen Soldaten mehr“, so der ukrainische Staatspräsident Petro Poroschenko am Dienstag.

Dafür ist am Tag davor in der Hauptstadt selber, in Kiew, schwere Gewalt ausgebrochen und Blut geflossen. Mehrere Tausend radikale Nationalisten  protestierten vor dem Parlament gegen eine Verfassungsänderung zur Dezentralisierung des Landes, die gerade verhandelt wurde. Die Situation eskalierte. Eine Handgranate flog gegen die massive Polizeipräsenz. Drei Polizisten kamen ums Leben, weit über hundert wurden verletzt, zum Teil schwer.

Bitterer Streit um Sonderrechte für die Separatisten-Gebiete

Schlimm genug. Aber der Streit um den Dezentralisierungsartikel spaltet jetzt Land, Parlament und Regierungskoalition. Vier Monate bevor die Umsetzung der Bedingungen des Minsker Waffenstillstands von Anfang Februar abgeschlossen sein soll, driftet das Land auf eine Regierungskrise zu. Rufe nach Neuwahlen werden laut. Der Minsker Prozess ist in Gefahr.

Mit der geplanten Verfassungsänderung will Poroschenko eine Vorleistung erbringen, zu der ihn seine europäischen Partner und Washington drängen. Alle ukrainischen Regionalverwaltungen sollen mehr Autonomierechte erhalten – und ein eigenes Gesetz soll den Separatistengebieten Donezk und Luhansk Sonderrechte zugestehen.

Die Separatisten bekommen ihre eigene Polizei, ihre eigenen Gerichtshöfe, Staatsanwälte, Steuern, und das Recht auf Sonderbeziehungen mit den benachbarten Russen. Was denn noch? Kriegen sie morgen das Recht, eigene Botschaften zu eröffnen?“

Juri Schukhewitsch, Abgeordneter der Radikalen Partei

Gegen die Verfassungsänderung und vor allem gegen das geplante Gesetz, das dann mit einfacher Mehrheit beschlossen werden könnte, laufen die ukrainischen Nationalisten Sturm. Nicht nur vor den Toren des Parlaments, sondern auch dahinter. Bei der Debatte ging es hoch her in der Rada. Gegen den „Verrat an ukrainischen nationalen Interessen“ und den Ausverkauf von Souveränitätsrechten an die Separatisten an die Separatisten, protestierte erbittert ein Abgeordnete der populistischen Radikalen Partei: „Die bekommen ihre eigene Polizei, ihre eigenen Gerichtshöfe, Staatsanwälte, Steuern, und das Recht auf Sonderbeziehungen mit den benachbarten Russen. Was denn noch? Kriegen sie morgen das Recht, eigene Botschaften zu eröffnen?“

 Poroschenko: Unsere Souveränität zurückgewinnen

Da ist was dran. Zum einen haben die Separatisten ihrerseits noch praktisch nichts getan, um das Minsker Waffenstillstandsabkommen mit Leben zu füllen. Zum anderen gibt es jenes Gesetz über die Sonderrechte seit 2014 schon. Allerdings wurde es im vergangenen März wieder suspendiert, eben weil die Separatisten die Minsker Bedingungen ignorierten. Aber die Kritiker in Kiew gehen davon aus, dass es nun wieder aktiv werden soll. Das könnte so kommen.

Die neuen Verfassungsbestimmungen geben uns die Chance, die Souveränität der Ukraine über ihre de facto besetzten Gebiete wiederherzustellen.

Präsident Petro Poroschenko

Präsident Poroschenko sieht es sehr anders, berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Er betrachte die Verfassungsänderung und jenes Gesetz als „Faustpfand“, so das Blatt, mit dem er den Minsker Prozess voranbringen wolle. Denn das Gesetz und die Sonderbestimmungen für den Donbass sollen erst in Kraft treten, wenn alle Bedingungen des Minsker Waffenstillstands erfüllt sind: Abzug des russischen Militärs, freie Wahlen gemäß Kiewer Recht. Die neuen Verfassungsbestimmungen gäben Kiew so die Chance, „die Souveränität der Ukraine über ihre de facto besetzten Gebiete wiederherzustellen“, zitiert das Frankfurter Blatt den Präsidenten.

Janzenjuks Koalition vor der Explosion

Trotzdem brachte Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk die Verfassungsänderung in erster Lesung nur mit großer Mühe und 265 von 450 Stimmen durch, verfehlte aber die notwendige Zweidrittelmehrheit. Die Abgeordneten der Radikalen Partei und zwei weitere Partner der Fünf-Parteien-Koalition stimmten dagegen. Jazenjuk war auf Unterstützung aus der Opposition und von Anhängern des verjagten pro-russischen EX-Präsidenten Viktor Janukowitsch angewiesen – was ihm erst recht die Kritik des nationalen und pro-westlichen Lagers einträgt.

Die 21 Abgeordneten der rechtspopulistische Radikale Partei haben die Koalition inzwischen verlassen. Jazenjuks Regierung verfügt damit noch über 274 Mandate. Aber verlassen kann er sich auf sie nicht. Und von der verfassungsändernden Mehrheit von 300 Mandaten ist seine gespaltene Koalitionsregierung weit entfernt. Die Koalition des Präsidenten stehe vor der Explosion, schreibt die französische Tageszeitung Le Monde.

Protest gegen das Minsker Abkommen

Hinter der Wut im Parlament steht ein größerer Protest im Lande – im Grunde gegen das ganze Minsker Abkommen. Was man verstehen kann. Denn, beobachtet etwa die Neue Zürcher Zeitung, „die von Russland unterstützten Separatisten haben sich weder an den ersten Waffenstillstand vom vergangenen September noch an jenen vom Februar gehalten, in dem sie Proroschenko weitere Zugeständnisse abrangen.“ Auch nach über einem Jahr Krieg sind viele Ukrainer nicht bereit, die Kämpfe zu beenden und sich auf Bedingungen einzulassen, „die für Russland akzeptabel wären“, schreibt aus der New Yorker Entfernung der US-Pressedienst Bloomberg.

Die von Russland unterstützten Separatisten haben sich weder an den ersten Waffenstillstand vom vergangenen September noch an jenen vom Februar gehalten, in dem sie Proroschenko weitere Zugeständnisse abrangen.

Neue Zürcher Zeitung

Dementsprechend scharf bläst der Stimmungswind Premier Jazenjuk ins Gesicht – knapp zwei Monate vor Regionalwahlen Ende Oktober. Aktuellen Umfrage zufolge würde seine Partei, die bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr noch Spitzenreiter war, heute an der Fünfprozent-Hürde scheitern. Nur drei Prozent der Wähler sind zufrieden mit dem Fortgang der Reformen im Land, beobachtet die britische Wochenzeitung The Economist. Die Stimmung ist angespannt. Beobachter fürchten weitere Ausschreitungen. Waffen gibt es im Lande reichlich. Immerhin, Präsident Poroschenko kann seine Popularität halbwegs halten.

Vor einem neuen Ukraine-Gipfel im Normandie-Format?

Unwahrscheinlich, dass Jazenjuk und Präsident Poroschenko unter diesen Bedingungen bis Ende des Jahres ihre Verfassungsänderung hinbekommen. Womöglich können sie dann aber trotzdem die Schuld am Scheitern Moskau und den prorussischen Separatisten zuschieben. Denn denen gehen Poroschenkos Vorschläge und Angebote nicht weit genug. Presseberichten zufolge organisieren die Separatisten schon eigene Wahlen für Oktober. Poroschenkos und Jazenjuks Verfassungsänderung und das umkämpfte Gesetz würden überflüssig. Der Minsker Waffenstillstand wäre dann allerdings auch am Ende. Interessant: Die Separatisten in Luhansk sollen schon den Rubel als offizielles Zahlungsmittel eingeführt haben. Die Separatistenführer im Donbass, schließen Beobachter aus alledem, wollen ihre Position nicht aufgeben, wollen um keinen Preis einlenken.

Man muss dann natürlich die Hoffnung haben, dass es auch einen Schritt voran geht.

Bundeskanzlerin Angela Merkel

Viel Gesprächsstoff für einen neuen Gipfel im sogenannten Normandie-Format – Russland, UIkraine, Deutschland und Frankreich – auf den Poroschenko offenbar drängt. Er könnte am 28. September am Rande einer UN-Vollversammlung in New York stattfinden. Bundeskanzlerin Angela Merkel wäre dazu bereit, mit einer Einschränkung: „Man muss dann natürlich die Hoffnung haben, dass es auch einen Schritt voran geht.“ Einfach wird das nicht werden.