Russland geht auf Konfrontation zum Westen. Bild: Fotolia/Aquir
Russland

Moskaus grenzenlose Willkürjustiz

Neue Stufe der Politik der Einschüchterung: Russland unterwirft Staatsbürger der Nachbarländer der russischen Justiz und verurteilt sie in Schauprozessen zu hohen Haftstrafen: 15 Jahre verschärfte Lagerhaft für einen verschleppten estnischen Staatsschützer, 20 Jahre für den ukrainischen Film-Regisseur Oleg Senzow. Die Botschaft an die Nachbarn: Keine Landesgrenze kann sie schützen.

Russlands Nachbarländer können ihre Bürger nicht vor dem Zugriff Moskaus schützen, nicht einmal, wenn sie Nato-Mitglieder sind. Das ist die bewusste, sehr offene Botschaft, die Moskau derzeit aussendet mit Willkürjustiz und drastischen Schreckensurteilen gegen mehrere ukrainische und einen estnischen Bürger.

Grenzprovokation zwei Tage nach dem Besuch von US-Präsident Barack Obama in Estland

Der Fall des estnischen Staatsschutzpolizisten Eston Khover ist besonders spektakulär. Am 5. September vergangenen Jahres wurde er nahe der estnisch-russischen Grenze von einer russischen Kommando-Einheit unter Einsatz von Nebel- und Schreckgranaten sowie von Störsendern überwältigt und nach Russland verschleppt. Eine estnische Polizeieinheit, die sich mehrere hundert Meter hinter ihm bereit hielt, konnte nicht mehr eingreifen.

Der Termin der Aktion, mitten in der Ukraine-Krise,  war höchst symbolisch: Zwei Tage zuvor hatte US-Präsident Barack Obama Estlands Hauptstadt Tallinn besucht, um den ob ihres aggressiven russischen Nachbarn geängstigten Esten Sicherheit und den Schutz der Nato zu versprechen. Fünf Mal fiel in seiner Rede das Wort „verteidigen“. Am Tag der russischen Aktion im menschenleeren bewaldeten Grenzgebiet zwischen Estland und Russland beriet in Wales der Nato-Gipfel darüber, wie das Bündnis den baltischen Republiken und anderen neuen osteuropäischen Nato-Partnern besseren Schutz garantieren könnte. Dieser Tage ist der estnische Geheimdienstmann Kohver im russischen Pskow, 20 Kilometer von der Grenze zu Estland entfernt, wegen Spionage, Waffenbesitzes und illegalen Grenzübertritts zu 15 Jahren verschärfter Lagerhaft verurteilt worden.

Nach Russland verschleppt

Nach estnischer Darstellung sind die Fakten klar. Khover war mit einer russischen Kontakperson verabredet, um etwas über einen russischen Schmuggelring in Erfahrung zu bringen – und an russischen Schmuggelringen ist üblicherweise der russische Geheimdienst FSB beteiligt. Aber der estnische Geheimdienstler habe sich auf estnischem Gebiet aufgehalten, 30 Meter vor der Grenze, und sei von den Russen regelrecht gekidnappt worden, so die Esten. Kurz nach dem Geschehen haben estnische und russische Grenzer in einem gemeinsamen Protokoll offenbar bestätigt, dass sich ein Zwischenfall auf der estnischen Seite der Grenze abgespielt habe – was die Russen später wieder zurücknahmen und bestritten. Und für Spionage war die Polizeieinheit Khovers gar nicht zuständig, der Vorwurf ist also konstruiert.

Herr Kohvers Entführung und seine folgende illegale Haft in Russland stellt einen klaren Bruch des Völkerrechts da.

EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini

Nach russischer Darstellung ist Khover auf der russischen Seite der Grenze ergriffen worden. Aber dann hätte es keine Nebelgranaten gebraucht und keine Störung des estnischen Funkverkehrs. Wenig plausibel ist, dass Khover sich von einer estnischen Polizeieinheit schützen ließ – und sich dann auf die russische Seite der Grenze begab. So sieht man das offenbar auch in Brüssel: „Herr Kohvers Entführung und seine folgende illegale Haft in Russland stellt einen klaren Bruch des Völkerrechts dar“, erklärte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini am Tag der Verurteilung des Esten. Gewiss ist jedenfalls, dass Eston Kohver eine Falle gestellt wurde, um ihn zu ergreifen, überlegt jetzt die Pariser Tageszeitung Le Monde in einem ganzseitigen Artikel zu dem Fall.

Moskau zuckt sozusagen die Schultern, und das ist Absicht.

Normalerweise lässt Moskau nichts aus, um Erfolge seiner Geheimdienste zu feiern. Nicht so in diesem Fall, notiert wieder Le Monde. Dem Vorwurf der Verschleppung tritt die russische Seite auch nicht besonders ernsthaft entgegen. Moskau zuckt sozusagen die Schultern, und das ist Absicht. Denn es geht um Einschüchterung. In den baltischen Republiken und anderswo soll jeder sehen, dass Russland sich um die Souveränität der Nachbarn nicht schert und um deren Grenzen auch nicht.

Niemand kann Euch schützen. Wir kriegen jeden, egal wo, und wir schrecken vor nichts zurück.

Moskaus Vorgehen und Verhalten im Fall Kohver erinnert an die grässliche Geschichte des EX-KGB-Agenten Alexander Litwinenko. 2006 wurde Litwinenko ganz offensichtlich auf Moskauer Geheiß möglichst spektakulär ermordet – mitten in London und mit dem leicht nachverfolgbaren radioaktiven Gift Polonium. Jeder sollte es sehen, und jeder sollte die Moskauer Botschaft verstehen: „Niemand kann Euch schützen. Wir kriegen jeden, egal wo, und wir schrecken vor nichts zurück.“

Moskau prüft, ob die Unabhängigkeit der Balten-Republiken legal ist

Zu solcher Politik der Einschüchterung gegenüber den Balten-Republiken passt, dass genau jetzt der russische Generalstaatsanwalt prüft, ob die Anerkennung der Unabhängigkeit Lettlands, Litauens und Estlands durch den sowjetischen Staatsrat 1991 überhaupt rechtmäßig gewesen sei. Denn, so die Argumentation der Putin-Partei Einiges Russland, der Staatsrat sei 1991 unter Verfassungsbruch formiert worden und seine Entscheidungen könnten darum nicht legal gewesen sein. Wahrscheinlich wird der Generalstaatsanwalt sich dieser Sicht anschließen, so wie Moskau 2014 auch die Unterstellung der Krim unter ukrainische Verwaltung durch Nikita Chruschtschow 1954 für unrechtmäßig erklärte. Die baltischen Republiken, ihre Trennung von der Sowjetunion und ihre Unabhängigkeit wären dann aus heutiger Moskauer Sicht illegal. Dass die Sowjetunion seit 1991 nicht mehr existiert, spielt im derzeitigen Moskauer Denken offenbar keine Rolle. Auch das wird den Balten – und anderen ex-sowjetischen Russland-Nachbarn – bedrohlich vorkommen.

Exempel am ukrainischen Filmregisseur Oleg Senzow

Wie mit den Balten springt Russlands Willkürjustiz erst recht mit ukrainischen Staatsbürgern um. Erst dieser Tage wurde im südrussischen Rostow am Don der ukrainische, von der Halbinsel Krim stammende Filmregisseur Oleg Senzow zu 20 Jahren Haft verurteilt. Ein ukrainischer Aktivist, ebenfalls von der Krim stammend, erhielt zehn Jahre Haft. Senzow ist Ukrainer und hat sich geweigert, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Trotzdem wird er vor Gericht als Russe behandelt, weil er nach der Annexion der Krim vor einem Jahr die russische Staatsbürgerschaft nicht explizit ausgeschlagen hat. Er konnte darum in Haft und vor Gericht keinen konsularischen Beistand erhalten – was allerdings auch dem Esten Kohver verwehrt blieb.

Nach der Urteilsverkündung stimmten Semzow und ein Mitangeklagter vor den Richtern die ukrainische Nationalhymne an.

Weil Semzov auf dem Kiewer Maidan aktiv war, hat der Staatsanwalt in Rostow ihm Planung und Durchführung von Terroranschlägen für den ukrainischen sogenannten Rechten Sektor vorgeworfen. Einziger Beweis: Das inzwischen widerrufene Geständnis eines dritten Leidensgenossen. Es ging darum, an Gegnern des Machtwechsels auf der Krim und der Annexion der Halbinsel ein Exempel zu statuieren, kommentiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Semzow hat sich trotzdem vor Gericht tapfer geschlagen, ein mutiges Plädoyer für die Freiheit gehalten und das Gericht als „Gericht der Besatzer” bezeichnet, das keine gerechte Entscheidung fällen könnte. Nach der Urteilsverkündung haben er und ein Mitangeklagter vor den Richtern die ukrainische Nationalhymne angestimmt.

Auch nach Russland entführt: Hubschrauber-Pilotin Nadija Sawtschenko

Ein anderes ukrainisches Opfer russischer Justiz ist die Hubschrauber-Pilotin Nadija Sawtschenko. Im Juni 2014 wurde sie auf ostukrainischem Gebiet gefangenen gernommen und dann nach Russland verschleppt. Dort wird ihr jetzt Beihilfe zum Mord an zwei russischen Journalisten vorgeworfen. Die 34-jährige Sawtschenko ist inzwischen ins Kiewer Parlament gewählt worden und Delegierte des Europarats – was in Moskau niemanden beeindruckt. Halbwegs glimpflich erging es dem ukrainischen Studenten Juri Jatsenko, der leichtsinnigerweise im Mai 2014 in Moskau günstig Elektronik-Produkte kaufen wollte. Er wurde verhaftet und sollte im Fernsehen zugeben, dass er ein Saboteur des Rechten Sektors sei. Nach Gefängnisaufenthalt und Folter kam er nach einem Jahr immerhin wieder nach Hause. Ukrainischen Angaben zufolge befinden sich derzeit elf Ukrainer in russischer Haft.

Russlands Willkür-Justiz greift nach den Bürgern der Nachbarländer

Russlands Willkür-Justiz überschreitet die Grenzen des Landes, warnt die Londoner Wochenzeitung The Economist. Dass Moskau mit frei erfundenen Vorwürfen Ukrainer – und einen Esten – verfolge, zeige, dass jetzt auch die Bürger der Nachbarländer in Gefahr seien. „Für den Kreml sind Gerichte Instrumente der politischen Fiktion, nicht der Justiz“, so das britische Wochenblatt. „Und jetzt greift Russlands Missbrauch des Gesetzes im Dienste der Propaganda weit über die Grenzen des Landes hinaus.“

In dem es die Staatsangehörigen der Nachbarländer russischer Gerichtsbarkeit unterwirft, stellt sich Moskau wieder einmal außerhalb des internationalen Rechts.

Le Monde

Die Prozesse gegen Sentsow und Kohver seien Reste einer „düsteren Periode der russischen Geschichte und eines Staates nicht würdig, der sich modern und demokratisch geben möchte“, meint auch die eher links angesiedelte französische Tageszeitung Le Monde. Über die Unabhängigkeit der russischen Justiz unter dem derzeitigen Regime dürfe sich niemand Illusionen machen: „Die Justiz folgt Anweisungen, und die jüngsten Schreckensurteile bestätigen die Tendenz verstärkter Unterdrückung, die seit der Wiederwahl von Wladimir Putin an die Spitze des Staates im Jahr 2012 festzustellen ist.“ Jetzt überschreite Russlands Justiz eine neue Schwelle und beschränke sich nicht mehr nur auf die Verfolgung der russischen Opposition: „In dem es die Staatsangehörigen der Nachbarländer russischer Gerichtsbarkeit unterwirft, stellt sich Moskau wieder einmal außerhalb des internationalen Rechts.“